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Der Eispalast

Von Britta Dubber


Traurig blickte Tia aus dem Fenster. Mit dem Zeigefinger zog sie kleine Linien an der Fensterscheibe entlang.
So sehr hatte sie gehofft, dass es dieses Jahr an Weihnachten schneien würde, doch es regnete lediglich.
"Nimm die Finger von der Scheibe! Wie oft soll ich dir das noch sagen? Denkst du ich habe an Heiligabend nicht schon genug um die Ohren?!"
Ohne sich nach ihrer Mutter umzudrehen, nahm sie ihre Hand herunter.
Tia saß im Schneidersitz vor der Terrassentür. Hier saß sie am liebsten, denn normalerweise sah man sie hier nicht. Normalerweise versperrte die Essecke den Blick.
Aber heute war Heiligabend und ihre Mutter hatte die Essecke umgestellt, weil abends viel Besuch kommen sollte.
Die Großeltern kamen jedes Jahr, aber dieses mal hatten sich auch Tante Rita und Onkel Martin mit den drei Kindern angemeldet.
Tia konnte ihre Tante gut leiden. Rita konnte unheimlich viele Witze erzählen, sie lachte viel und gerne und mit ihren Geschenke traf sie auch immer genau ins Schwarze.
Sie beneidete ihre Cousins, dass sie bei ihr leben durften. Wenn Tia es sich hätte aussuchen dürfen, so wäre sie auch zu ihrer Tante gezogen.
Ihrer Mutter hatte sie das natürlich nicht gesagt. Sie sprachen sowieso nur wenig miteinander, und wenn, dann wurde Tia meistens angeschrien.
Es war nicht immer so gewesen. Früher war sie ganz anders gewesen. Fast so wie Tante Rita. Doch dann hatte ihr Vater einfach die Familie verlassen und ihre Mutter war immer mehr verbittert.
Mit jedem weiteren Tag , den sie alleine war, wurde sie ungeduldiger und gereizter.
Recht machen konnte Tia ihr es schon lange nicht mehr.
"Benimm dich nicht wie ein Baby! Als ich zehn war, musste ich mit ganz anderen Problemen fertig werden. Mein Vater war gerade gestorben und meine Schwester war von zu Hause weggelaufen", hatte ihre Mutter vor kurzem gesagt, als Tia weinend von der Schule nach Hause gekommen war, weil alle Kinder als Hausaufgabe einen Aufsatz über ihre Väter schreiben sollten.
"Du könntest mir ruhig helfen, anstatt wie eine Bekloppte aus dem Fenster zu starren", rief ihre Mutter aus der Küche.
Stillschweigend stand Tia auf und ging in die Küche.
Ihre Mutter schälte gerade die Kartoffeln für den Salat. Als sie Tia sah, schob sie ihr die Schüssel mit den Kartoffeln zu und drückte ihr das Schälmesser in die Hand.
"Aber schneide ja die schlechten Stellen raus."
"Ja, mach ich."
Während Tia Kartoffeln schälte, fing ihre Mutter an die Geschirrspülmaschine auszuräumen.
"Mama, warum haben wir eigentlich keinen Weihnachtsbaum?"
Als sie ihre Mutter schnauben hörte, bereute sie schon, die Frage gestellt zu haben.
"Und wer soll den holen? Wer soll den ins Haus tragen? Wer soll ihn nach den Feiertagen wieder wegbringen?"
"Lisa aus meiner Klasse...", begann Tia, doch dann besann sie sich und beschloss das Thema nicht weiter zu diskutieren.
"Ist nicht so wichtig", fügte sie kleinlaut hinzu.
Ihre Mutter, die gerade mit nur einer Hand einen Stapel Teller zum Schrank balancierte, hielt inne, stellte die Teller auf die Anrichte und drehte sich zu ihrer Tochter um.
"Doch, doch. Du hast damit angefangen, also sag was zu sagen hast."
Tia, den Blick starr auf die letzte noch zu schälende Kartoffel gerichtet, umklammerte das Schälmesser so fest, dass es fast in ihrer Faust verschwand.
"Die haben auch keinen Vater und trotzdem einen Baum. Einen künstlichen. Den kann man jedes Jahr wiederverwenden und er sieht total echt aus, finde ich."
