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Das Weihnachtsproblem

Eine Weihnachtsgeschichte von Anja Labussek


Es war an einem sonnigen Spätsommertag Anfang September, als sich das Weihnachtsproblem in Klaus Kloibers Leben schlich. Wie so oft tippte er lange Zahlenkolonnen in den Computer, da kam sein Kollege Peter aus der Mittagspause zurück und stellte schwungvoll eine Einkaufstüte auf seinem Schreibtisch ab.
"Ich fass es nicht!", rief Peter. "Draußen sind es fünfundzwanzig Grad, wir tragen T-Shirts und Sandalen, aber im Supermarkt gibt es schon Lebkuchen! Direkt am Eingang, ein ganzes Regal voll."
"Und - hast du welche gekauft?" Klaus blickte von seiner Tastatur hoch, leicht verärgert über die Störung.
Peter riss die Augen auf: "Bist du verrückt? Vor dem ersten Advent rühre ich kein Weihnachtsgebäck an."
Klaus nickte abwesend. Weihnachten mit seinem Drum und Dran war ihm piepegal. Ohnehin gab es nur wenige Dinge, die ihn verwundern konnten.
Hierzu zählte allerdings die Tatsache, dass er heute seine Pausenbrote zu Hause vergessen hatte, das erste Mal seit fünf Jahren. So trieb sein knurrender Magen auch ihn in den Supermarkt. Im Geiste noch bei den Bilanzzahlen, wäre Klaus beinahe gegen ein Verkaufsregal geprallt, das am Eingang stand. Er schreckte auf - und starrte in leere Regalreihen. Ob hier die Lebkuchen gelegen hatten? Nicht nur, dass im Sommer Weihnachtsgebäck angeboten wurde, es war offenbar schon in kürzester Zeit ausverkauft. Doch was kümmerte es ihn? Er würde das so genannte Fest der Liebe und der Freude sowieso verschlafen, wie in den Jahren zuvor.
Bald hatte Klaus die Lebkuchen wieder vergessen. Aber nicht nur seine Zahlenkolonnen beschäftigten ihn voll und ganz, sondern auch Alice, die er kürzlich im Schachverein kennen gelernt hatte. Sie war neu in der Stadt und hatte geschafft, was noch niemandem gelungen war: Klaus' König in nur zehn Zügen in die Knie zu zwingen. Das verlangte ihm Respekt ab. Und vom Respekt zur Zuneigung war es nur ein kleiner Schritt.
Zusammen mit Alice bummelte er eines Novembersonntags durch die Straßen der Innenstadt. Klaus hatte so lange keine Frauenhand mehr gehalten, dass er sich etwas unbeholfen vorkam, doch es fühlte sich wunderbar an. Der Nachmittag war sonnig, aber so kalt, dass sich Atemwölkchen vor ihren Gesichtern bildeten.
"Schau mal!", rief Alice und zeigte auf die Krone eines gewaltigen Alleebaumes. "Die Weihnachtsbeleuchtung ist schon angebracht."
Klaus folgte ihrem Blick, sah aber nichts als kahles Geäst, das sich dem blassblauen Winterhimmel entgegenstreckte. "Was meinst du?"
"Na, all die Glühbirnchen in den Zweigen, die bei Dunkelheit so schön leuchten." Alice runzelte die Stirn. "Brauchst du eine Brille? Oder bist du total überarbeitet? Dann wird's höchste Zeit, dass ich dich auf andere Gedanken bringe!"
Sie schmiegte sich an ihn, dabei kitzelte der Bommel ihrer Pudelmütze seine Wange. Klaus musste an sich halten, um nicht vor Glück laut zu seufzen.
Wann habe ich das letzte Mal einen Weihnachtsmarkt besucht?, fragte er sich eine Woche später. Alice, die dieses Jahr schon am Eröffnungstag dort gewesen war, erzählte ihm von bunten Holzbuden mit Glühwein und Bratwürsten, von einer Blechbläserkapelle und einem Kunsthandwerksstand, der es ihr besonders angetan hatte. "Ich habe da ein süßes Silberkettchen mit einem Engel als Anhänger gesehen", schwärmte Alice. "Beinahe wäre ich schwach geworden, aber man kann sich ja schlecht sein eigenes Weihnachtsgeschenk kaufen ..." Sie legte den Kopf schief und schaute Klaus so entwaffnend an, dass ihm klar war, was er tun musste.
