Der Schutzengel
© Thorsten Lamers
Immer weiter stürzte der kleine Engel hinunter zur Erde, er war ja selbst Schuld, wollte nicht auf die Älteren hören. Er wusste, dass er nicht zu nah am Abgrund sein durfte, war aber zu neugierig. Die anderen Engel sagten, es sei mal wieder Weihnachten und die ganze Erde sei in ein faszinierendes Lichtermeer getaucht. Das wollte das Engelchen unbedingt sehen und trat weit an den Rand der Wolke heran - und fiel hinab. Seine kleinen Flügelchen waren noch nicht richtig entwickelt. Das Engelchen fiel und fiel. Immer
näher kam die Erde. Doch es gelang dem kleinen Engel kurz vor dem Boden den Flug mit wildem Flügelschlag zu verlangsamen und unsanft mit dem Hinterteil auf dem Boden zu landen. Da saß er nun - inmitten einer großen Wiese und schaute nach oben in den Himmel. Ach man - warum hatte es nicht auf die Anderen gehört - nein - er musste ja unbedingt herab sehen, das hatte er nun davon. Aber wie sollte es nun weiter gehen? Irgendwann werden seine Flügel so stark sein, dass er wieder nach oben fliegen kann - aber wie lange
dauert das, was soll er solange tun?
Aber es half ja nichts - er konnte ja nicht auf der Wiese sitzen bleiben.
Also ging er einfach los, ohne festes Ziel. Vielleicht kam ja auch ein anderer Engel herunter und holte ihn. Warum war er überhaupt ein Engel? Und warum machten alle großen Engel so ein Geheimnis um die Erde? Tausend Gedanken gingen ihm nun durch den Kopf. Er hatte mal von einem anderen kleinen Engel gehört, dass alle Engel mal auf der Erde gelebt hätten, dort verstorben wären und anschließend im Himmel ihren Dienst aufgenommen hätten.
Sein Vater war ein Schutzengel und wohl dafür da, dass den Menschen auf der Erde nichts passierte - aber warum gab es dann Engel? Wenn niemandem etwas passierte, weil die Engel aufpassen, wieso sterben dann Menschen und werden selber zu Engeln. Das konnte er alles nicht begreifen. Er hatte auch noch nie einen Menschen gesehen - angeblich sahen sie aus wie er, nur ohne Flügel. Oh Gott - wenn er Menschen trifft, werden sie sich womöglich vor ihm fürchten, weil er doch Flügel hat - obwohl - sie waren ja noch so
klein, dass man sie kaum sehen konnte.
Er ging immer weiter, über Wiesen vorbei an Feldern und Wäldern. Es gefiel ihm sehr gut. Diese Farben. Grüne Wiesen, teilweise von weißem Schnee bedeckt. Es machte Spaß den Schnee mit den Füßen aufzuwirbeln. Im Himmel war alles immer nur weiß und langweilig, doch hier auf der Erde waren so tolle Farben und teilweise waren kleine Lichter in den Bäumen angebracht. Das war es also, was die anderen Engel als Weihnachten bezeichneten.
Nach einer Weile glaubte der kleine Engel schon, dass nichts weiter passieren würde hier auf der Erde. Der Fußmarsch schien nicht enden zu wollen. Aber jetzt - jetzt versteckte er sich hinter einem Baum. Ein Menschenjunge saß ganz in seiner Nähe auf einem Baum. Er hatte da oben eine Art Hütte, mit einer Leiter. Er hatte ihn fast nicht gesehen, doch hörte er plötzlich Geräusche und entdeckte den Jungen. Nun beobachtete er ihn neugierig. Der Junge dort oben weinte - warum war er wohl traurig? Im Himmel weinte nie
jemand - sein Vater erzählte ihm nur, dass Menschen so etwas tun, wenn sie traurig waren. Nach einer Weile entschloss sich der kleine Engel zu dem Jungen zu gehen. Ängstlich stieg er die Leiter hinauf. Der andere Junge war zunächst erschrocken, sagte aber dann freundlich hallo. Das Engelchen fragte, warum der Junge denn weint. Er begann davon zu erzählen, dass er sich verliebt hatte, in ein Mädchen aus seiner Schule. Das er sich aber nicht traute, ihr seine Liebe zu gestehen. Und nun? Jetzt sah er sie gerade
heute am Heiligen Abend mit einem anderen Jungen, sie gingen Hand in Hand.
