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Sphinx, Hannibal und Tiger

Von Claudia Gürtler


Viele Nächte lang hatte Caruso sein Bestes gegeben und nach Katerart über den Dächern der Stadt gesungen. Endlich erhörte ihn die schöne Caramel, und sie wurden ein glückliches Paar.
Zehn Wochen später hatte der Oberengel im Himmel große Sorgen. In diesem Jahr hatten schon so viele Katzenfamilien Nachwuchs bekommen, dass die Katzen-Familien-Schutzengel bereits alle vergeben waren. Dem Oberengel blieb nichts anderes übrig, als den Schutz von Carusos Familie einem Neuling anzuvertrauen. Seufzend suchte er sich Uriel heraus, der zwar nach einem der Erzengel hieß, aber ein noch völlig unbeschriebenes Blatt war. Uriel wäre vor lauter Freude fast von seiner Wolke auf die Erde hinuntergepurzelt, als er erfuhr, dass er der Pate der drei winzigen, farblosen Katzenbabys werden sollte, die der Oberengel im Arm hielt.
"Es sind ein Mädchen und zwei Jungen", seufzte der Oberengel resigniert. "Zuerst malst du sie an und dann schickst du sie auf die Erde hinunter zu Caruso und Caramel."
Er stellte die drei in einer Reihe auf eine Wolke, und Uriel holte seinen Malkasten. Zuvorderst in der Reihe saß das Katzenmädchen, und Uriel wagte lange nicht, es anzufassen. Es starrte ihn aus riesigen weisen Augen an, und der Engel fühlte sich klein und dumm vor diesem Blick. Schließlich packte er das Kätzchen mit zwei Fingern am Nackenfell und tunkte es blitzschnell in flammend rote Farbe. Seine Finger hinterließen auf den Schulterblättern zwei sternförmige Abdrücke.
Das zweite Kätzchen war nur halb so groß wie die anderen beiden Winzlinge. Richtig zerbrechlich sah es aus. Aber es fauchte wild und schlug mit den Krallen, als wolle es gleich klarstellen, was für ein gefährliches Raubtier es doch sei. Uriel packte auch dieses Kätzchen schnell am Nackenfell und tunkte es in schwarze Farbe. Seine Engelsfinger hinterließen Abdrücke in der Form von Sichelmonden.
Das dritte Kätzchen blinzelte Uriel träge aus halbgeschlossenen Augen an, und als er mit dem Pinsel vorsichtig einen Streifen über sein Fell zog, schnurrte es behaglich. Der kleine Engel hatte seine helle Freude an diesem Kätzchen. Obwohl er den ganzen Tag brauchte, um es mit dünnen, schwarz-braun-grauen Streifen zu bemalen, ließ es ihn gewähren. Es rührte sich nicht vom Fleck, auch dann nicht, wenn Uriel kleckerte und seufzte.
Endlich waren die Kätzchen bereit. Uriel trug sie auf die Erde, und Caramel und Caruso waren begeistert über ihren Nachwuchs.
Caruso kletterte schon bald wieder auf Bäume und Dächer, wühlte in Abfalltonnen und jagte, aus Spaß oder Hunger, Mäuse und Ratten. Caramel hingegen war voll und ganz mit der Pflege ihrer Kinder beschäftigt. Und wie jede gute Mutter machte sie sich Sorgen um sie. Zuerst war es Hannibal, der winzige Schwarze, der sie nicht schlafen ließ. Auch wenn er sich eine Zitze zum Trinken erobert hatte und sie mit den Zähnen und den Krallen verteidigte, wurde er doch immer wieder von den Geschwistern weggedrängt.
"So wird er nie groß und stark", dachte Caramel, und sie begann, ihn einzeln zu säugen, nachdem die anderen Kinder sich sattgetrunken hatten und eingeschlafen waren.
Caruso, der ausnahmsweise mal hereinschaute, lästerte so lange über den mickrigen Sohn, bis Caramel ihn anfauchte und wegjagte.
Endlich begann Hannibal zu wachsen, und Caramel atmete auf. Wenn er auch klein war, so schien er doch robust und eine Kämpfernatur zu sein.
Aber nun begann Caramel, sich um Tiger Sorgen zu machen. "Hat man schon mal so eine faule Katze gesehen!?", rief sie entsetzt aus.