"Nun, wenn dir ein Baum so wichtig ist, dann frag doch, ob du bei denen Weihnachten verbringen kannst", sagte ihre Mutter, während sie die Teller in den Schrank einräumte.
"Aber... so meinte ich das doch gar nicht."
Doch ihre Mutter ignorierte jegliche weiteren Einwände, ebenso die Tränen, die sich ihren Weg über Tias Wangen bahnten.
"Bist du mit den Kartoffeln fertig? Dann kannst du im Wohnzimmer anfangen Staub zu wischen."
Wortlos gehorchte Tia, nahm sich ein Tuch aus der obersten Küchenschublade und begann die Wohnzimmervitrine zu entstauben.
Am späten Nachmittag war das Haus blitzblank und der Esszimmertisch gedeckt.
Die Lichterkette am Wohnzimmerfenster war das Einzige, was an diesem Haus daran erinnerte, dass Weihnachten war.
Tia hatte sich ein blaues Kleid angezogen und sich Zöpfe gemacht und auch ihre Mutter hatte sich umgezogen. Sie trug statt Jeans und Pulli nun eine rote Seidenbluse und eine schwarze Stoffhose.
Pünktlich um sechs Uhr, klingelten dann die Großeltern an der Tür, bepackt mit etlichen Tüten und Kartons.
Ein paar Minuten später folgten Rita mit Martin mit den Kindern.
Billy, der älteste, war elf, Paul war neun und Finn war gerade fünf geworden.
Tia fand Jungs normalerweise doof, aber mit Billy verstand sie sich ganz gut. Er brachte immer seinen Gameboy mit wenn er kam, und er ließ Tia sogar mitspielen.
Dieses Mal kam er ohne Gameboy.
"Finn hat ihn kaputt gemacht", sagte er, wobei er seinem Bruder einen leichten Schubs gab. Dieser fing daraufhin sofort an zu weinen, was sich bald in hysterisches Schreien verwandelte.
"Ich hätte ihm schon längst eine geknallt. Unmöglich sich bei anderen Leuten so zu benehmen", sagte Tias Mutter, als Rita den Kleinen auf den Arm nahm und versuchte ihn zu beruhigen.
"Eure Kinder sind total verzogen!"
Nachdem sich Finn beruhigt hatte, setzten sich alle an den Tisch und begannen zu essen.
"Wann gibbs Geschenke?", fragte Finn.
"Nach dem Essen", sagte Tias Mutter. "Und wenn du nicht brav bist, gibt es keine."
"Elena!", fuhr Rita ihre Schwester an.
"Geht das jetzt schon wieder los mit euch beiden?", fragte Martin.
"Warum könnt ihr beiden euch nicht einmal an Weihnachten vertragen?", fragte Tias Großmutter.
"Frag sie", kam es prompt von Rita zurück, und sie zeigte dabei mit der Gabel auf ihre Schwester.
"Haltet die Klappe und esst."
Tia erschrak. So hatte sie ihren Großvater noch nie reden gehört. Sie war sicher, dass ihre Mutter wütend werden würde und anfangen würde zu schreien, doch sie verzog lediglich etwas die Mundwinkel nach unten und goss sich noch ein Glas Wein ein.
"Ich dachte du hättest aufgehört", meinte Rita.
"Es ist Weihnachten. Darf ich noch nicht einmal an Weihnachten ein Glas Wein trinken, ohne gleich als süchtig hingestellt zu werden?", fauchte Tias Mutter zurück.
"Es ist bereits dein drittes Glas. Wer weiß wie viel du getrunken hast, bevor wir gekommen sind. Und du weißt genau, dass du gar nichts mehr trinken darfst."
"Muss das jetzt sein?", fragte Martin barsch.
"Du weißt, dass du damals fast das Sorgerecht verloren hättest. Willst du, dass man dir Tia wegnimmt?"
Tia riss die Augen weit auf.
"Wohin wegnehmen?", fragte sie ängstlich.
"Das muss doch jetzt nicht sein. Nicht heute", rief die Großmutter dazwischen.
"Natürlich macht die gute Rita alles richtig mit ihren Kindern. Ihr ältester ist auf einer Förderschule, weil er weder richtig lesen noch schreiben kann, der andere ist auch nicht viel besser und musste die zweite Klasse wiederholen. Und der Jüngste ist eine Ausgeburt an Hysterie."
"Elena!", schrie Rita und stand vom Tisch auf.
