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Wundersame Weihnachten

© Sara Puorger


Lisa schaute zum Fenster hinaus. Dicke Schneeflocken wurden vom Wind umhergewirbelt. Einige fielen auf das Fenstersims und blieben liegen. Andere wurden vom Wind wieder hochgewirbelt und fielen weitere vier Stockwerke hinunter und landeten sanft auf dem Schneeteppich, der in den letzten zwei Stunden alles unter seinem reinen Weiß begraben hatte. Es war Heiligabend, und wie viele andere an diesem Tag, fühlte sich auch Lisa einsam. Früher hatte sie diesen Tag geliebt und sich schon lange im Voraus darauf gefreut.
Doch seit ihr Mann vor vier Jahren gestorben war, hasste sie Weihnachten, genauso wie Neujahr, Ostern und ihren Geburtstag. Gut, ihren Geburtstag hatte sie schon zu hassen begonnen, als sie die 50 überschritten hatte.
Mittlerweile war sie 62, Witwe, ohne Kinder, ohne Enkel. Einfach allein.
Grabers, ihre Nachbarn und gute Freunde, hatten sie eingeladen mit ihnen Weihnachten zu feiern. Aber ihr war nicht nach Feiern zumute. Wie schon in den letzten drei Jahren wolle sie alleine sein, ohne Weihnachtsbaum voller leuchtender Kerzen, ohne Lieder und Geschichte, ohne gutes Essen und Kekse.
Aber was das Wichtigste war, sie wollte diesen Abend ohne Gelächter und freudige Gesichter hinter sich bringen und früh zu Bett gehen.
Schlecht gelaunt riss sie sich vom Fenster los und schlurfte in die Küche. Als sie das Licht anknipste, konnte sie gerade noch den Schwanz der Ratte, Maus oder was es auch immer gewesen sein mochte, erkennen, die sie sich unter dem altmodischen Kühlschrank in Sicherheit brachte.
"Verfluchte Biester! Könnt ihr euch nicht woanders einnisten? Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte."
Lisa nahm eine Dose Ravioli aus dem Schrank, stürzte den Inhalt in einen Topf und schaltete den Kochherd ein. Sie nahm Teller, Gabel und ein Glas und platzierte alles auf dem kleinen Küchentisch, der die noch kleinere Küche - so erschien es ihr wenigstens - fast vollends ausfüllte. Zuletzt holte sie eine offene Tüte Reibkäse aus dem Kühlschrank. In diesem Moment passierte es.
Kawumm!
Ein lauter Knall betäubte Lisas Ohren und kurz darauf stand sie im Dunkeln. Vor lauter Schreck musste sie sich zuerst einmal hinsetzen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Hände zitterten. Einen Augenblick lang saß sie nur da und starrte in die Dunkelheit. Plötzlich durchzuckte sie ein schrecklicher Gedanke:
"Bin ich gestorben? Eine Explosion! Aber wenn ich tot bin, wo bin ich dann? Ist es so dunkel im Himmel? Oder bin ich in der Hölle gelandet?"
Während sie so grübelte, gewöhnten sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit und durch den Schein der Straßenlaterne draußen erkannte sie, dass sie noch immer in ihrer Küche saß. Mit vom Schreck noch immer wackligen Knien erhob sie sich und kramte in einer Schublade eine Schachtel Streichhölzer hervor. Sie zündete die Kerze an, die auf dem Küchentisch stand. Durch den Schein der Kerze erkannte sie, dass der Herd die Ursache des Knalls gewesen sein musste. Wahrscheinlich hatte es einen Kurzschluss gegeben und dadurch hatte es die Sicherung rausgehauen. Lisa fragte sich, ob nur sie im Dunkeln saß oder ob es die übrigen Mitbewohner im Block auch getroffen hatte.
Mit der Kerze in der Hand schlurfte sie ins Wohnzimmer, tastete sich zum Telefon und wählte die Nummer des Hausmeisters. Sie ließ es siebenmal klingeln, doch nichts rührte sich. Da fiel ihr ein, dass er ihr gestern erst gesagt hatte, dass er einige Tage zu seiner Tochter nach Österreich gehen wollte.
Also kramte sie das Telefonbuch hervor, suchte die Nummer heraus und wählte die Nummer des technischen Notfalldienstes. Eine freundliche Frauenstimme meldete sich:
"Guten Abend, was kann ich für Sie tun?"
"Guten Abend. Mein Name ist Lisa Kirchmeyer. Ich wohne an der Linzerstrasse und habe ein Problem."
"Was für ein Problem haben Sie denn, Frau Kirchmeyer?"
"Ich wollte mir etwas kochen und da hat es einen Riesenknall gegeben. Jetzt sitze ich im Dunkeln und der Hausmeister ist verreist. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll."
"Ich bin sicher, dass wir Ihnen da helfen können. Nennen Sie mir nur noch die Nummer in der Sie wohnen und ich schicke Ihnen jemand vorbei, der sich dem Ganzen annimmt."
"Da bin ich aber beruhigt. Es ist die Nummer 43, 5.Stock."