Tiger blinzelte nur kurz, dann schlief er weiter. Alle paar Stunden, wenn die Sonne wieder ein Stück weitergewandert war, stand er auf, um sich einen wärmeren Schlafplatz zu suchen. Das Mäusefangen überließ er ganz seiner Mutter, und er fraß nur, wenn sie ihm die präparierten Leckerbissen genau vors Mäulchen legte. Schließlich sah Caramel ein, dass man nur ganz wenig Futter brauchte, wenn man sich so wenig bewegte wie Tiger. Es genügte also, wenn der kleine Gestreifte alle drei Tage ein paar Schritte machte.
"Wenn er sich nur nie auf die Straße legt", dachte Caramel besorgt. "Mit Sicherheit wäre er sogar zu faul, um sein eigenes Leben zu retten."
Caruso behauptete, in seiner Familie sei noch nie jemand zu faul gewesen, um zu Mausen oder schöne Lieder zu singen. Er wagte es gar, daran zu zweifeln, dass Tiger sein Sohn sei. Caramel schlug wütend nach ihm, und er trollte sich.
Mit der Zeit vergaß Caramel ihre Probleme mit Tiger. Sie machte sich inzwischen mehr Sorgen um ihre Tochter Sphinx.
Sphinx saß meist majestätisch aufrecht, starrte mit glühenden Augen ins Leere und beteiligte sich nicht an Gesprächen oder Balgereien. Sie dachte unentwegt nach, und ihr Blick schien durch die Dinge hindurchzugehen. Sphinx konnte in die Zukunft sehen und Ereignisse voraussagen, aber sie ließ sich oft lange bitten. Manchmal schwieg sie eine ganze Woche lang, und Caramel fragte sich trotz der großen Schönheit von Sphinx, ob sie jemals einen Kater finden würde, der sie heiraten wollte.
Caruso, der vorbeischaute, bekam das heulende Elend, als er seine schöne, unnahbare Tochter sah. "Sie ist wie unsere Ururururahnen in Aegypten", jammerte er. Und weil er nicht aufhören wollte, mit den Augen zu rollen und die schwärzesten Prophezeihungen auszustoßen, jagte ihn Caramel wieder weg.
Anfang Dezember wurde es bitterkalt, und Caramel fragte sich, ob ihre Kinder die eisigen Nächte überleben würden. Sphinx, die sich ausnahmsweise bequemte zu reden, behauptete, zwei Straßen weiter wohne eine alte Frau, die die Katzenfamilie aufnehmen würde. "Aber natürlich wirst du dich erst nächste Woche entschließen, wenn Tiger sich erkältet hat", sagte Sphinx ungnädig. Dann schwieg sie wieder hartnäckig, obwohl Caramel, die nicht wusste, was sie tun sollte, sie mit Fragen bestürmte.
Am folgenden Montag begann Tiger, der sich nie mehr als nötig bewegte, zu husten. Seine Augen schwollen zu, und seine Nase lief. Er sah erbärmlich aus. Caramel musste sich entschließen, einen Menschen um Hilfe zu bitten.
"Hab ich's nicht gesagt?", fragte Sphinx hochnäsig, und sie führte die Familie zu einem Haus, das sie vorher genau beschrieben hatte. Aus der Tür trat eine Frau, die genau das sagte, was Sphinx vorausgesagt hatte, nämlich: "Ach, ihr armen Schätzchen! Kommt herein und wärmt euch an meinem Ofen."
Es wurde ein paradiesischer Dezember. Draußen schneite und fror es, aber Caramel und Sphinx saßen in der Stube auf dem Fenstersims und schauten in das Flockentreiben hinaus. Die alte Frau verwöhnte ihre Schätzchen mit Liebkosungen und gutem Futter. Tiger schlief Tag und Nacht auf dem Ofen oder in einem großen Filzpantoffel. Nur Hannibal verließ zweimal die Woche das Haus, um sich mit anderen Katern zu prügeln. Die alte Frau kaufte ein Apothekerkästchen, und auch Caramel lernte schnell, den Deckel zu öffnen und ihren Sohn zu verarzten. Hannibal, der nicht zu zimperlich war, um so lange zu kämpfen, bis ihm ganze Fellstücke fehlten oder bis sein Schwanz zerzaust und seine Ohren mehrfach geschlitzt waren, brüllte zetermordio, wenn er Watte und Desinfektionsmittel sah. Caramel packte ihn dann jeweils ziemlich unsanft am Kragen, um "das Nötige zu tun", wie sie sagte. Hannibal kroch danach in eine Ecke und schmollte, bis ihn seine Kämpfernatur wieder aus dem Haus trieb.
