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Weihnachten mit Grütze

Eine Weihnachtsgeschichte von Rainer Pick


Mit den zarten Zweigen greift es in die Äste von dem nächsten und dem von oben und von unten. Dann ist es eine Flocke. Und ganz viele Flocken sind Schnee. Wenn sie vom Himmel herab schweben, dann heißen sie Schneefall. Eigentlich hätte es doch auch Schneeschwebe heißen können? Oder Schnee- Treibe, schließlich treibt der Wind die Flocken ja überall herum. In die Augen und in den Mund, hinter den Schal am Hals, brrrr ist das kalt! Siehste, wenn nicht bloß drei Stück sondern viel, viel mehr herunter fallen, dann wird alles weiß. Die Lindenbäume auf der Straße bekommen eine Decke, damit sie nicht frieren. Für jeden Ast und jeden Zweig. Auch der kleine Hydrant an der Straße hat auf seinem roten Kopf eine weiße Mütze bekommen. Und die Rasenfläche ist nicht mehr grün, sondern eben auch weiß. Schnee ist weiß und kalt. Aber ich finde ihn prima, weil? Ja, weil dann die Schlittenfahrt anfangen kann.
Gleich nach der Schule sind Jecki und ich los gelaufen. Laut kreischen die Eisenkufen von unseren Schlitten über den Sand. Sand? Ja! Der Hausmeister hat schon gestreut, weil der Schnee außerdem auch noch glatt ist. Da kann man ausrutschen und auf den Hintern fallen. So wie Oma Krause im vergangenen Jahr. Sie fand das gar nicht lustig, denn sie fiel nicht nur auf den Hintern, sondern brach sich auch noch ein Bein dabei. Aber heute schaut sie richtig fröhlich aus ihrem Fenster. Jecki und ich sind schon weiter gelaufen. Da kann sie uns nur noch von hinten sehen. Jetzt aber hat der weiße Rasen schon Spuren. Glatte Linien, immer zwei nebeneinander und dazu kommen die Fußspuren. Ein Detektiv hätte es jetzt einfach, der könnte sehen wohin die großen und kleinen Füße laufen. Mit den Schlittenspuren vereinigen sich auch alle anderen Spuren an der Stelle, wo wir über die Straße gehen. "Brumm, brumm", die Autos schieben sich ganz langsam an uns vorbei. Beim Losfahren rutschen meistens die Räder durch, erst dann kommen sie wieder in Schwung. Erst wenn die großen, orangenen Sand- und Salzstreuer-LKW mit dem schiefen Schneeschieber vorne dran, vorbei gefahren sind, hört das Gerutsche auf der Straße auf. So nun ist die Ampel grün geworden. Wir schlittern los. Gleich drüben fängt der Park an. Und auch hier hat der Schnee alles zugedeckt.
Da ein richtiger weißer Hügel. Oben drauf wimmelt es. Viele Kinder, bunte Anoraks angezogen, sind dort hinauf gestiegen. Fast jeder hat seinen Schlitten dabei, einige auch die Eltern. Manche Papis fahren auf dem Schlitten mit. Huiih, schnell fährt der Schlitten den Hügel hinab. Das macht Spaß, auch wenn der Wind die Tränen in die Augen treibt. Unten angelangt, ist es nur ein kleiner Sandhaufen, der den Schlitten so plötzlich abgebremst hat, dass man vorne drüber rutscht und mitten im Schnee sitzt. Alle lachen. Es tut ja auch nicht weh. "Komm mit!", sagt Jecki, "Ich weiß wo wir noch viel besser rodeln können." Zusammen stampfen wir durch den Schnee, der noch immer vom Himmel fällt. Aha, Jecki geht zum Kanal. Nee, nicht vorne bei der Brücke, wo die Schwäne und anderen Wasservögel in einem Loch noch