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Vergängliche Weihnacht
Von Klaus Eppele
So kurz hatte ich mir mein Dasein wirklich nicht vorgestellt. Seit einer Stunde liege ich schon hier mutterseelenallein in der eisigen Kälte. Kurz nach Sonnenaufgang wurde ich aus meinen Träumen gerissen, meines Schmucks beraubt, in ein Auto verfrachtet, hier her gekarrt und achtlos auf die kalten Steinplatten geworfen. Gestern Abend stand ich noch im Mittelpunkt allen Geschehens und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich schon heute auf dem "Sammelplatz für Weihnachtsbäume" enden
würde.
Meine Besitzer hatten mich erst gestern Nachmittag in ihrem Wohnzimmer aufgestellt und wunderschön geschmückt. Am Abend waren dann mehrere Frauen, Männer und Kinder zu Besuch gekommen, die sich lange miteinander unterhielten und dabei Unmengen von fettigen und kalorienreichen Speisen in ihre übergewichtigen Körper stopften. Nur die Kinder aßen fast nichts. Sie starrten mich fast die ganze Zeit aufgeregt und mit glänzenden Augen an und drängten die Erwachsenen ununterbrochen, sich mit dem Essen zu beeilen. Nach
einer großen Portion Eiscreme mit Schokoladensoße und Sahne sagte eine ältere Dame, dass in wenigen Minuten das Christkind kommen würde. Die Kinder schauten sie verdattert an und waren dagegen, dass noch ein weiteres Kind käme, weil sie ihre Geschenke nicht mit anderen teilen wollten. Sie bestanden stattdessen darauf, dass nun endlich der Weihnachtsmann erscheinen sollte.
Nachdem die ältere Dame vergeblich versucht hatte, zusammen mit den Kindern ein Weihnachtslied anzustimmen, wurden diese aus dem Raum geschickt und die Erwachsenen begannen, mich hinter Unmengen bunt eingepackter Pakete einzumauern. Zum Glück musste ich nicht lange warten bis die Kinder und die Erwachsenen die Pakete wieder entfernten, sie gierig aufrissen und im Zimmer verteilten. Als ich wieder freie Sicht hatte, erblickte ich ein Chaos aus leeren Kartons, zerfetztem Geschenkpapier, Massen von Spielsachen und
anderen meist nutzlosen Dingen. Mitten in diesem Durcheinander öffneten die total gestressten Kinder gerade die letzten Pakete, um danach alle ihre Errungenschaften kritisch zu prüfen. Die Fülle an Geschenken führte dazu, dass die armen Kinder gar nicht wussten, womit sie sich zuerst beschäftigen sollten.
Nachdem alle Spielsachen kurz angespielt waren und einige Kinder sich beschwert hatten, dass der Weihnachtsmann in diesem Jahr sehr nachlässig bei der Abarbeitung der Wunschlisten gewesen sei, verabschiedeten sich die Gäste. Meine Besitzer räumten grob die Wohnung auf, stritten sich ein wenig über belanglose Dinge und gingen zu Bett.
Nur ich blieb zurück. Stolz stand ich da und strahlte mit meinen bunten Elektrokerzen in den Raum, nichtahnend, dass ich meine Schuldigkeit bereits getan und ausgedient hatte, weil meine Besitzer schon am nächsten Morgen in den Skiurlaub aufbrechen wollten …
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