Alle Jahre wieder ...
© Hannelore Sagorski
Der Heilige Abend war für mich der wichtigste und schönste Tag im Jahr. Dieser Tag wurde bei uns immer ruhig und besinnlich gefeiert. Kein Stress mit Geschenken, es gab nur ein Geschenk pro Kind, aber alle Familienangehörigen waren an diesem Abend versammelt, vom Kleinkind bis zu den Großeltern. Am liebsten habe ich immer meinen Großeltern zugehört, wenn sie von ihren Weihnachtserinnerungen erzählt haben. Wie sie sich gefreut haben, über eine Strohpuppe oder ein kleines Holzpferd. Das Leuchten in ihren Augen
lässt nur erahnen wie groß die Freude war. Früher habe ich mich in der Schule immer geschämt wenn meine Mitschüler ihre ganzen Geschenke aufgezählt haben, habe dann ein paar dazu erfunden, versehen immer mit einem schlechten Gewissen. Irgendwann habe ich mal erzählt, wie Weihnachten wirklich bei uns gefeiert wird. Es war ganz merkwürdig, alle Kinder hörten mir ganz still zu, und dann sagte ausgerechnet der Junge, der immer die größten Geschenkeberge vorweisen konnte, ganz leise und traurig: "So ein Fest
möchte ich auch mal feiern. Bei uns gibt es immer Stress. Der Abend endet fast immer mit Streit und Tränen." Ab diesem Tag konnte ich unser Fest noch mehr genießen.
Dann, ich war gerade siebzehn Jahre alt, stand ein Jahr vor dem Abitur, und war zum ersten Mal richtig verliebt. Marcus war allerdings zwanzig Jahre älter und versprach mir das Blaue vom Himmel, unter anderem eine Model-Karriere. Welches Mädchen träumt nicht davon, reich und berühmt zu werden, und so verließ ich trotz aller Warnungen meiner Eltern im Streit unser Haus. Wir gingen nach München, Marcus schaffte Aufträge ran, und ich stand fast täglich zehn bis zwölf Stunden vor der Kamera. Ständig musste ich mich
umziehen und stundenlang in die Kamera grinsen. Am meisten aber störte mich, dass Marcus von meinem Geld lebte. Von meinem Honorar sah ich nicht einen Cent, Marcus gab alles mit vollen Händen aus und vergnügte sich während ich arbeitete, noch mit anderen Mädchen. Von Liebe war keine Rede mehr, geliebt hatte ich ihn wohl nie, war wohl nur besessen, Karriere zu machen, und war geblendet von seiner Erscheinung und seinem Auftreten. Nachdem ich ihn besser kannte, war er einfach nur noch ein armseliger kleiner Wicht.
Ich hätte meine Koffer packen können, um nach Hause zu fahren, aber nach dem Abgang im Streit, einfach unmöglich. Ich wollte erst wieder nach Hause fahren, wenn ich im Leben etwas erreicht habe.
So kam der erste Heilige Abend ohne meine Familie.