Antares, der kleine Weihnachtsstern
© Sara Rebecca Puorger
"Hey kleiner Stern, was hast du hier verloren?! Mach dass du fort kommst! Du hast hier nichts zu suchen!" Uranus, der grösste aller Sterne schaute böse auf den kleinen Antares hinunter. Auch die übrigen Sterne, die sich zur alljährlichen Versammlung zusammengefunden hatten, blickten mit wütenden Gesichtern auf den kleinsten aller Sterne hinunter.
"Na geh schon!", riefen sie im Chor.
Antares liess den Kopf hängen und zog sich traurig zurück. Er wollte doch auch dazugehören, er wollte auch dabei sein, wenn sie die Arbeiten fürs nächste Jahr verteilten. Er wollte auch einmal am Nachthimmel leuchten und den Menschen eine Freude bereiten. Aber Antares war der kleinste von allen Sternen und zu allem Übel auch der einzige, der sechs statt der üblichen fünf Zacken hatte. Die grossen Sterne machten sich dauernd lustig über ihn:
"Was bringt es den Menschen, wenn wir dich an den Himmel setzen? Du bist zu klein und deine Leuchtkraft ist so gering, dass man dich auf der Erde gar nicht sehen kann. Und sowieso möchten die Menschen Sterne mit fünf Zacken sehen. Deine sechs Zacken sind gerade gut genug, um die Milchstrasse zu fegen. Du bist zu nichts anderem Nütze."
Jedes Jahr war es das gleiche. Jedes Jahr versuchte der kleine Antares die grossen Sterne zu überzeugen, dass auch er kräftig leuchten könne, dass die Menschen auf der Erde gerne einen Stern mit sechs Zacken sehen möchten.
Aber die grossen Sterne wollten nichts davon hören. Es war unter ihrer Würde einen so kleinen Stern wie Antares in ihre Sternbilder zu setzen. Ein Stern mit sechs Zacken passte einfach nicht an den Sternenhimmel.
Traurig setzte sich Antares auf eine Wolke. Tränen rannen seine Zacken hinunter. Er fühlte sich einsam, ausgeschlossen. Warum nur war er so klein geraten? Warum hatte Gott ihm sechs statt der normalen fünf Zacken gegeben?
Er war als Krüppel geboren; viel zu klein und mit zu vielen Zacken.
Während Antares über sein trauriges Dasein nachdachte, näherte sich ihm Madame Luna, der Mond. Gross und rund setzte sie sich neben ihn.
"Guten Abend Antares. Was machst du denn hier so ganz alleine? Warum bist du nicht bei den anderen Sternen? Waren sie wieder gemein zu dir?"
Antares wischte sich die Tränen aus den Augen. Fragend blickte er zu Madame Luna hoch.
"Kannst du mir sagen, warum ich der einzige Stern bin, der sechs Zacken hat? Kannst du mir nicht eine meiner Zacken abbrechen, damit mich die anderen Sterne auch endlich in ihre Gemeinschaft aufnehmen?!"
Madame Luna hatte Mitleid mit dem kleinen Stern, trotzdem musste sie lachen.
"Ich kann dir doch nicht einfach einen deiner Zacken abbrechen! Dann hättest du zwar nur fünf Zacken wie alle anderen Sterne auch, aber du wärst immer noch der Kleinste von allen."
Niedergeschlagen sprang Antares von der Wolke hinunter.
"Was soll ich denn tun, Madame Luna? Was kann ich tun, damit die anderen Sterne mich akzeptieren und mich nicht mehr auslachen?"
Madame Luna schaute ihn eine Weile lang an, dann sage sie:
"Du kannst es jetzt noch nicht verstehen. Vielleicht wirst du mir auch nicht glauben, wenn ich dir sage, dass du einmal gross rauskommen wirst."
"Du machst dich genauso über mich lustig wie die Sterne. Ich dachte du wärst meine Freundin, aber wie es scheint hatte ich Unrecht. Wie soll ich denn etwas Besonderes werden mit sechs Zacken und so klein wie ich bin?!"
"Bald, bald wirst du es sehen. Aber komm, es wird schon langsam dunkel.
Madame Sonne ist sicher schon bald zurück von ihrer Arbeit. Ich muss sie ablösen. Schliesslich erwarten die Menschen einen Vollmond heute Nacht."
Mit diesen Worten rauschte Madame Mond davon und liess Antares alleine in der Dunkelheit zurück.
"Ich und etwas besonderes! Wie soll das denn gehen, wenn sie mich nicht einmal an den Nachthimmel lassen, wo die Menschen auf der Erde mich sehen könnten."
Noch immer traurig nahm er seinen Besen und machte sich auf den Weg zur Milchstrasse.
Ein paar Tage später herrschte Unruhe am Sternenhimmel. Die grossen Sterne hatten sich alle versammelt und diskutierten lautstark miteinander.
Leise schlich sich Antares heran. Wenn sie ihn sähen, würden sie ihn wieder davonjagen, aber er musste wissen worum es ging.
"Ich bin der grösste und hellste Stern. Ich werde den Stall beleuchten!" Uranus tiefe Stimme übertönte das Stimmengewirr der Sterne.