schwimmen können, viel weiter weg. Ja, da gibt es richtig hohe Ufer und wenn der Kanal zugefroren ist, dann kann man ihn mit dem Rodelschlitten ganz und gar hinüber schlittern. "So, sieh mal wie lang der Rodelweg jetzt ist." Ganz stolz zeigt Jecki den Uferberg. Als ob er ihn selber dort hin geschoben hätte. Nun, in Ordnung, es ist seine Idee gewesen. Meine Idee ist, wir fahren um die Wette. "Los Jecki, oben an einer Linie nebeneinander aufstellen und dann zusammen los fahren, wer am weitesten kommt, der hat gewonnen." Jecki nickt und wir stellen die beiden Schlitten nebeneinander an den Startplatz. Bei "Los!" springen wir beide auf die Schlitten, geben ihnen einen Schubs und dann gehts den Hügel runter, gleich auf das Eis vom Kanal und da schlittern unsere Schlitten ganz, ganz weit. Auf Eis rutschen die Schlitten nämlich noch besser, als auf dem Schnee. Und der Wind hat hier das Eis frei gefegt. Bis ins trockene Schilf vom anderen Ufer bin ich geschlittert. Jeckis Schlitten ist früher stehen geblieben. "Oller Schummler", ruft Jecki mir zu. "Nee, ich bin Sieger", antworte ich, dass ich mich auf meinen Schlitten gelegt habe und Jecki auf seinem gesessen hat, war eben Pech für Jecki. Auf dem Bauch herunter rodeln, macht mehr Spaß, man ist so dicht über dem Schnee, dass man ihn fast riechen kann und der Berg flitzt viel schneller unter einem weg. Beim nächsten Schlittenrennen liegen wir dann beide auf dem Bauch, fast nebeneinander flitzen wir den Berg hinab, auf dem Eis klappern die Schlitten ein bisschen, das Eis ist eben härter als der Schnee.
"Schnurrrff", was ist denn das? Ein Schlittschuhläufer kommt den Kanal herunter gefahren. An unser Bahn hat er gebremst und guckt erst mal, ob nicht vielleicht noch ein Schlitten herunter kommt. Er ist schon ein alter Mensch, der Schlittschuhläufer. Seine Haare, die unter dem Pudel herausschauen sind grau und über dem roten Schal, den er sich um den Hals gewickelt hat, wedeln graue Bartfussel. Am interessanten sind seine Schlittschuhe. Nicht solche, die direkt an Schuhen angeschraubt sind, sondern die sind an die dicken Winterstiefeln angeklemmt. Außerdem sind sie vorne nicht spitz, sondern rund. Wie ein Ringelschwanz, nur nach vorne gedreht. Er hat gemerkt, dass Jecki und ich seine Schlittschuhe anstarren. "Na Jungs, da staunt ihr wohl?" und "Schlittenfahren macht Spaß, nicht wahr!?", sagt er und wir nicken nur. "Warum hast du denn so runde, komische Schlittschuhe?", fragt Jecki ihn nun. Ich nicke nur, das möchte ich auch gerne wissen. "Ja, die sind schon uralt und ich habe sie von meinem Vater bekommen, als ich so ein Junge war, wie ihr", der lächelt uns jetzt ganz schlau an. "Man nennt sie hier HOLLAENDER." Holländer? "Aber", sag ich jetzt, "Holländer sind doch die Leute, die in Holland wohnen, da ist Niederlande und so. Gleich hinter Deutschland .." "Ja, da hast du Recht, aber diese Schlittschuhe heißen auch so, vielleicht haben sie die Holländer erfunden? Kann ich mich mal mit zu dir auf den Schlitten setzen?", fragt er dann. Ich rutsche ein Stückchen zur Seite, dann passt er auch auf den Schlitten. Wir klönen, würde mein Papi sagen. Also Klönen ist Quatschen, Erzählen und so.