Und deswegen war er nun verzweifelt. Der Engel hörte aufmerksam zu. Für ihn war das alles so fremd. In ein Mädchen verliebt sein, was war das? Die Engel liebten sich doch untereinander alle - und niemand war darüber traurig - im Gegenteil - alle freuten sich. Was sollte er denn nun tun - konnte er dem Jungen irgendwie helfen? Wenn er doch nur schon ein richtiger Engel wäre - dann könnte er mit dem Mädchen reden und ihr erzählen, wie sehr der Junge hier leidet. Aber er war doch selber noch so klein - und wer würde
schon auf ihn hören? Trotzdem musste er was tun. Er schlug dem Jungen vor ihn zu dem Mädchen zu begleiten, mal sehen, ob man dort was tun könnte. Der Junge wollte erst nicht, ließ sich dann aber doch dazu überreden, auch wenn er sich doch sehr über seinen "Gast" wunderte. Ein komischer Junge dachte er, allein was er trägt. Er hatte noch nie einen Jungen gesehen, der in einem weißen Gewand, einer Art Kleid umherlief. Aber egal - der Junge war nett und hörte ihm zu. Also erhoben sie sich von ihren Plätzen
im Baumhaus und gingen zur Leiter. Der Junge setzte zuerst einen Fuß auf die oberste Sprosse. Es war sehr hoch. Und dann passierte das Unfassbare. Plötzlich rutschte der Junge auf der leicht mit Schnee bedeckten Stufe ab, versuchte sich verzweifelt irgendwo festzuhalten. Doch er fiel! Schreiend kippte er nach hinten weg und fiel ins Nichts. Das Engelchen erschrak furchtbar und versuchte zunächst den Jungen noch zu halten - doch vergebens. Ohne nachzudenken sprang er hinterher, griff im Flug den Arm des Jungen
und begann dann wild mit den kleinen Flügeln zu schlagen... Er musste ihn retten.
Mit letzter Kraft konnte er den Sturz verlangsamen und beide fielen unsanft in das Gras. Der Junge sah den Engel verwundert an - "wie hast Du das gemacht?", fragte er.
Gerade wollte das Engelchen seine Geschichte erzählen, erzählen wie er von der Wolke gefallen ist - da stand plötzlich sein Vater vor ihm. Groß, weiß, leuchtend. Die riesigen Flügel ausgebreitet. "Papa"... Der andere Junge schien ihn nicht zu sehen. Der Engel schloss seine Flügel um seinen Sohn, streute glitzernde Vergessenssternchen auf den anderen Jungen und flog wieder zum Himmel hinauf. Der Junge blieb auf der Wiese zurück - vollkommen verwirrt. Was war passiert? Einem Moment war ihm, als - oh Gott
- er war aus dem Baumhaus gefallen. Es war so hoch und ihm war nichts passiert. Er musste einen Schutzengel gehabt haben. Aufgeregt ging er nach Hause. Auf dem Weg traf er das Mädchen, seine große Liebe. Sie saß traurig auf einer Bank. Er setzte sich dazu und sie begannen zu reden. Ihr Freund hatte sie verlassen und sie war so traurig. Tröstend legte er seinen Arm um sie und sie sahen sich tief in die Augen.
Das Engelchen war inzwischen wieder auf seiner Wolke angekommen. Sein Vater schimpfte nicht mit ihm, sondern lobte ihn sehr. "Du hast dem kleinen Jungen das schönste Weihnachtsgeschenk gemacht, was er je hatte. Du hast ihm das Leben gerettet - wärst Du nicht da gewesen, wäre er jetzt auch hier bei uns im Himmel - das war für ihn so vorgesehen. Jetzt wird er dank Dir noch ganz alt werden und mit seiner neuen Freundin sehr glücklich sein - Du wirst auch mal ein großer Schutzengel". Voller Stolz kuschelte
sich der kleine Engel an seinen Vater und sah glücklich auf die weihnachtlich erleuchtete Erde hinunter....