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Eine kleine Weihnachtsgeschichte
Von Florian Scheibe
Es gibt nur wenige Tage in meinem Leben, die sich so nachhaltig in meine Erinnerung eingebrannt haben wie der 24. Dezember 1999. Heiligabend. Die letzte Christgeburt im alten Jahrtausend. Wie jedes Jahr um die Weihnachtszeit war ich in meiner Herkunftsstadt München. München - mein Synonym für ödipale Verstrickungen, unaufgearbeitete Neurosen, verdrängte Kindheitserlebnisse, zwei verpatzte Führerscheinprüfungen, Schule, Drogen und Depressionen. Vor allem aber steht München für die große unglückliche Liebe meines
Lebens, meinen Herzschmerz, meine Seelenqual, mein Martyrium - kurz für Sarah, die Frau derentwegen ich das pochende Zentrum der bayerischen Landeshauptstadt verlassen habe, mit dem festen Vorsatz mir das Leben zu nehmen, ins regnerische Hamburg gezogen bin. Dass es zu diesem letzten, verzweifelten Schritt dann doch nicht gekommen ist, lag einerseits an meiner Feigheit, andererseits daran, dass meine Liebe, kaum war ich weg, aus unerfindlichen Gründen erwidert wurde.
Inzwischen waren Sarah und ich bereits seit fünf Jahren zusammen und der einzige Mangel an unserer Beziehung war, dass wir nun Hunderte von Kilometern voneinander entfernt lebten und uns nur viel zu selten sehen konnten. Noch schwieriger wurde die Situation dadurch, dass wir, wenn wir uns sahen, fast ausschließlich darüber diskutierten, wer von uns beiden wann, wie und auf welche Weise in die Stadt des anderen ziehen würde, damit wir endlich Kinder kriegen, heiraten oder zumindest eine gemeinsame Wohnung beziehen
konnten. Unsere Fronten in der Städtefrage waren allerdings inzwischen völlig verhärtet: Sarah wollte auf keinen Fall nach Hamburg und ich wollte unter gar keinen Umständen wieder nach München, zu all meinen unglücklichen Erinnerungen zurück.
Da wir beide wussten, dass es auf Dauer so nicht weitergehen konnte, hatten wir uns für das Weihnachtsfest 1999 etwas ganz Besonderes vorgenommen: An diesem Heiligabend würden wir vor unseren Familien endlich ganz offiziell unsere Verlobung bekannt geben und uns mit dieser Ankündigung selbst so unter Druck setzen, dass wir dazu gezwungen wären, in den ersten Wochen des Neuen Jahres tatsächlich eine Entscheidung zu treffen. Unter dem Vorwand, dass es doch schön wäre, einmal gemeinsam Weihnachten zu feiern, schafften
wir es, unsere Eltern davon zu überzeugen, an diesem Heiligabend eine große Familienzusammenführung vorzunehmen. Alles lief wie geplant: In dem geräumigen Wohnzimmer von Sarahs Eltern wurde eine riesige, festliche Tafel aufgebaut, unsere Mütter gründeten eine Kochgemeinschaft und unsere Väter saßen friedlich nebeneinander und unterhielten sich über Fußball. Zur Bescherung sollten dann noch diverse Omas, Opas, mehrere Tanten und Onkels hinzustoßen und kurz nach der Weihnachtsgeschichte wollten Sarah und ich schließlich
feierlich unsere Verlobung bekannt geben.
Zwei riesige Gänse schmorten bereits duftend im Backofen und die Knödelmasse lag knetbereit auf der Anrichte, als wir uns am späten Nachmittag noch einmal kurz von unseren Eltern für einen kleinen Spaziergang abmeldeten. Wir zogen unsere dicken Wintermäntel an, wickelten unsere Hälse in einen langen Schal und schlenderten Arm in Arm von Bogenhausen Richtung Innenstadt.
Nachdem wir ein wenig geschlendert waren, standen wir schließlich auf der weihnachtlich geleckten Maximilianstraße und betrachteten die vielen Tannen, Taxis, Juwelen, Pelzmäntel, Lichterketten und dezent ausgeleuchteten Schaufenster. Ein christlich-friedliches Nebeneinander von Mensch und zivilisierter Natur. Einzig der Schnee fehlte zur vollends perfekten Inszenierung. In Negation zu dieser sanft vor sich hin wabernden Gemütlichkeit, begannen wir uns auf einmal zu streiten. Der Streit kam ganz schnell und plötzlich.