Sphinx schwieg vornehm zu all den Umtrieben.
Aus dem Himmel sah der Oberengel kopfschüttelnd hinunter, und je öfter er Hannibal abgekämpft nach Hause kommen sah, desto tiefer wurden seine missbilligenden Stirnfalten. Schließlich machte er sich auf die Suche nach demjenigen, der den Auftrag hatte, die Katzenfamilie vor Schaden an Leib und Seele zu bewahren. Uriel, der kleine Katzenschutzengel, fing kleine Wolken ein und fügte sie zu größeren zusammen. Dieses Spiel spielte er schon seit Wochen, und darüber hatte er seine Aufgabe ganz vergessen. Der Oberengel erinnerte ihn unsanft daran, indem er ihn vor ein Wolkengucklock setzte, wo er Caruso, Caramel, Sphinx, Tiger und vor allem Hannibal jederzeit vor Augen hatte.
Als Hannibal zwei Tage vor Weihnachten über die Straße rennen wollte, weil er auf der anderen Seite einen Feind erspäht hatte, flog Uriel schnell auf die Erde hinunter.
Ein Lastwagen näherte sich mit großer Geschwindigkeit, und Uriel schrie voller Angst: "Pass auf!"
Hannibal machte kehrt und sprang auf den Gehsteig zurück, aber nur, um den kleinen Engel zu packen, wie er im Sommer die Schmetterlinge gepackt hatte.
Uriel war zu überrascht, um sich zu wehren. Er piepste ängstlich, aber Hannibal schleppte ihn ohne Erbarmen nach Hause. Kaum war er im Haus, hörte er die alte Frau kommen. Schnell sperrte er den Engel ins Apothekerkästchen - als Vorrat für später. Bald hatte er ihn jedoch vergessen, denn vom Fenstersims aus sah er, wie sein Erzfeind Rambo gemütlich durch den Garten stiefelte, - durch SEINEN Garten! - und ihm dabei noch frech die Zunge herausstreckte.
Am Abend saß auch Caramel auf dem Fenstersims. Sie putzte ihr schönes Fell und seufzte dazu, denn sie dachte an Caruso, der versprochen hatte, mit ihr einen Weihnachtsspaziergang über die Dächer zu machen.
Sphinx hatte tief und fest geschlafen, als Hannibal den Engel einsperrte. Trotzdem sagte sie jetzt zu Caramel: "Es hat keine Eile mit der Putzerei. Weihnachten ist dieses Jahr verschoben worden."
"Du meinst, es findet erst später statt?", fragte Caramel unsicher.
"Ja!" antwortete Sphinx ungeduldig.
"Warum denn?", wagte Caramel zu fragen.
"Weil immer erst dann Weihnachten ist, wenn alle Engel vollzählig im Himmel versammelt sind", erklärte Sphinx, die an diesem Tag ungewöhnlich redselig war.
"Wie viele fehlen denn?", fragte Caramel.
"Einer!", antwortete Sphinx.
"Und wo ist der eine?", wollte Caramel wissen. Aber Sphinx fand, sie habe schon zuviel geredet. So schwieg sie und starrte mit funkelnden Augen geradeaus.
Am Tag vor Weihnachten wurde die Katzenfamilie von einem Höllenlärm geweckt. Hannibal wusste gleich, was los war. Er rannte fauchend aus dem Haus. Im Garten saßen - vollzählig versammelt - seine Feinde. Ohne eine Sekunde zu zögern verschwand Hannibal in einem Knäuel von Pfoten, Krallen, glühenden Augen und spitzen Eckzähnen. Die alte Frau beteiligte sich mit der Gießkanne und ihrer Jammerstimme an dem Kampf. Endlich verließen die Helden die Arena. Zurück blieb ein völlig verzauster, aber sehr zufriedener Hannibal. Hatte er sie nicht alle in die Flucht geschlagen, die Hasenfüsse?
Die alte Frau öffnete das Apothekerkästchen, und heraus flog mit einem erlösten Seufzer - Uriel, der kleine Katzenschutzengel. Caramel schaute Sphinx vorwurfsvoll an. Sphinx aber zuckte nur vornehm mit dem Schwanz.
"Weihnachten findet doch statt", sagte sie, "...rechtzeitig!"
Und während die alte Frau den jammernden Hannibal verarztete, ertönte vor dem Fenster ein wunderschönes Lied. Caruso lud seine Caramel zum Weihnachtsspaziergang ein.


Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.


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