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Ginger - Erinnerungen an das erste Weihnachtsgeschenk

© Heidi Görgen


Da war sie nun, die kleine Mary. Abgekämpft von den Strapazen einer Geburt erblickte sie das Licht der Welt in einem Monat, der macht was er will, denn es war der 25. April im Jahre 1958. Niemand konnte sie so recht gebrauchen. Gut, dass es Waisenhäuser gab. Nur schade, dass sie direkt nach der Geburt dort hingekommen ist. Jeglichen Mitspracherechts beraubt, überließ man die kleine Mary ihrem Schicksal. Die Nonnen werden sich schon gut um sie kümmern. Aber wie sollten diese zwei Nonnen bei all den kleinen Waisen das schaffen?
In eine Pumphose gesteckt, die praktischerweise jedem Kind passte und fein herausgeputzt für ein weiteres Foto, lag sie in ihrem Gitterbettchen. Mary kann nicht behaupten, eine umfangreiche Fotosammlung von sich besessen zu haben, denn es blieben nur drei Bilder, die ihre Kindheit dokumentierten. Eines davon gab Aufschluss über die zur damaligen Zeit wohl trendigen Einheitshosen, das zweite Foto dokumentierte, dass auch Waisenkinder ein Recht auf Gitterbetten haben und das dritte stellt die mittlerweile vierjährige Mary in ihrer ureigenen, typisch finsteren und misstrauischen Mine dar. Dass sich bloß keiner wagt, mich anzupacken, schien sie mit dieser Mine ausdrücken zu wollen. Die Einzige, die hier packte, war Mary, nämlich ihren heiß geliebten Teddy Ginger, den sie zu ihrem ersten Weihnachtsfest im Waisenhaus geschenkt bekommen hat. Mit ihm durchlebte sie so manche Stunde. Ihm vertraute sie einfach alles an. Geduldig hörte er ihr stets zu. Er musste schon ein dickes Fell haben, bei all dem Kummer, den Mary ihm anvertraute. Er war ihr einziger Verbündeter und so sah sie es als ihre oberste Pflicht an, ihn zu hegen und zu pflegen, bis er eines Tages vor lauter Waschen und Putzen kein Fell mehr am Leibchen hatte. Frieren konnte er Gott sei Dank nicht, denn Mary fertigte ihm Jacken und Hosen in allen Variationen an. Schön musste er nicht sein, er sollte halt nur nicht frieren. Ihr Ehrgeiz, Ginger eine umfangreiche Wollkollektion zukommen zu lassen, war ungebrochen und so kam es, dass sie schon sehr früh lernte, zu improvisieren. Sie lernte wissbegierig das Häkeln. Seine Kleider wuchsen zu einer beachtlichen und umfangreichen Ausstattung an. Wo bloß hin mit Ginger und all seinen Hosen und Jacken? Schließlich galt es auch, ihn zu schützen vor all den anderen Kindern, die keinen Teddy hatten.
Mehr und mehr entwickelte sich das Dasein im Waisenhaus zu einem täglichen Machtkampf und jedes Kind entwickelte so seine eigene Strategie. Mary bevorzugte, sich mit Beißen durchzusetzen. Es heißt, sie habe in ihrem unbändigen Zorn einem Kind beim Versuch, ihren Ginger zu entführen, ein Stück vom Ohr abgebissen, was natürlich bildlich festgehalten wurde. Obwohl es nur ein einfaches Schwarzweißfoto war, konnte doch jeder bei genauerem Hinschauen das Stück vom Ohr in Mary's Hand erkennen.
Die Heimaufsicht notierte dies in ihrem roten Buch, um bei Anlässen, wie der jährlichen Weihnachtsfeier, Material genug zu haben, die kleinen Waisenhausbewohner mahnend oder aber auch lobend zu erwähnen. Mary's Urnaturell entsprechend wurde natürlich in höchstem Maße ermahnt.
Zu dieser Ermahnung addierten sich noch weitere Rügen, so dass es kein Weihnachtsfest gab, an dem Mary nicht mahnend erwähnt wurde. Das führte allerdings jedes Mal dazu, dass sie bei der Verteilung von weihnachtlichem Gebäck und anderen Leckereien leer ausging. Sie trug es mit Fassung und freute sich deshalb riesig, wenn eines der Kinder mit ihr teilte. Denn es gab genug Kinder, die regelmäßig Päckchen von ihren Eltern erhielten, wenn sie denn noch welche hatten, gefüllt mit Süßem und anderen nützlichen Kleinigkeiten sowie Spielsachen. Es war jedes Mal ein riesiges Geschrei in allen Räumen zu vernehmen, wenn wieder einmal ein solches Paket geöffnet wurde.
Mary bekam jedoch nie ein solches Päckchen. So blieb Ihr liebstes Spielzeug ihr Teddy Ginger.
Große Aufregung herrschte im St. Vincent Waisenhaus auch jedes Mal, wenn an einer Adoption oder Pflege eines Kindes interessierte Leute zu Besuch kamen. Alle Waisen wurden dann jedes Mal herausgeputzt und entsprechend vorgeführt. Natürlich ließ sich Mary nicht ohne ihren Ginger vorstellen, dem mittlerweile mit groben Stichen das Loch im Kopf vernäht wurde.
Doch bei aller Anstrengung, Mary und ihren Teddy ins rechte Licht zu rücken, sollten noch viele Jahre vergehen, bis sich eine Pflegefamilie für Mary und ihren Ginger fand.
Gerne erinnert sich Mary an ihren geliebten Teddy, mit dem sie in einer Welt aus Geboten und Pflichten ihren Weg suchte. Stets trug er sie in ihren Bildern, Gedanken und Träumen über alle Beschwernisse hinweg und sicher hätte sie ihn noch heute, wenn ihre Pflegemutter ihn nicht einfach weggegeben hätte.




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Eingereicht am 18. Oktober 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
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