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Die Drehorgel
Eine Weihnachtsgeschichte von Doris Pällmann
Es ist kurz vor Weihnachten. Wie immer ist die Stadt hektisch, ständig werde ich angerempelt. Und wie immer regnet es. Gereizt frage ich mich, wie die Menschen auf weiße Weihnachten kommen, soweit ich mich erinnern kann, gibt es nur nasse Weihnachten.
Ich laufe über das nasse, rutschige Kopfsteinpflaster. Es ist schon dämmerig und ich muss mich beeilen. Später bekomme ich noch Besuch und ich möchte vorher schnell noch meine Wohnung aufräumen.
Mit einer Welle von Menschen lasse ich mich in das nächste Kaufhaus spülen, da werde ich wohl bekommen, was ich noch brauche. Lieder tönen aufdringlich durch das Kaufhaus, aber ich höre nicht so genau hin. In meinem dicken, grauen Mantel und Mütze auf dem Kopf stehe ich vor einer großen Tafel, die mir sagt, in welche Etage ich gehen soll. Während mir draußen gefroren hatte, fange ich im Kaufhaus an zu schwitzen. Wieder werde ich von weihnachtsgestressten Menschen zur Seite geschubst. Das Gedrängel, der warme
Mantel machen mich unruhig. Das Fest der Liebe, denke ich mir, macht eben alle etwas mehr lieblos. Die Menschen sind so beschäftigt ihre Liebe in Geschenke zu packen, dass sie keine Augen für andere Menschen mehr haben.
Das Kaufhaus ist bereits festlich geschmückt. Überall hängen Lichterketten und Weihnachtskugeln. Je kitschiger, je besser. Musik tönt aufdringlich durch das Kaufhaus, lauter fröhliche Weihnachtslieder. Fröhliche Lieder für fröhliche schöne Menschen denke ich ironisch.
Auf einmal höre ich ein mir bekanntes Musikstück. Ich stehe wie vom Donner gerührt vor der Rolltreppe und vergesse alles um mich herum. Die Zeit bleibt stehen und wie ein Stein, der von Wasser umspült steht stehe ich in einer mir fremden Welt. Aus den Boxen schallt immer noch "Guten Abend, gute Nacht" und mein Herz fängt an aufgeregt zu hämmern. Als Kind hatte ich eine kleine Drehorgel, die "Guten Abend, gute Nacht" spielte. Abends im Bett habe ich sie immer gedreht und mir etwas Musik zum
Einschlafen damit gemacht. Sehr lange hat mich diese kleine Drehorgel begleitet, bis sie in den Wirren des Erwachsenwerdens verschwand. Jeden Abend fragte ich mich, ob Gott mich auch wohl am nächsten Tag weckte, und was wohl sei, wenn er das eben nicht täte. Und immer habe ich gehofft, mich wenigstens noch von meiner Mutter verabschieden zu können.
Ich bekam die kleine Drehorgel von meinem Onkel zu Weihnachten geschenkt. Wie jedes Jahr war er da und besuchte uns. Und immer summte er eine kleine Melodie und machte die Welt etwas schöner durch seine Anwesenheit. Nichts konnte ihn davon abhalten zu kommen. Auch ich nicht, obwohl ich doch krank war. Kurz vor Weihnachten war ich ins Krankenhaus gekommen. Es nahm immer den gleichen Verlauf. Ich fing an zu brechen und hörte nicht mehr auf. Dann fuhren wir zum Kinderarzt, der aber nur traurig den Kopf schüttelte
und wir fuhren weiter ins Krankenhaus. Und obwohl ich doch schon groß war, ich war immerhin schon vier Jahre, trug meine Mutter mich durch die ewig langen Flure. Im Behandlungszimmer angekommen, wurde ich von unbarmherzigen Krankenschwestern schnell an eine Infusion angeschlossen und meine Mutter und ich zählten die vielen kleinen Tropfen, die durch den Schlauch tropften. Dann schlief ich ein. Als ich wach wurde, war meine Mutter schon gegangen und ich musste bis zum nächsten Tag auf ihren Besuch warten. Mein
Vater kam nie ins Krankenhaus. Er ekelte sich vor kranken Menschen.
Weihnachten war das Krankenhaus festlich dekoriert, vielleicht um die Menschen darin von ihrer Krankheit abzulenken.
Meine Mutter natürlich zu Besuch und eben mein Onkel. So eine Kleinigkeit wie ein Krankenhaus konnte ihn nicht abhalten. Und er brachte mir die kleine Drehorgel mit. Sie blieben eine Weile bei mir, doch dann musste meine Mutter nach Hause, wo meine Geschwister schon auf sie warteten. Lange nachdem meine Mutter und mein Onkel gegangen waren, saß ich einsam in meinem Bett und spielte die Drehorgel. So blieb mir wenigsten etwas von zu Hause.
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