An diesem Samstagvormittag herrschte ein furchtbares Gedränge. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um Einkäufe fürs Fest zu erledigen. Menschen mit geschäftigen Mienen und zahllosen Tüten quetschten sich an Klaus vorbei. Allein der Gedanke an Alice bewahrte ihn davor, sofort den Rückzug in seine Wohnung anzutreten und sich die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Nieselregen setzte ein, als er sich dem Rathausplatz näherte, wo der Weihnachtsmarkt stattfinden sollte. Klaus sah etliche Leute, die einzeln oder in Gruppen herumstanden, etwas zu betrachten schienen oder sich ihren Weg durch die Menge bahnten, aber kein einziges der typischen Holzhäuschen. "Seltsam ...", murmelte er und sprach kurzerhand eine vorbeidrängelnde junge Frau an: "Verzeihung, wo finde ich bitte den Weihnachtsmarkt?"
Die Frau starrte ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost: "Willst du mich vergackeiern, Mann? Du bist mitten drauf!" Kopfschüttelnd ließ sie ihn stehen.
Klaus rieb sich die Augen. Plötzlich begriff er: Die Lebkuchen im Supermarkt. Die Weihnachtsbeleuchtung in den Bäumen. Und nun das hier. Er musste sich an einem Laternenpfahl festklammern, da seine Beine zu versagen drohten.
"Du behauptest also, dass du nichts mehr wahrnehmen kannst, was mit Weihnachten zu tun hat?" Peter beugte sich über seinen Schreibtisch und Klaus sah, dass er nur mühsam ein Grinsen unterdrückte.
"Das behaupte ich nicht bloß, es ist so!", entgegnete Klaus mit Nachdruck.
Ob es ein Fehler gewesen war, seinen Kollegen einzuweihen?
"Hm, ich muss dir wohl glauben. Du bist viel zu phantasielos, um dir so eine verrückte Geschichte auszudenken." Peter stand auf und ging im Raum umher. "Nur eins verstehe ich nicht: Du hast doch sowieso nichts mit Weihnachten am Hut - was ist dann so schlimm an der Sache?"
"Mensch, es geht nicht um Weihnachten. Es geht um Alice!" Klaus musste schlucken. "Ich liebe sie", flüsterte er und fixierte den Gummibaum neben seinem Schreibtisch in der Hoffnung, nicht rot zu werden.
Peter stutzte, dann lachte er auf. "Wahnsinn! Da teilen wir uns seit drei Jahren ein Büro, aber nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ich dir so eine Gefühlsäußerung zugetraut."
Als Klaus pikiert schwieg, fuhr er fort: "Natürlich kann ich dir anbieten, die Kette für deine Liebste zu besorgen. Aber es ist ein Weihnachtsgeschenk. Du wirst nicht in der Lage sein, es ihr zu überreichen."
"Besten Dank - stocher' du nur schön in meiner Wunde", grollte Klaus.
"Tut mir Leid." Peter legte ihm die Hand auf die Schulter. "Weißt du, was ich glaube? Du kannst dich über Weihnachten weder freuen noch ärgern, es ist dir einfach völlig egal. Und dein Gehirn hat irgendwann gemerkt, dass alle weihnachtlichen Sinneseindrücke unwichtig für dich sind. Redundante Informationen sozusagen. Nun filtert es sie kurzerhand aus und versetzt dich in eine weihnachtslose Welt."
Klaus sah aus dem Fenster in den bleigrauen Himmel. Peters Erklärungsversuch klang reichlich abstrus. Andererseits: War nicht sein Weihnachtsproblem genauso abstrus?
"Und was kann ich tun?", wollte er wissen.
