Warum Weihnachten?
© Simon Müller
Vor der unbarmherzigen Kälte des Winters fliehend, hatte er sich in sein kleines Reich zurückgezogen. Fröstelnd saß er nun vor dem kleinen Teelicht, dessen dürftiger Schein nahezu vollständig von der zittrig flackernden Deckenbeleuchtung verschlungen zu werden drohte. Aus der Ferne hallten Weihnachtslieder und fremde Stimmen noch fremderer Leute zu ihm. "Ganz wie früher, Schatz", sagte er zu seiner Frau und es schien ihm, als könne er für einen Moment einen freudigen Glanz in ihren Augen sehen. "Erinnerst
du dich noch an unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest? Nur wir beide in unserer damals noch kleinen Wohnung. Nur wir beide, das Dach der Welt, ein guter Braten und … der köstliche Wein."
Seine Frau antwortete nicht.
Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche und wandte sich seiner Tochter zu: "Dieses Jahr gibt es keine Geschenke. Mutter und ich müssen sparen. Aber das wichtigste ist doch, dass wir zusammen sind, oder?"
Er blickte in die starren Augen seiner Tochter und hoffte auf eine Antwort. Doch die blieb aus. Wieder trank er, blickte sich mit glasigen Augen nach seiner Frau um und wartete auf eine Bestätigung aus ihrem Munde. Vergeblich.
Nachdem er sich noch eine Weile bemüht hatte ein Gespräch aufzubauen überkam ihn der Zorn. Mit geballten Fäusten ging er zuerst auf seine Tochter und dann auf seine Frau los. "Warum antwortet ihr denn nicht, warum redet ihr nicht mit mir? Warum nur, warum … warum?", schrie er und schlug weiter auf seine Familie ein. "Was denn noch? Was muss ich tun? Warum nur? Warum …?"
Schließlich zerrte er so lange an den Gliedmaßen des schwarzen Panthers, bis der dünne Stoff nachgab und eines der Beine abriss. Während er voller Verzweiflung die beiden Stofftiere verstümmelte gingen einige Passanten vorbei. Manche lachten, manche zeigten kurz auf ihn, die meisten beachteten ihn gar nicht. Keiner blieb stehen.
Als nach einer Weile seine Wut der Trauer gewichen war, sammelte er die Scherben seiner Vergangenheit vom leblosen Boden auf, legte sie in seinen Einkaufswagen und lief weinend den endlosen Flur der Bahnhofshalle hinunter.
Eingereicht am 05. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
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