"Ich bin der einzige Stern, der in Frage kommt dem kleinen Christkind die Welt zu erleuchten."
"Ach was," mischte sich die schöne Venus ein, "mein warmes Leuchten ist genau das Richtige, was dieses kleine Baby braucht, um sein Leben in dieser kalten Welt zu beginnen."
"Glaubst du wirklich, du wärest stark genug für solch eine Aufgabe?!" höhnte Mars. "Ich bin der Stärkste von uns allen. Gott wird mich auswählen, um die Krippe seines Sohnes zu beleuchten."
"Ihr liegt alle falsch!" Jupiter streckte seine fünf Zacken weit aus.
"Nicht um sonst benennen die Menschen ihren Gott nach mir. Ich bin der auserwählte Stern. Mir werden die Menschen folgen und so ihren Weg zum Christkind finden."
Der kleine Antares hatte mit offenem Mund dem Streiten der grossen Sterne zugehört, als ihn ein lautes Donnergrollen erschreckte. Zitternd vor Angst versteckte er sich hinter der erstbesten Wolke, die er fand. Auch die grossen Sterne verstummten und blickten gespannt in die Richtung, aus der das Donnergrollen ertönte. Eine riesige Wolke tauchte auf und bauschte sich vor der Versammlung der grossen Sterne auf. Dann war es totenstill. Antares traute sich kaum zu atmen hinter der kleinen Wolke.
"Uranus!" Eine tiefe, kräftige Stimme erklang aus dem inneren der riesigen Wolke. Uranus trat vorsichtig einen Schritt vor. Auf seinem Gesicht erstrahlte ein siegessicheres Lächeln.
"Ich bin hier, zu Euren Diensten."
"Sag Uranus, wo ist Antares, der kleinste unter euch?"
"A-Antares? Ich weiss es nicht. Er wird wohl auf der Milchstrasse sein."
"Geh und hol ihn her, Uranus!"
"Aber..."
"Widersprich mir nicht, Uranus. Hol ihn her, ich will mit ihm sprechen."
Uranus verbeugte sich und trat einen Schritt zurück. Bevor er sich jedoch auf die Suche nach Antares machen konnte, hörte er hinter sich eine scheues Stottern:
"Ich...ich bin schon hier."
Antares war hinter dem Wölkchen hervor und in den Kreis der grossen Sterne getreten. Scheu blickte der kleine Stern in die vor Wut blitzenden Augen der anderen Sterne.
Die bis anhin furchterregende Stimme, die aus der grossen Wolke geklungen hatte, klang plötzlich sanft, als sie fragte:
"Antares, weißt du, dass du zu Grossem bestimmt bist?"
"Aber wie kann das sein?" stotterte der kleinste aller Sterne, "ich bin so klein und habe sechs Zacken, wo alle anderen Sterne nur fünf Zacken haben. Wie soll ich da zu etwas Grossem bestimmt sein?"
"Gerade deswegen, kleiner Antares, habe ich dich auserwählt."
Neugierig geworden trat Antares einen Schritt vor.
"Wofür bin ich auserwählt?"
"Hör mir gut zu, kleiner Antares!" fuhr die Stimme in den Wolken fort.
"Heute Nacht sende ich meinen einzigen Sohn auf die Erde. Er wird in einem Stall als Mensch zur Welt kommen. Aber ich will nicht, dass er in die Dunkelheit dieser Welt kommt und ganz alleine ist. Deshalb möchte ich, dass du ihn begleitest. Ich habe dich ausgewählt. Du sollst über ihn wachen. Du sollst über dem Stall leuchten und den Menschen seine Geburt ankünden. Deine sechs Zacken sollen meinem Sohn eine Leuchte sein und meinem auserwählten Volk ein Symbol. Du bist zwar der Kleinste von allen Sternen im
Himmel, aber du sollst der Grösste werden. Noch in tausenden von Jahren soll man von dir sprechen. Du sollst der auserwählte Weihnachtsstern sein."
Antares hatte mit offenem Mund zugehört. Er glaubte seinen Ohren kaum.
Er, der kleine, von allen verachtete Stern sollte die Ehre haben die Ankunft des Christkindes zu verkünden. Tränen der Freude traten in seine Augen. Er wollte etwas sagen, doch er brachte keinen Ton heraus.
"Komm Antares, es wird Zeit. Der Sternenhimmel erwartet dich. Du hast einen Auftrag zu erfüllen. Du sollst den Menschen den Weg zu ihrem Heiland zeigen. Du sollst ihnen leuchten wie kein anderer Stern zuvor."
Schliesslich hatte Antares seine Stimme wieder gefunden.
"Aber was wird aus der Milchstrasse? Wer wird sie sauber halten?"
Die Stimme aus der Wolke begann herzhaft zu lachen über diese Worte.
"Kümmere dich nicht um die Milchstrasse. Ein bisschen Kosmosstaub schadet ihr nichts. Du hast eine wichtigere Aufgabe. Vergiss es nie! Von diesem Tage an bist du Antares der kleine Weihnachtsstern!"