Wie Hanael versuchte, Weihnachten zu retten
© Eva Markert
Der Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht waren besorgt. Vielleicht musste Weihnachten dieses Jahr ausfallen, denn es wollte und wollte nicht schneien. Dunkle Schneewolken hingen am Himmel, doch es fiel kein Schnee daraus. Die Wolkenwerkstatt lag verlassen da. Petrus hatte die Schneetruhen zwar randvoll mit gefrorenen Regentropfen gefüllt, aber kein Schneeengel saß an dem langen Tisch und bearbeitete sie mit einem kleinen Messer. Keiner schliff die Tropfen, bis sie zu wunderschönen und einzigartigen Kristallen wurden.
Und niemand öffnete die Wolkenfenster und ließ sie als Schneeflocken zur Erde schweben.
Stattdessen lagen alle Schneeengel in der himmlischen Krankenstube in ihren Wolkenbetten und husteten, niesten und schnupften. Nur Hanael, der am besten von allen Schneekristalle schleifen konnte, hatte keine Lust im Bett zu bleiben. Heimlich schlich er sich in die Schneewerkstatt, aber sobald er mit seinen fieberheißen Händen Eistropfen berührte, schmolzen sie dahin.
Knecht Ruprecht und der Weihnachtsmann hörten Geräusche in der Wolkenwerkstatt und schauten zur Tür hinein. Knecht Ruprecht war noch schlechter gelaunt als sonst. "Was machst du hier!", fuhr er den erschrockenen Hanael an.
"Schneeflocken."
"Du bist doch krank. Geh sofort wieder ins Bett!"
Auch der Weihnachtsmann sah ihn streng an. Seufzend legte Hanael sein Schneemesserchen auf den Tisch.
"Wie konntest du - wie konntet ihr nur so dumm sein!", wetterte Knecht Ruprecht "Ihr wisst genau, dass es in der Schneewerkstatt kalt ist! Warum habt ihr euch nicht wärmer angezogen?"
Wie gut, dass die beiden nicht ahnten, warum die Schneeengel wirklich krank geworden waren: weil sie heimlich eine Schneeballschlacht veranstaltet hatten, bei der sie klatschnass wurden.
Der Weihnachtsmann runzelte die Stirn. "Kann mir mal einer verraten, wie ich mit meinem Schlitten Geschenke verteilen soll, wenn kein Schnee liegt? Wenn nicht bald etwas geschieht, weiß ich nicht, was ich tun soll. Dann muss Weihnachten dieses Jahr ausfallen."
Da hatte Hanael einen Einfall. "Warum machen nicht andere Engel unsere Arbeit, bis wir wieder gesund sind?", fragte er.
"Hmm." Der Weihnachtsmann kratzte sich am Kopf. "Fragen können wir ja mal. Knecht Ruprecht, kümmere dich bitte sofort darum. Und du, Hanael", - dabei hob er drohend den Zeigefinger - "du nimmst deine Medizin und legst dich wieder ins Bett!"
Knecht Ruprecht machte sich auf den Weg. Zuerst ging er zu den Sternenengeln. "Alle Schneeengel sind krank. Könnt ihr für eine Weile einspringen und Schneeflocken machen? Sonst muss Weihnachten dieses Jahr ausfallen."
"Ausgeschlossen! Es gibt so viele Sterne, die wir jede Nacht putzen und anzünden müssen. Und zur Weihnachtszeit sollen sie besonders schön blitzen und blinken. Nein, es tut uns Leid, wir können euch nicht helfen."
"Wir brauchen dringend Schnee", sagte Knecht Ruprecht zu den Backstubenengeln. "Könnt ihr in der Schneewerkstatt aushelfen? Sonst muss Weihnachten dieses Jahr ausfallen."
"Ausgeschlossen! Es ist Advent. Wir müssen Stollen, Zimtsterne, Spekulatius und Lebkuchen backen. Nein, wir können euch leider nicht helfen."
Knecht Ruprecht besuchte die Werkstätten, wo sich die Weihnachtsengel um Geschenke kümmerten. "Es liegt kein Schnee. Könnt ihr uns helfen? Sonst muss Weihnachten dieses Jahr ausfallen."
"Ausgeschlossen! Wir müssen die vielen Geschenke in Weihnachtspapier einpacken. Nein, so Leid es uns tut, wir können euch nicht helfen."
Nun wusste Knecht Ruprecht nicht weiter. Auch der Weihnachtsmann war ratlos. "Da hilft nur eins:", sagte er, "Die Schneeengel müssen schnell wieder gesund werden."
Aber denen ging es kein bisschen besser. Schon von weitem hörten Knecht Ruprecht und der Weihnachtsmann sie heftig husten, niesen und schniefen.
Hanael hatte richtig Mitleid mit den beiden, weil sie so verzweifelt aussahen. Da kam ihm ein neuer Einfall. "Warum", fragte er, "macht ihr den Schnee nicht einfach selbst? Petrus kann euch vielleicht helfen."
Der Weihnachtsmann und sein Knecht sahen sich an. "Hmm", sagte der Weihnachtsmann und kratzte sich am Kopf. "Versuchen können wir es ja mal."
Petrus war allerdings nicht begeistert von diesem Vorschlag. "Ausgeschlossen!", sagt er. "Ich muss jeden Tag Wetter machen. Da habe ich nun wirklich keine Zeit, auch noch Schneeflocken herzustellen! Es tut mir sehr Leid, aber ich kann euch nicht helfen."
Dem Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht blieb nichts anderes übrig. Sie mussten sich allein ans Werk machen.
