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Die Schneekönigin im Kühlschrank

Von Corinna Hein


Ich hatte meinen Flug nach Hause verpasst. Es war mir unverständlich, wie das geschehen konnte, doch nun saß ich am heiligen Abend in dieser Stadt fest. Daheim hatte mein Vater bestimmt schon den Weihnachtsbaum geschmückt. Mutter würde in der Küche letzte Hand an die Köstlichkeiten legen, mit denen sie die Familie am Abend zu verwöhnen beabsichtigte, und ich würde nicht dabei sein! Es war zum schwarz Ärgern. "Scheiß Chef!", murmelte ich. "Scheiß Taxifahrer!" "Scheiß Stau!"
Meine Wohnung kam mir verlassen vor. Der winzige Baum, dessen Plastiknadeln struppig nach allen Seiten strebten, mit seinen aufgeklebten Weihnachtsmännern und den grellbunten Lichtern höhnte vom Fenster herüber, während ich durchs Fernsehprogramm zappte. Zu Hause würden sie jetzt bestimmt schon essen. Meine Großeltern wären da... und meine Geschwister... die alte Katze würde wie jedes Jahr so lange unter dem Baum warten, bis die wachsamen Augen meiner Mutter durch den allgemeinen Trubel abgelenkt wären, um mindestens eine oder zwei von den tieferhängenden Kugeln von Baum zu holen und durchs Wohnzimmer zu kullern, wobei sie nicht selten zu Bruch gingen. Zum Glück hielt sie das Alter seit einigen Jahren davon ab, ihre berühmte Balancenummer auf den oberen Ästen vorzuführen. Diese Vorstellung machte mich lachen.
Wie ich noch auf der Couch vor mich hinkicherte, klopfte es plötzlich an meiner Fensterscheibe. Ich öffnete, und eine erbärmlich aussehende Figur schwebte ins Zimmer. "Entschuldigen Sie die Störung", schniefte die Person, "hätten Sie vielleicht ein Taschentuch für mich?" Ich reichte ihr eine Packung Tempo. "Wollen Sie auch noch ein Handtuch?", fragte ich im Hinblick auf die langen Haare, die klatschnass an der tropfenden Frau herunterhingen. Sie nickte, und ich holte zwei große Handtücher aus dem Bad.
Als ich wiederkam war das Zimmer leer. Einer Wasserspur folgte ich bis in die Küche. Vor dem Kühlschrank hörte die Spur auf. Etwas verwundert hängte ich mir die Handtücher über die Schulter und öffnete den Kühlschrank. "Tür zu!", schnarrte es gefährlich. "Na, hören Sie mal!", protestierte ich entrüstet, "Was tun Sie in meinem Kühlschrank?" "Mir ist warm und ich kühle mich ab", kam es schon eine Spur freundlicher zurück. Ich fand, dass die Frau gar nicht mehr so erbärmlich aussah. Ganz im Gegenteil eigentlich: sie hatte aufgehört zu tropfen und ihr Schnupfen schien ebenfalls wie weggeblasen. Ja, ich hatte sogar den Eindruck, als würde sie geheimnisvoll glitzern. Also ließ ich ihr den Spaß und machte die Kühlschranktür wieder zu.
Es war dunkel geworden und durch das geöffnete Zimmerfenster zog kühle Luft herein. Ich schloss auch dieses und setzte mich wieder vor den Fernseher. Ein Mann mit roter Mütze las die Nachrichten. Ich wartete darauf, dass er ansagte, eine Verrückte wäre aus dem Irrenhaus entsprungen. Aber es kam nichts dergleichen. Doch das war mir eigentlich egal. Ich wünschte mir nur immer heftiger, zu Hause zu sein. Eine Träne kullerte über meine rechte Wange hinab bis zum Kinn. Ich fröstelte plötzlich, und jemand räusperte sich hinter mir.
Offensichtlich hatte die Person meinen Kühlschrank wieder verlassen. Allerdings schien es tatsächlich fraglich, ob es immer noch die selbe Frau war wie zuvor. Sie war ziemlich groß. Ihre Haut, so sie nicht durch einen weißen Mantel bedeckt war, schimmerte wahrhaftig in einem ganz blassen Lilaton. Um sie herum war es so kalt, dass kleine weiße Flocken in der Luft tanzten und auf meinem Fußboden zu liegen kamen. "Das kann doch nicht wahr sein", murmelte ich leise und zweifelte an meiner Zurechnungsfähigkeit.
"Ich muss jetzt wieder los", klirrte die Frau etwas frostig, aber sie lächelte. "Ja, ähm... okay", antwortet ich hilflos. "Ist das da eine Träne." Sie zeigte auf mein Kinn. "Mhm...", schniefte ich. Da setzte sie sich aufs Fensterbrett und schien nachzudenken. "Ich bin die Schneekönigin", sagte sie nach einer Weile. "Jaaa, alles klar", antwortete ich gedehnt. So was gab es doch gar nicht! "Es ist in den Zeiten globaler Erwärmung nicht leicht, seine Arbeit zu machen. Deshalb bin ich dir sehr dankbar, dass ich deinen Kühlschrank benutzen durfte. Sonst wäre ich jetzt bereits weggetaut. Ich weiß, dass du nach Hause willst. Ich könnte dich mitnehmen und irgendwo absetzen, wenn ich nun weiter übers Land fahre und es hier und da schneien lasse", sagte sie einladend. "War das mit dem Schnee nicht Frau Holle?", fragte ich misstrauisch. "Frau Holle", lachte sie, "das ist doch nur ein Märchen für kleine Kinder."
Sie öffnete mein Fenster und draußen schwebte ein weißer Schlitten. Immer noch misstrauisch fragte ich: "Und was war mit Kai und Gerda?" "So wird ein Ruf ruiniert", lachte sie wieder und zuckte mit den Schultern. Da zögerte ich nicht länger und jubelte: "Ja, gut, ich komme mit! Ich hol' nur meinen Koffer!" Außerdem beschloss ich, einen warmen Mantel überzuziehen. Es würde Schnee geben in dieser Nacht.


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