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Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Die Weihnachtsfrage
Von Raiko Milanovic
- Telephon anmelden -
- Bei den Stadtwerken anmelden -
- Stiefel für die Kinder -
Ich war bei Punkt zwei meiner Liste: der zähste bisher. Die Schlange vor mir zuckte kurz, aber bewegte sich nicht weiter. Stiefel? Welche Größe hatte Sylvia? Der Kleine hatte 23 aber Sylvia? 27 oder 29?
Mann dauerte das! Das Schlimmste am Warten war die Gewissheit, dass meine Existenz an diesem Platz nur dadurch gerechtfertigt wurde, dass ich, um besagte Existenz mit einer 50 Watt Funzel zu erhellen, die Erlaubnis der Stadtwerke brauchte.
Stiefel - ich glaube Sylvia hat 27. Ich bin mir eigentlich sicher. Gut, zwei Paar Stiefel. Eins in Größe 23 das andere in 27. Die Kinder brauchten neue Stiefel, aber ich wusste, dass sie sich einen Schlitten wünschten. Aber das kam nicht in Frage - ich war arbeitslos. Außerdem fände es meine bessere Hälfte gar nicht komisch, wenn ich mit einem Schlitten statt mit Stiefeln ankäme. Wir hatten es besprochen und sie hatte Recht. Es war besser vernünftig zu sein und warme Stiefel waren wichtiger als Spielzeug.
Ein langweiliges Jahrhundert später, wechselte ich, immer noch an der selben Stelle, von einem tauben Bein aufs andere. Mir war so langweilig, dass ich den Beamten beobachtete. Ein zufriedener Mensch, so schien mir, der seine Aufgabe sehr wichtig nahm. Er räusperte sich wie zur Bestätigung. Dann kramte er nach einem Bogen, schloss den Ordner sorgfältig und drehte sich langsam zum Wandkalender um. Herrgott, heute ist der 24 Dezember, was sonst!?
Er trug sorgfältig eine vierstellige Jahreszahl auf dem Deckblatt ein und blickte nachdenklich ins Leere. Schließlich trug er eine kryptische Ziffer (was hatte er nur in der Leere erblickt?) auf dem Deckblatt, der zweiten Seite oben, der zweiten Seite unten und auf der letzten Seite ein. Seine Hand bewegte sich zum Stempelkarussell, stupste es an, es kreiselte geflissentlich, und griff nach ein paar Sekunden willkürlichen einen Stempel heraus, hauchte ihn innig an, und drückte das befeuchtete Siegel gewichtig
und präzise auf das Deckblatt, dann auf die zweite Seite oben, die zweite Seite unten und, mit etwas Schwung, auf die letzte Seite. Er legte den Bogen fort und die Schlange rückte unerwartet vor.
Draußen wird es sicher bald dämmern, dachte ich so vor mir her. Es schneite und der Heimweg wird schön. Am Heiligabend, aus der Kälte über frisch knirschenden Schnee nach Hause zu kommen und Geschenke mitbringen, war wunderschön für einen Vater. Alle erwarteten ihn, und es würde warm im Haus sein, und das Essen fertig sein, und die Kleinen konnten es kaum erwarten, zu sehen, was man so dabei hatte, und einen umrennen, nur um als erste am Paket zu sein. Ich bemerkte, dass ich lächelte.
Sollte ich wirklich Stiefel mitbringen? Morgen wird es eine dicke Schneedecke geben und die Kinder fieberten auf eine Schlittenfahrt. Sie könnten den Hügel am Wald nehmen, der war nahe und sicher eingeschneit. Ich könnte einen Strick dranbinden und sie hinziehen und dabei ein Rentier spielen oder einen Schlittenhund.
Aber die Stiefel, sie brauchten bald Stiefel. Ihre alten Schuhe waren schon arg mitgenommen und ein Paar warme Stiefel im Winter wäre genau das Richtige. Nur, Stiefel als Geschenk zu Weihnachten? Stiefel wärmten den Fuß, waren notwendig und nützlich, aber hatten so gar nichts von Weihnachten an sich. Ich bemerkte, dass ich den Kopf schüttelte.
Durch das winterliche Fenster stahl sich plötzlich ein Lichtstrahl. Er traf ein Formular, auf dem gerade geschrieben wurde. Der Lichtfleck kam direkt vor dem Kugelschreiber zu liegen, verwandelte das traurige Weiß des Bogens in helles Licht, versperrte quasi dem Fortgang des Schreibens und Erfassens den Weg. Der Beamte hob seinen Kopf, sicher entrüstet über das unbotmäßige Beleuchten seiner Akten, und schaute sinnierend zum Fenster. Er lehnte sich etwas zurück, schloss spielerisch ein Auge und ließ den Lichtstrahl
auf seiner Stirn tanzen. Das Lichtlein wanderte über seinen Kopf, traf die Wand hinter ihm und vergoldete Grau vorübergehend bevor er zurückkehrte - Ich könnte schwören, dass er gelächelt hat.
Nicht viel später war ich draußen. Alle Formulare waren ausgefüllt, der nette Beamte hatte sich Zeit für mich genommen. Und nun hatte ich noch Zeit auf meinem Weg zum Schuhgeschäft.
Der Schnee knirschte wundervoll unter meinen Schuhen. Schuhe, Stiefel, Vernunft. Sollte ich wirklich? Zu Weihnachten etwas Vernünftiges schenken? Selbst der Beamte hatte sich einen Moment lang nicht mit der Pflicht abgegeben, sich über den Sonnenstrahl gefreut und keiner hat es ihm übel genommen. Und mein Vaterherz. Das rief nach dem Schlitten und es würde knirschen und stöhnen wenn die Kleinen kalte, nasse Füße bekämen. Was war wichtiger? Die Vernunft oder die Freude?
Ich lief weiter über den sanft knirschenden Schnee, schaute den Flocken zu, die schwebend zur Erde kamen und wurde dabei immer langsamer.
Schließlich drehte ich um: Weihnachten sollte Freude sein.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
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