Aus dem Nichts. Wir hatten vorher wieder einmal unsere Städtefrage diskutiert und nun nahm ich den Ausblick auf die Hauptschlagader der Münchner Dekadenz zum Anlass so etwas zu sagen wie: "Schau dir nur diese Scheißstraße an" oder "Ich könnte hier nie wieder leben" oder "Mein größter Traum wäre es, mich selber im Hotel Vier Jahreszeiten in die Luft zu sprengen". Was auch immer ich gesagt habe, Sarahs Reaktion war vorauszusehen: "Jedes mal wenn wir uns hier treffen, wendest du
deine gesamte Energie dafür auf über diese Stadt herzuziehen. Es gibt auch wunderschöne Ecken in München, die willst du nur nicht sehen..." Das war mein Stichwort. "Was für Ecken meinst du denn, das Schwabinger Krankenhaus, das Siegestor, die BMW-Werke, die neue Hypo-Bank..." Weiter kam ich nicht - "Mein Gott, bist du ein arrogantes Arschloch." Mit diesen Worten drehte sich Sarah unter den entsetzten Blicken einer mit Geschenken beladenen Kleinfamilie um und überquerte die Straße. Ich
lief hinter ihr her, versuchte irgendwie einzulenken, doch es war zu spät. "Les jeus sont fait. Rien ne va plus." Streitend bewegten wir uns - und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend - auf die Bayerische Staatskanzlei zu. Dort angelangt, lehnte ich mich genervt mit dem Rücken an das pompöse Bauwerk, ohne mir darüber bewusst zu sein, wo wir uns gerade aufhielten, während Sarah wild gestikulierend auf mich einredete. Ab jetzt ging alles ganz schnell: Zwei Autoscheinwerfer, Polizei. Fenster runter.
Frage: "Geht's Ihnen gut". Antwort in der
Hocke: "Ja, warum?". Frage: "Was machen Sie hier?" Antwort Sarah: "Wir streiten uns, ist das verboten?" Ich, verärgert über die Frage und noch verärgerter über den Einblick in unseren privaten Streit: "Was geht Sie das überhaupt an, was wir hier machen?!" Die Antwort kam prompt: Zwei Autotüren fliegen auf. "Personalienkontrolle". Widerwillig zücke ich meinen Ausweis. Sarah hat keinen Ausweis und weigert sich ihre Personalien anzugeben. "So, dann kommen Sie
eben mit auf die Wache." Unsere Aggressionsprojektion hat in der Bayerischen Staatsgewalt eine perfekte Fläche gefunden. Antwort Sarah: "Ich denke überhaupt nicht daran." Der blonde Beamte Nr. 1 packt Sarah ohne Vorwarnung und zerrt sie zum Auto. Der dunkelhaarige Beamte Nr. 2 steht mir gegenüber und sagt: "Hau ab, sonst kriegst du Ärger." Ich denke nicht daran. Ich denke auch nicht mehr Weihnachten. Ich denke an Bruce Lee, Chuck Norris und meinen weißen Karategürtel. Während Sarah wild
um sich schlägt, packe ich den Beamten Nr. 2 an der Jacke und versuche ihn zur Seite zu drängen. Sarah liegt, nachdem sie bereits auf die Kühlerhaube gedrückt worden war, inzwischen am Boden. Die freistaatliche Exekutive kniet auf ihrem Rücken und legt ihr Handschellen an. Jetzt hält mich nichts mehr. Ich gebe meinem Gegenüber einen kräftigen Stoß und stürze mich brüllend und in wilder Raserei auf seinen Kollegen um ihm sein verdammtes Genick zu brechen. Doch weit komme ich bei dem Versuch nicht. Plötzlich sind
sie beide über mir. Griff an der Pistole, die andere Hand zur schlagbereiten Faust geballt. Handschellen. Waffensuche, rein in den Dienstwagen. Meine Lippe blutet. Sarah sitzt fluchend und weinend neben mir, ich finde allmählich meine Beherrschung wieder. Bonnie und Clyde - unsere Liebe macht uns stark. Wir fahren durch die leeren Straßen. Das Adrenalin pocht mir immer noch in den Schläfen. Einen kurzen Augenblick denke ich an unsere Eltern, die jetzt bestimmt schon den ganzen Omas, Opas, Onkels und Tanten aus
ihren Mänteln geholfen haben und wahrscheinlich gerade im
Augenblick die beiden dicken braungegarten Gänse aus dem Ofen herausziehen. Aber noch gab es keinen Grund zur Sorge: Sobald wir auf dem Revier wären, würden sie unsere Personalien aufnehmen, eine Anzeige schreiben und uns dann wieder gehen lassen.
Mit diesem Gefühl der Sicherheit betrete ich die Wache: Sie ist fast leer, in der Ecke steht ein kleiner, lieblos geschmückter Weihnachtsbaum, aus dem Radio dudelt ein Weihnachtslied. Ich werfe einen Blick in die Runde, setze ein arrogantes Grinsen auf und sage: "Frohe Weihnachten allerseits, auch wenn es wahrscheinlich eher traurig ist, so ganz ohne Familie..." Das reicht. Ein Beamter, der aussieht wie eine Mischung aus Jean-Claude Van Damme und Baldur von Schirach packt mich, verdreht mir meine immer
noch behandschellten Arme auf dem Rücken und schleift mich zu einer Zelle. Währendessen zischt er mir zu: "Noch ein Wort und ich breche dir sämtliche Knochen." Ich zweifle keine Sekunde daran und bekomme noch mit wie Sarah, die lautstark protestierend gefordert hat, dass sie sofort telefonieren will, ebenfalls von zwei Beamten abgeführt wird.