"Okay, Kinder, ihr geht besser nach oben in Tias Zimmer, während die Erwachsenen sich hier unterhalten", sagte die Großmutter.
"Aber ich will meine Geschenke", maulte Finn, während Billy ihn bei der Hand nahm und aus dem Zimmer führte. Paul trottete wortlos nebenher, nur Tia blieb am Tisch sitzen.
"Wohin wegbringen?", fragte sie erneut.
"Geh nach oben!", befahl Rita.
"Du hast ihr gar nichts zu sagen!", schrie Tias Mutter plötzlich.
"Bald hast du ihr auch nichts mehr zu sagen. Wenn ich dem Jugendamt mitteile, dass du wieder trinkst, kommt sie weg."
"Aber wohin denn?", fragte Tia wieder und begann zu weinen.
"Schatz, nimm ein paar von den Geschenken mit und geh zu den Jungs nach oben. Alles wird gut werden, versprochen. Eure Geschenke sind in der roten Tüte", sagte Tias Großmutter und strich ihr sanft über die Wange.
Unsicher blickte Tia ihre Mutter an, aber als die nichts sagte, stand sie auf, nahm die rote Tüte vom Sofa und lief nach oben.
Die Jungs hatten sich auf Tias Bett gesetzt und blätterten in Comic-Heften.
"Warum ist meine Mama so sauer auf deine Mama?" fragte Billy, als Tia die Geschenke aus der Tüte nahm.
Sie zuckte lediglich mit den Schultern und sah alle Namensschilder durch, bis sie ihr Geschenk gefunden hatte.
Ein kleines eckiges Paket, eingepackt in blauem Geschenkpapier und einer roten Schleife.
Während sie es öffnete stürzten sich die Jungs auf ihre Geschenke.
"Wow, ein Rennauto! Cool!", rief Paul und hielt das runde Fahrzeug hoch, damit es alle sehen konnten.
Tia hatte Mühe ihr Geschenk zu öffnen. Ihre Hände zitterten. Aber nicht wie sonst vor Aufregung, sondern aus Angst.
Immer wieder ging ihr das Wort "wegkommen" durch den Kopf.
"Was meinte deine Mutter, als sie sagte, das ich wegkommen würde?"
"Ich glaube", meinte Billy, "dann kommt das Jugendamt und steckt dich in ein Heim."
Tia ließ vor Schreck ihr halbgeöffnete Geschenk fallen.
"Wirklich? Aber ich will nicht in ein Heim. Kann ich nicht zu euch?"
Billy schüttelte den Kopf.
"Wo sollst du schlafen. Wir haben kein Zimmer für dich. Außerdem habe ich Mama mal sagen hören, dass sie dich nicht will."
Tia kniff die Augen zusammen und starrte Billy an.
Paul und Finn ließen ihre Autos durch das Zimmer rasen und machten dazu Motorgeräusche.
"Wann hat sie das denn gesagt?"
"Gestern. Da hat sie gesagt, dass sie lieber zehn Kinder aus Tibet adoptieren würde, als die Tochter ihrer Schwester. Sie dachte ich höre es nicht, weil ich Kopfhörer aufhatte, aber ich hatte gar keine Kassette im Walkman."
Mit ganzer Kraft riss Tia das Geschenkpapier ab und zum Vorschein kam ein Pappkarton. Als sie den Deckel öffnete, fand sie darin den Stoffhund, den sie sich seit langem gewünscht hatte.
Doch statt sich zu freuen, kullerten erneut Tränen über ihr Gesicht.
Plötzlich wurde die Kinderzimmertür geöffnet und die Großmutter steckte den Kopf herein.
"Tia mein Liebes, pack ein paar Sachen ein. Du kommst ein paar Tage zu uns. Und ihr drei geht runter. Eure Eltern wollen nach Hause."
Als Tia alleine in ihrem Zimmer war, legte sie sich auf ihr Bett und begrub ihr Gesicht unter dem Kissen. Leise Schluchzer entfuhren ihrer Kehle und sie bebte am ganzen Körper, als ob sie von leichten Stromschlägen durchzogen wurde.
Nach einer Weile, als alle Tränen versiegt waren, kam ihr ein Gedanke. Konnte es irgendwo auf der Welt einen kühleren und bedrückteren Ort geben, als diesen hier?


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