"Gut. Sie müssen sich aber noch etwas gedulden. Unser Mann musste sich noch einem anderen Problem widmen. Es wird also etwa nach 22.00 Uhr bis er bei Ihnen eintrifft. Ich hoffe, dass das für Sie in Ordnung ist."
"Nach 22.00 Uhr erst?! Nein, das ist nicht sehr günstig. Es geht mir nicht besonders gut und ich wollte früh zu Bett gehen. Haben Sie denn niemand anderes, der kommen könnte?"
"Nein, tut mit Leid, Frau Kirchmeyer. Es ist Heiligabend und ich habe niemand anderes zur Verfügung, den ich Ihnen vorbeischicken könnte."
Lisa seufzte. "Na dann schicken Sie mir erst morgen früh jemanden."
"Wie Sie wünschen. Wäre um acht Uhr in Ordnung oder ist das zu früh für Sie?"
"Acht Uhr ist sehr gut. Danke."
"Gut. Dann wünsche ich Ihnen trotz allem eine gesegnete Weihnacht. Wiederhören Frau Kirchmeyer."
Lisa hängte den Hörer auf. Dieser ganze Vorfall hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, dass sich ihre schlechte Laune gebessert hätte. Mit der Kerze in der Hand ging sie wieder zurück in die Küche. Es würde also keine Ravioli zu Weihnachten geben. Sie ließ den Topf auf dem Herd stehen und holte sich ein Joghurt aus dem Kühlschrank. Na a, jetzt hatte sie wenigstens einen guten Grund an Weihnachten früh ins Bett zu gehen. Lustlos löffelte sie ihr Joghurt und warf den leeren Becher dann in den Abfalleimer, als es klingelte. Erstaunt horchte sie auf. Es war kurz nach neun, wer konnte denn um diese Zeit noch etwas von ihr wollen? Immer noch mit der Kerze in der Hand ging sie in den Flur und betätigte die Gegensprechanlage:
"Wer ist da?"
"Ich komme vom technischen Notruf. Sie haben angerufen?"
"Ich ... ja aber ich dachte Sie kommen erst morgen?"
"Nun manchmal sind wir schneller als wir denken."
Die Stimme klang freundlich und aufgestellt und Lisa spürte wie sich ihre schlechte Laune merklich verbesserte.
"Na gut, dann kommen Sie mal hoch und schauen sich den Schaden an."
Sie drückte den Türöffner und kurz darauf stand ein junger, etwa 30-jähriger Mann in blauem Overall vor ihr. Seine grünen Augen strahlten, als er ihr die Hand gab und ihr mit einem verschmitzten Lächeln frohe Weihnachten wünschte. Irgendwie glich er ihrem Mann, als er noch jung gewesen war. Schnell wischte sie diesen Gedanken wieder fort. Sie bat ihn in ihre Wohnung und erst jetzt fiel ihr auf, dass im Treppenhaus Flutlicht herrschte. Aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie wollte dem jungen Herrn ihre Kerze überreichen, aber dieser winkte ab. Aus seiner dicken Umhängetasche voller Werkzeug holte er eine riesige Taschenlampe hervor.
"Wir sind ausgerüstet für solche Fälle."
Wieder lächelte er sie an und zum ersten Mal an diesem Tag lächelte auch Lisa. Irgendwie hatte dieser junge Mann genau das geschafft, was seit nun schon vier Jahren keiner mehr fertig gebracht hatte: ein Lächeln auf Lisas Lippen und das an Heiligabend.
Während der junge Mann im Schein der Taschenlampe an ihrem Herd herumhantierte, räumte Lisa das ungebrauchte Geschirr weg und stellte den Topf mit den Ravioli in den Kühlschrank. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und schaute dem jungen Mann fasziniert zu. Etwas eine Viertelstunde später räumte er seine Werkzeuge wieder weg, trat zur Küchentür und knipste die Taschenlampe aus. Wieder war es dunkel in der Küche, da Lisa die Kerze ausgeblasen hatte. Aus der Dunkelheit ertönte die Stimme des Handwerkers.
"Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob wieder alles funktioniert."
Eine wohlige Wärme durchzog Lisa. Für einen Augenblick hörte sich die Stimme des jungen Mannes wie die Stimme ihres Mannes an. Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, drückte er auf den Lichtschalter und gleißendes Licht erfüllte die Küche. Lisa strahlte übers ganze Gesicht.
"Gut haben Sie das gemacht. Jetzt haben Sie sich einen Tee verdient."
Sie setzte Wasser auf und aus dem Schrank holte sie eine Dose selbstgebackene Weihnachtskekse. Als das Wasser kochte, goss sie dem jungen Mann und sich selbst eine Tasse ein und setzte sich zu ihm an den Küchentisch.
"Jetzt sagen Sie mir aber, wie heißen Sie eigentlich?"
"Michael. Aber meine Kollegen nennen mich alle Mike."
"Das freut mich Michael. Oder darf ich Sie auch Mike nennen? Ich heiße übrigens Lisa."