Und dann stehe ich auf einmal alleine in der Zelle. Ich habe unzählige dieser amerikanischen Gefängnisfilme gesehen. Allen voran 'Alcatraz'. Filme helfen mir meistens wenn ich nicht mehr weiter weiß. Also cool bleiben. Im Kreis laufen und cool bleiben. Während ich so im Kreis laufe und cool bin, fallen mir die unzähligen roten Flecken auf dem Zellenboden auf. Erst bei der fünften Runde wird mir klar, dass es sich dabei um Blut handelt. Blut von Pennern, Ausländern, Linken, Blut für die Freiheit, Blut, vergossen
im Kampf gegen den Faschismus. Meine Coolness weicht der Angst. Man kennt ja diese Geschichten. "Der Festgenommene hat sich seine Verletzungen dabei zugezogen, als er über die Türschwelle der Wache stolperte." Dass es nur schwer möglich ist sich Knochen- Rippen- Nasenbein- und Schädelbasisbrüche oder innere Blutungen beim Stolpern über eine Schwelle zuzuziehen interessiert sowieso keinen. Und einen christlich-sozial gesponsorten Richter schon gleich gar nicht. Ich sitze auf der Pritsche. Starre an die
Wand. Versuche zu entspannen. Schließlich schaffe ich es, zitternd ein Kaugummi aus meiner Hosentasche zu ziehen, es auf die Pritsche zu legen, mit den Zähnen zu öffnen und mit der Zunge von dem schmutzigen Holz zu lecken. Also wenigstens noch ein wenig Anschein von Cool. Und auf einmal denke ich wieder an Weihnachten. Die Aufregung hat mein Zeitgefühl außer Kraft gesetzt. Wie lange bin ich schon in der Zelle? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Zwei Stunden? Inzwischen sitzen sie bestimmt bereits an der festlichen
Tafel. Die Gans ist angeschnitten, die Knödel dampfen und unsere Eltern und all die Omas, Opas, Tanten und Onkels machen sich fürchterliche Sorgen und vielleicht haben sie schon damit begonnen die Münchner Krankenhäuser anzurufen und... In diesem Moment erscheint ein Beamter an der Zellentür. Mir werden die Handschellen abgenommen - nicht ohne die süffisante Frage, ob ich suizidgefährdet sei. "Eigentlich nicht, aber in dieser Umgebung bin ich mir nicht so sicher.." fährt es mir durch den Kopf. Die Vernunft
siegt. Ich halte meinen Mund. Nach mindestens einer weiteren halben Stunde in der Zelle werde ich dem Protokoll übergeben. Sarah sitzt einen Beamten weiter. Keiner von uns beiden traut sich noch mal zu fragen, ob wir telefonieren dürfen. Wir wollen nur noch raus. Raus aus dem Revier, raus auf die leeren Straßen.
Nachdem uns mitgeteilt worden war, dass wir mit einer Anzeige wegen Beamtenbeleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu rechnen hatten, waren wir endlich wieder frei. Wir fielen uns die Arme und blickten einander an. Wir sahen beide so aus, als ob wir von einer Bande Neonazis überfallen worden waren: Sarahs Jacke war zerrissen, sie hatte eine Schürfwunde an der Stirn und ihre Haare waren zerzaust. Ich selbst hatte neben der aufgeplatzten Lippe eine schmerzhafte Beule am Kopf und ein aufgeschlagenes Knie.
Im Taxi warf ich einen Blick auf die Uhr. Es war inzwischen viertel nach zehn. Schließlich standen wir in der Tür Wohnungstür, unsere Eltern starrten uns mit großen Augen an. Dann folgte die Erleichterung. Die Gänse waren kalt, die Knödel aufgegessen und drei der Omas, Opas und Tanten waren bereits nach Hause gegangen. Das Weihnachtsfest würde aber bestimmt allen in nachhaltiger Erinnerung bleiben. Tatsächlich hatten unsere Eltern nämlich inzwischen nicht nur alle Krankenhäuser angerufen, sondern hatten sich
sogar mit dem Auto auf die Suche nach uns begeben.
Wir setzten uns erschöpft an die große Tafel und nachdem wir - natürlich unter Weglassung des nicht in diesem Zusammenhang nicht ganz unwichtigen Streits - in aller Ausführlichkeit unsere Geschichte erzählt hatten und die Empörung der gesamten Christkind-Runde über die Willkür der bayerischen Polizei auf unsere Seite gezogen hatten, teilten wir uns noch einen Schokoladen-Weihnachtsmann und verabschiedeten dann die restlichen Omas, Opas, Tanten und Onkels und schließlich auch meine Eltern und fielen völlig erschöpft
von den Strapazen des Abends ins Bett. Erst als ich mitten in der Nacht aufwachte, weil meine Lippe pochte, fiel mir ein, dass wir ganz vergessen hatten, unsere Verlobung anzukündigen. Ich trank einen Schluck Wasser, drehte mich um und murmelte leise vor mich hin: "Egal, dann halt nächstes Jahr..."
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