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Der gelbe Klecks
Von Matthias N. Schütz
Philipp hörte sehr deutlich ein Rascheln und Knistern in seinem
Kinderzimmer. Er lag schon lange an diesem Abend in seinem Bett und
konnte nicht einschlafen. Der Wind brauste vor seinem Fenster hin und
her und heulte ab und zu, wenn er um das Haus herum fegte. Philipp
deckte sich bis über beide Ohren zu und versteckte sich wie ein Räuber
in seiner Höhle, weit hinten unter seiner Bettdecke. An diesem Abend
wurde es draußen vor dem Fenster ganz besonders schauerlich. Es war der
23. Dezember. Die Wolken zogen wie kleine Schlitten unaufhaltsam am
Himmel entlang und die ersten Schneeflocken sausten wild an seinem
Fenster vorbei. Der Herbst hatte sich bereits vor vielen Wochen
verabschiedet und die Natur verkleidete sich. Einzig und allein die
Blätter wehrten sich noch gegen die weiße Pracht. Doch ihr buntes Kleid
verlor mit jedem Tag von ihrer bunten Schönheit. An ihrem
abwechslungsreichen und bunten Farbenspiel hatten sich die Menschen
lange erfreut und keiner glaubte mehr an weiße Weihnachten. Die
Schneeflocken fielen auf alle Wege, Straßen und Wiesen, sie bedeckten
die Dächer der Häuser und verwandelten die bunte Stadt in ein großes
weißes Blatt. Auch der große Baum im Garten beteiligte sich an dem
Treiben, denn in dieser Nacht, als der Mond sein Licht auf ihn warf, sah
er aus wie ein Engel. Er hatte viele weit gefächerte dicke und dünne
Äste, die wie Flügel in den nächtlichen Himmel ragten. Es war der letzte
Tag an dem die unterschiedlichen Formen und Farben, rote und gelbe,
grüne und braune, glänzende und matte Blätter wie Tränen am Boden lagen
und immer mehr mit Schnee bedeckt wurden.
Das Licht in Philipps Zimmer war schon längst erloschen und die Augen
fielen ihm beinahe zu, als es noch einmal raschelte. Das Fenster war
verschlossen und trotzdem konnte er dieses Rascheln sehr deutlich hören.
Philipp wunderte sich, dass Schneeflocken so laut rascheln können. Von
den Blättern wusste er, vor allem wenn er durch die vielen Blätter lief
und sie mit seinen Schuhen durch die Luft wirbelte, dass sie rascheln.
Vorsichtig streckte er seinen Kopf unter der Bettdecke hervor. Philipp
war besonders neugierig aber er konnte leider nichts sehen, es war ja
dunkel in seinem Zimmer. Langsam nahm er all seinen Mut zusammen und
kroch vorsichtig aus seinem Bett, er krabbelte wie ein Indianer auf
allen Vieren ganz tief geduckt zu seinem Maltisch. Dort angekommen stand
er auf und drückte auf den schwarzen Knopf der Tischlampe. Philipp sah
sich sein Schloss an, das er am Nachmittag mit Wasserfarben auf einen
großen Bogen Papier gemalt hatte und auf seinem Tisch lag. Der König
guckte aus einem weit geöffneten Fenster seiner Gemächer in den Hof
hinunter und die Königin hatte ein blaues Tuch in der Hand und winkte
neben dem König stehend zu Philipp hinüber. Ein wirres und buntes
Treiben bevölkerte den Schlosshof. Auch ein Mönch stand da inmitten der
vielen Kaufleute, gekleidet in einer braunen Kutte mit einer großen
Kapuze über dem Kopf, die ihre Waren zum Kauf anboten. Sein mit Heu
beladener Wagen, der von einem Ochsen gezogen wurde, stand mitten auf
dem Platz. Es war Markt an diesem Tag auf dem Schloss. Der Mönch kam
jede Woche einmal aus einem benachbarten Kloster, wo er mit vielen
anderen Mönchen lebte, arbeitete und betete. Philipp setzte sich auf
seinen Stuhl, verschränkte die Arme auf dem Tisch, legte seinen Kopf
darauf und wartete auf das Geräusch das er gehört hatte. Ein Auge hatte
er geschlossen und mit dem anderen blinzelte er über seine Zeichnung
hinweg. Er wartete lange und wäre fast wieder eingeschlafen, als es
plötzlich und sehr deutlich unter seinem Arm raschelte. Er hatte es
klarer und viel lauter als zuvor gehört. Philipp hob seinen Kopf hoch
und betrachtete abermals sein Bild das er mit seinen Armen abgedeckt
hatte. Das Rascheln kam von diesem Bild. Es war der gelbe Klecks, das
Heu das er gemalt hatte, das, das auf dem Wagen lag, den der Ochse in
den Schlosshof gezogen hatte.
Der gelbe Klecks, also das Heu, bewegte sich, ganz alleine, wie von
Geisterhand unsichtbar geschüttelt.
Und da geschah es!
"Philipp", sagte der gelbe Klecks, "ich habe den ganzen Nachmittag die
vielen bunten Blätter am Fenster vorbei fliegen sehen, getragen durch
den Wind, ich fühle mich sehr einsam. Philipp, ich möchte nicht ganz
alleine auf deinem Maltisch liegen, hier als Heu auf diesem Wagen, wo
doch alle anderen bunten Kleckse da draußen im Garten vom Wind getragen,
herumspringen und sich freuen."