Lisa wusste nicht warum, aber irgendwie mochte sie diesen jungen Mann.
Er strahlte so viel Wärme aus, dass es sich auf sie übertragen hatte. Das Gefühl der Einsamkeit hatte sich vollends verflüchtigt.
"Sagen Sie Mike, wie machen Sie das, dass sie so gut gelaunt sind, obwohl Sie an Weihnachten arbeiten müssen?"
Mike schaute sie beinahe liebevoll an. "Ich arbeite immer an Weihnachten. Und ich mache es gerne. Schließlich ist es meine Aufgabe Menschen zu helfen." Nach einer Weile fuhr er fort. "Ich habe aber auch eine Frage an Sie."
"Nur zu, fragen Sie."
"Warum haben Sie begonnen Weihnachten zu hassen?"
Lisa schaute ihn erstaunt an.
"Wie kommen Sie denn auf den Gedanken? Es ist nicht so, dass ich Weihnachten hasse, es ist nur ... seit mein Mann gestorben ist, fühle ich mich an Weihnachten immer so einsam."
Einen Moment lang herrschte Stille, dann sagte Mike mit leiser Stimme: "Vielleicht können Sie ihn nicht sehen, aber ich bin sicher, dass ihr Mann immer bei Ihnen ist. Besonders heute an Weihnachten. Glauben Sie nicht, dass er es lieber sehen würde, wie Sie diesen besonderen Tag fröhlich mit Freunden verbringen, so wie sie es früher getan haben?"
Lisa starrte ins Leere. Ihre Gedanken wanderten zurück zu früheren Weihnachtsfesten, wo sie gemeinsam mit Heinrich, ihrem Mann, und vielen Freunden gefeiert hatte. Damals war sie glücklich gewesen. Ohne sich richtig bewusst zu sein, begann sie von früher zu erzählen. Sie redete von glücklichen Zeiten und Mike hörte ihr aufmerksam zu. Manchmal lachten sie gemeinsam über Dinge, die sie erzählte. Es war beinahe Mitternacht, als Mike ein Gähnen unterdrückte.
"So, ich glaube es wird Zeit mich wieder auf den Weg zu machen."
Lisa nickte. Mike nahm seine Werkzeugtasche und trat, dicht gefolgt von Lisa auf den Flur hinaus. Mike gab Lisa zum Abschied die Hand. Aber Lisa nahm seine beiden Hände in die ihren, drückte sie fest und mit Tränen in den Augen sagte sie: "Vielen tausend Dank für alles. Dies war der schönste Heiligabend seit langem. Sie haben mir die Freude an Weihnachten wieder zurückgegeben."
Mike lächelte sie nur noch einmal an, dann verschwand er im Treppenhaus. Lisa schloss hinter sich die Haustür ab, räumte die Tassen weg und ging ins Bett.
Ein Klingeln an der Haustür weckte sie. Verschlafen blickte sie auf die Uhr. Es was fünf nach acht. Lisa schlug die Decke zurück, stand auf und zog sich den Morgenmantel über. An der Haustür betätigte sie die Gegensprechanlage.
"Ja, wer ist da?"
"Ich komme vom technischen Notrufdienst. Sie haben gestern Abend angerufen Sie hätten kein elektrisches Licht mehr."
Lisa stutzte. "Aber Sie waren doch gestern Abend schon hier."
Die Stimme am anderen Ende der Gegensprechanlage räusperte sich.
"Nein tut mir Leid. Gestern war niemand von uns bei Ihnen. Sie sind doch Frau Kirchmeyer?"
In Lisas Kopf begann es zu arbeiten. Wie Blitze durchzuckten sie die Gedanken. Die Ähnlichkeit Mikes mit ihrem verstorbenen Mann Heinrich. Die Stimme, die sie so an ihn erinnert hatte. Und die Vertrautheit, die schon vom ersten Moment an von Mike ausgegangen war. Die Stimme des Handwerkers riss sie aus ihren Überlegungen.
"Frau Kirchmeyer?"
"Ähh ja. Es tut mir Leid, aber als ich den Lichtschalter heute morgen betätigte, funktionierte alles wieder. Auch der Kochherd scheint in Ordnung zu sein. Es tut mir Leid, dass Sie sich hierher bemüht haben, aber ich brauche keine Hilfe mehr."
Mit diesen Worten ließ sie den Handwerker unten stehen. Sie trat in die Küche und knipste das Licht an. Auf dem Tisch stand noch immer die Dose mit den Keksen. Lisa schaute hinein und alle Zweifel, die sie bis dahin noch gehabt hatten, verschwanden. Es waren noch alle Kekse da bis auf die Zimtsterne. Die Lieblingskekse ihres Mannes. Lisa musste sich setzen. Eine Träne rann ihr über die Wange. Aber es war keine Träne des Schmerzes oder des Kummers. Es war eine Träne der Freude. Der junge Handwerker Mike war niemand anderes gewesen als ihr Heinrich. Er war zu ihr zurückgekehrt, um ihr die Freude an Weihnachten zurückzubringen.



Eingereicht am 26. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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