Der Schlittschuhmensch wohnt schon viele Jahre hier. Erst hat er in der Stadt gewohnt und dann ist er aufs Dorf gezogen, Stolpe liegt ein Stückchen weiter den Kanal hinunter, da wohnt er jetzt und Stolpe hat einen "Grützpott", so jedenfalls nennen die Leute in unserer Gegend den Rest von dem alten Turm einer Burg, die irgendwelche Grafen vor ganz vielen Jahren dahin bauen ließen. Oben auf dem Berg, der über das ganze Dorf rübersehen kann, da muss sie gestanden haben, die Burg. Im Sommer waren wir dort gewesen und haben uns den alten Turm genau angeschaut. Der Schlittschuhläufer weiß noch mehr über den Grützpott zu erzählen. Es war einmal ein Raubritter, also ein adliger Klauer, der auf dieser Burg wohnte. Tiloff oder so ähnlich war sein Name. Der hat die reichen Kaufleute, die in der Gegend eine Straße benutzen, ausgeraubt und manchmal auch umgebracht. Bloß eines Tages war ein Kaufmann schlauer. Der Thilo hat den verfolgt, aber der Kaufmann nahm seine Pistole und hat ihn erschossen. Als nun der Raubritter tot war, da wollten die Leute, die im Dorf wohnten, das ganze Rauben beenden. Die Bauern, vielleicht sogar ein Lehrer und ganz bestimmt der Dorfschmied. Sie stürmten die Burg und haben sie wohl auch kaputt gemacht. Am Schluss waren die Leute vom Raubritter alle im hohen Turm eingeschlossen und haben sich verteidigt. Alles Mögliche haben sie auf die unten lauernden Leute geworfen und gegossen. Große Steine, heiß gemachtes Pech, so etwas Ähnliches wie Asphalt und Teer, prasselte und klatschte auf die Leute herunter, die mit Leitern auf den Turm kommen wollten, um die Bösewichte zu vertreiben. Als sie keine Steine und kein Pech mehr hatten, stand gerade der Dorfschmied auf der Leiter und der bekam dann eine heiße Ladung Grützbrei auf den Kopf gegossen. Das hat dem Dorfschmied überhaupt nicht gefallen und deswegen soll er laut gebrüllt haben :"Den Grützpott wärn wir bald utschüre!" Der war wohl richtig wütend geworden, denn das heißt heute : "Den Grütztopf werden wir bald ausscheuern", und gemeint ist, dass die Bösewichte auf der Burg bald keinen Grützbrei mehr für sich kochen werden. Na ja, so ein gekochter Grützbrei auf dem Kopf ist nicht sehr angenehm, kann ich mir vorstellen. Jedenfalls hatten die Raubritter nun verloren, das Leben und die Burg. Übrig geblieben ist nur der Rest vom Turm und der neue Name: Grützpott.
War ja interessant, was der Mann erzählt hat, aber jetzt wird mein Hintern kalt. Auch Jecki und der Mann stehen wieder auf. "Na, dann wollen wir uns mal wieder bewegen", sagt er und reibt sich die Hände. "Ja, dann wird uns wieder wärmer." Jecki hopst auf dem Eis und klatscht die Handschuhe vor dem Bauch zusammen. "Nun, dann machts gut und schöne Weihnachtszeit euch beiden", der Schlittschuhmann schlittert wieder in Richtung Stolpe. Jecki und ich laufen noch einmal auf den Uferberg. Ein letztes Mal wollen wir herunter rodeln, dann gehts nach Hause. Bei uns gibt es heute Abend Bratäpfel. Kennt ihr doch bestimmt. Die richtigen Äpfel, also echte vom Baum, konnte man früher in die Röhre vom Kohleherd oder auch Kohleofen legen. Da sind sie wärmer und wärmer geworden, ihre Farben verändern sich, alles was vorher rot, gelb und grün war, wird braun gebacken, bis sie heiß und duftend herausgeholt wurden. Ein bisschen Zucker darüber gestreut und dann verschnabulieren, hmmh , das schmeckt. In unserer Wohnung haben wir keine Kohlesachen, also keinen Kohleofen, die Wärme kommt über eine dicke Leitung, in der Küche steht auch kein Kohleherd mehr, sondern einer mit 'ner heißen Platte , deswegen kommen die Äpfel in den Backofen. Da wo sonst eine Ente oder ein anderer Braten schmort, da brutzeln sie. Die ganze Wohnung riecht dann danach und schmecken, ja schmecken wird mir mein Bratapfel ganz bestimmt.


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