Philipp erinnerte sich daran, dass seine Mutter ihm einmal erzählt hatte
das es keine Gespenster gibt. Die hat man nur für Märchen erfunden, um
die Kinder zu erschrecken. Philipp drehte seinen Kopf staunend zu dem
gelben Klecks hinüber.
"Du bist doch gar kein Blatt, wie die in unserem Garten."
"Ja", sagte der gelbe Klecks, "aber wenn du die Schere nimmst und mich
ausschneidest damit ich wie ein Blatt aussehe, was der Mönch sicherlich
auch nicht bemerken wird, dann wird das sicherlich auch keinem der
anderen Blätter in deinem Garten auffallen und ich kann mit ihnen
spielen".
"Aber dann habe ich ein Loch in meinem Bild", antwortet Philipp. "Hör zu
gelber Klecks, es ist jetzt sowieso zu spät, denn seit heute Abend
schneit es. Du konntest es ja auch nicht sehen, denn die Vorhänge haben
dir den Blick nach draußen verwehrt. Es gibt keine Blätter mehr, die mit
dem Wind umherspringen. Die Schneeflocken, die vom Himmel fallen,
bedecken alles mit einem weißen Teppich. Du kannst nicht mehr mit den
anderen Blättern spielen, sie haben sich alle unter dem Schnee
versteckt."
Der gelbe Klecks begann zu weinen und war sehr traurig. Philipp sah, wie
die gelbe Farbe - also das Heu - der gelbe Klecks - vom Wagen des Mönchs
lief und auf den Steinboden in den Schlosshof tropfte.
Morgen ist Weihnachten, da darf niemand traurig sein, dachte Philipp.
Er überlegte einen Augenblick lang, danach nahm er einen kleinen Becher
von seinem Tisch in die Hand und hielt ihn unter den Wagen. Als der
Klecks mit dem Weinen fertig war und der Wagen von dem Mönch ohne Heu im
Hof des Schlosses stand, stellte er den Becher zur Seite.
"Hört zu", sagte er zu den gelben Tropfen die sich in dem Becher
gesammelt hatten, "ich werde jetzt einen Kühlschrank malen, in den
stelle ich euch so lange hinein bis ihr zu Eis gefroren seid. Die gelben
Tropfen staunten. Gesagt, getan. Er malte einen Kühlschrank mitten in
den Schlosshof und stellte den Becher mit den Tropfen hinein. Der König
und die Königin wunderten sich und der Mönch lief ganz aufgeregt durch
den Hof und suchte sein Heu. In der Zwischenzeit malte er auf einem
neuen Blatt in seinem Zeichenblock einen großen Schneemann. Einen
Schneemann mit einem schwarzen Hut, Augen, Mund und Armen, mit bunten
Knöpfen und einem Besen. Drum herum viel Schnee und viele spielende
Kinder. Philipp legte danach das Bild zur Seite und ließ es trocknen.
Inzwischen waren auch die Tropfen in seinem Kühlschrank zu Eis gefroren.
Philipp nahm den Becher heraus, drehte ihn um und setzte die gelben
Eistropfen die zu einer Scheibe gefroren waren dem Schneemann als Nase
ins Gesicht. Die Kinder hörten auf, wild und durcheinander, um den
Schneemann zu laufen. Die gelbe Nase freute sich. Endlich nicht mehr
allein. Philipp sah gespannt zu, wie die Kinder staunend vor dem
Schneemann mit der gelben Nase stehen blieben. So etwas hatten sie noch
nie zuvor gesehen. Er sah den Kindern noch eine Weile zu, wie sie wieder
tanzten, lachten und umher sprangen. Als es dann auch noch anfing zu
schneien war die gelbe Nase, das ehemalige Heu, sehr glücklich. Philipp
sah noch eine Weile aus dem Fenster, wo es auch schneite, bevor er sich
in sein Bett legte und von vielen Schneemännern mit gelben Nasen träumte
die alle glücklich waren.
Am nächsten Morgen wachte er spät auf. Es war der 24. Dezember,
Weihnachten. Über Nacht entstand überall eine zauberhaft weiße
Winterlandschaft. Er sprang aus seinem Bett und eilte an seinen
Maltisch um zu sehen, wie es dem Schneemann ging. Der Schneemann mit der
gelben Nase aber, war nicht mehr da. Das Blatt war weiß. Auch die Kinder
waren verschwunden. Hatte er heute Nacht nur geträumt! Er öffnete sein
Fenster und sah hinaus. "Da ist er ja", rief er ganz laut.
Und tatsächlich, auf der Wiese spielten Kinder und mitten drin stand
sein Schneemann, der mit der gelben Nase. Philipp war glücklich und
freute sich schon auf den Abend, auf den bunt geschmückten Tannenbaum,
auf das Christkind und die Geschenke. Denn brav war er ja gewesen.
Zumindest einmal ganz bestimmt! Er hatte einen traurigen gelben Klecks
in eine Nase verwandelt und eine Freude bereitet.
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