"Falls meine Vermutung stimmt, musst du dein Gehirn wieder an Weihnachten gewöhnen." Peter legte die Stirn in Falten. "Denk dran, wie du damals im Kindergarten einen unsagbar hässlichen Strohstern gebastelt hast, der deine Eltern zu Tränen gerührt hat. Wie du gierig die Reste des Plätzchenteigs aus der Rührschüssel genascht hast. Wie du alle Strophen von "Stille Nacht, Heilige Nacht" auf der Blockflöte spielen musstest, bevor du dich endlich auf die Päckchen unterm Christbaum stürzen durftest." Er hielt kurz inne. "Irgendwas in der Art wirst du doch erlebt haben, oder? Du musst so fest an Weihnachten denken, dass es weh tut!"
"Das soll helfen?", fragte Klaus skeptisch.
"Was weiß ich? Probier's aus!" Peter lachte und verließ das Büro.
Die Worte seines Kollegen gingen Klaus nicht aus dem Kopf, als er es sich nach Feierabend im Wohnzimmer gemütlich machte: "Du musst so fest an Weihnachten denken, dass es weh tut!" Nur wie? Ihm fiel die Schallplatte "Weihnachten mit dem Tölzer Knabenchor" ein, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Doch obwohl er genau wusste, an welchem Platz im Regal sie stand, konnte er sie nicht sehen, geschweige denn nehmen und auf den Plattenteller legen. "Ach, was habe ich schon zu verlieren", murmelte Klaus. Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und schloss die Augen. Um ihn herum herrschten Dunkelheit und Stille. Nichts passierte, eine halbe Ewigkeit lang.
Dann, zunächst kaum merklich, glaubte er den Geruch von Spekulatius und Gänsebraten wahrzunehmen. Mehr und mehr verstärkte er sich und lullte Klaus schließlich mit einer solchen Penetranz ein, dass ihm schwindelig wurde. Das Geläut mächtiger Glocken dröhnte in seinen Ohren, kämpfte gegen die feierlich-getragene Melodie von "White Christmas" an. Da begann auch schon ein eisiger Wind zu wehen und ihm ein Meer von Schneeflocken mitten ins Gesicht zu pusten. Ein weißbärtiger alter Mann, ganz in Rot gekleidet, erschien auf der Bildfläche, tanzte ausgelassen um einen Tannenbaum, an dem Tausende von Glühbirnchen rhythmisch blinkten, während sein rotnasiges Rentier lauthals juchzte. "Aufhören, aufhören!", wollte Klaus gerade verzweifelt rufen, als ihn ein fliegender Marzipanstollen an der Schläfe traf und er zu Boden ging.
Als er die Augen aufschlug, lag er in einem fremden Bett und blickte auf eine weiße Wand. Klaus spürte ein Pochen hinter seiner Stirn und stöhnte.
Von links schob sich Alices Kopf in sein Gesichtsfeld. "Klaus ... endlich! Ich hab' mir solche Sorgen gemacht."
Was ist mit mir?, wollte er fragen, brachte aber nur ein Krächzen zustande.
"Du liegst im Katharinen-Hospital", beantwortete Alice seine unausgesprochene Frage. "Vom Sofa bist du gefallen, du Verrückter. Und dabei so unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen, dass du dir eine Gehirnerschütterung zugezogen hast. Aber jetzt wird alles wieder gut." Sie strahlte. "Bald feiern wir richtig schön Weihnachten, nur du und ich."
Weihnachten ... Klaus' Blick wanderte zum Fenster, an dem ein goldener Stern mit der Aufschrift Merry Christmas hing. Im ersten Moment begriff er nicht, was er da sah, dann aber wurde ihm die Tragweite der Situation bewusst.
Ruckartig richtete er sich auf und schrie: "Die Kette - um Himmels willen, ich muss die Kette mit dem Engel-Anhänger besorgen!"
"He, nicht überanstrengen!" Mit sanfter Gewalt drückte Alice ihn zurück in die Kissen. "Vergiss die Kette, die ist völlig unwichtig. Wichtig ist nur, dass du bald gesund wirst." Ihre warme Hand schob sich in seine.
Klaus wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Also schloss er einfach wieder die Augen, atmete tief durch und hielt Alices Hand noch ein bisschen fester.


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