In der Wolkenwerkstatt rumpelte es ziemlich, als sie die großen Schneetruhen öffneten. Mit beiden Händen griffen sie hinein und trugen die gefrorenen Regentropfen zu dem langen Holztisch. Sie gaben sich alle Mühe, die Tropfen mit den Schneemesserchen zu Kristallen zu schleifen. Aber ihre Hände waren viel zu groß und so entstanden statt federzarter Schneeflocken nur harte Eisklümpchen.
"Ob wir es damit schneien lassen können?"
"Lass es uns versuchen", sagte der Weihnachtsmann. "Sonst muss Weihnachten dieses Jahr tatsächlich ausfallen."
Mit vollen Händen warfen sie die Eisklümpchen aus den Wolkenfenstern. Aber - o Schreck! - es war kein Schnee, der auf die Erde fiel, sondern Hagel.
"Das hat keinen Zweck", sagte der Weihnachtsmann. "Auf Hagelkörnern können wir nicht Schlitten fahren. Nun muss Weihnachten dieses Jahr endgültig ausfallen."
"Wir sollten", schlug Knecht Ruprecht zögernd vor, "noch einmal mit Hanael sprechen. Vielleicht hat er noch einen Einfall."
"Unsinn! Hanael ist nur ein kleiner Engel. Und außerdem haben uns seine Einfälle bisher auch nicht viel genützt!"
Aber Ruprecht ließ sich nicht beirren. Abends, als sich der Weihnachtsmann in sein Wolkenheim zurückgezogen hatte, schlich er heimlich in die himmlische Krankenstube. Alle Schneeengelchen schliefen schon. Vorsichtig setzte Knecht Ruprecht sich auf die Bettkante und weckte Hanael.
"Habt ihr denn immer noch keinen Schnee?", fragte der Schneeengel verschlafen.
"Zum Donnerwetter, nein!"
"Psst! Nicht so laut! Du weckst ja alle auf!" Und dann flüsterte Hanael Knecht Ruprecht etwas ins Ohr. Dieser hörte aufmerksam zu.
"Viel Glück!", rief Hanael dem alten Mann leise nach, als dieser eilig die Krankenstube verließ.
Am nächsten Morgen wurde der Weihnachtsmann von einem fürchterlichen Getöse geweckt. Vor seiner Tür stand ein rauchendes, fauchendes und qualmendes Ungeheuer. Es puffte und ratterte, stank und knatterte, und darinnen saß zufrieden lächelnd sein Knecht.
"Was soll das?", schrie der Weihnachtsmann. "Warum bringst du dieses Ungetüm hierher?"
Knecht Ruprecht stellte den Motor ab. "Weil wir es brauchen. Damit Weihnachten dieses Jahr nicht ausfallen muss."
"Glaubst du im Ernst, dass ich mit diesem scheußlichen Ding Geschenke ausfahre? Das kommt gar nicht in Frage! Ich verteile die Päckchen mit meinem Schlitten oder gar nicht."
"Nun hör mir doch erst einmal zu."
Geduldig erklärte Knecht Ruprecht dem Weihnachtsmann Hanaels Einfall. Nach und nach wurde das Gesicht des Weihnachtsmannes ein wenig freundlicher.
"Hmm", sagte er schließlich und kratzte sich lange am Kopf. "Hinfahren können wir ja mal."
Aber er sah kein bisschen fröhlich aus. Im Gegenteil! Als der Lastwagen mit einem Ruck anfuhr und Knecht Ruprecht vor lauter Übermut hupte, erschrak der Weihnachtsmann dermaßen, dass er böse wurde. Und böse blieb er. Die ganze Zeit schimpfte er: über die lange Reise, seine Rückenschmerzen, dass er Hunger und Durst hatte und überhaupt fand er eine Fahrt im Lastwagen einfach schrecklich!
Endlich erreichten sie den Nordpol. Knecht Ruprecht war heilfroh! Und dort gab es Schnee - Schnee, so weit das Auge reichte. Mehr Schnee, als man sich vorstellen kann, viel mehr Schnee, als sie brauchten.
"Wir müssen uns beeilen", sagte Knecht Ruprecht. So schnell sie konnten, schaufelten sie Schnee auf den Wagen.
Erst am Tag vor Heiligabend kehrten sie von ihrer Reise zurück. Es wurde schon dunkel. Eilig machten sie sich auf den Weg in die Wolkenwerkstatt. Es war allerhöchste Zeit. Sogar Petrus kam mit. Hanael war inzwischen schon fast wieder gesund und durfte helfen. "Hmm", sagte er und betrachtete die Schneeflocken eingehend, "die Kristalle, die ich schleife, funkeln aber schöner."
Zu viert ließen sie den Schnee vom Nordpol aus den Wolkenfenstern rieseln. Nachts holten Knecht Ruprecht und der Weihnachtsmann den Schlitten hervor und spannten an. Wie angenehm war eine Schlittenfahrt verglichen mit einer Reise im Lastwagen! Müde, aber gut gelaunt verteilten sie die Geschenke. Kurz bevor die Morgendämmerung hereinbrach, legten sie das letzte Päckchen unter einen Christbaum.
Am nächsten Morgen lag alles unter einer dicken weichen Schneedecke. Vor allem die Kinder, aber auch die Erwachsenen freuten sich. Keiner merkte, dass der Schnee vom Nordpol kam. Und niemand ahnte, dass Weihnachten beinahe ausgefallen wäre, hätte Hanael nicht solch einen guten Einfall gehabt.