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Das Christkind hat gelernt

Eine Weihnachtsgeschichte von Angela Fischer


Früher, als ich noch klein war, wie wunderbar hat sich das Christkind da um mich gekümmert. Es brachte uns einen strahlenden Weihnachtsbaum und die Geschenke. Ganz, ganz viele, es müssen bestimmt drei oder vier auf einmal gewesen sein. Der bunte Schal, den ich im Schaufenster bewundert hatte, und die Puppenstube aus Sperrholz mit den gleichen Tapeten an den Wänden, die auch in unserem warmen Wohnzimmer hingen. In der dunklen Kirche sang der Chor von der Stillen Nacht und ich fror mit dem kleinen Jesuskind.
Aber das Christkind ließ nach, in seiner Fürsorge. Als ich größer war, bekamen wir nur noch den Weihnachtsbaum aus Fichte, kleiner als der unserer Nachbarn. Die gleichen langweiligen goldenen Kugeln hingen lustlos daran und Geschenke, nun ja, alles in allem vielleicht nur zehn kleine Päckchen mit lauter albernen Dingen. Handschuhe, was sind Handschuhe für ein Geschenk und dazu ein Spiegel, aus Fliesen zusammengeklebt und offensichtliches Produkt väterlicher Werkstatt. Ein Trauerspiel.
Der Gottesdienst war meinen Eltern so wichtig, dabei sangen sie doch immer nur die gleichen Lieder, predigten von Frieden, obwohl es immer Kriege gab und wenn wir Kinder nicht still saßen, bekamen wir eine Ohrfeige als Ende der Debatte.
Je älter das Christkind wurde, umso mehr klebten auf all den wunderbaren Wünschen Preisschilder und Vernunftgrenzen. Aus dem Weihnachtstraum wurden säuberlich beschriftete Kartons: "Christbaumschmuck". Jahr für Jahr hervorgeholt und nach den kurzen Feiertagen wieder weggeräumt.
Plötzlich vermisste ich die dunkle Kirche mit der Stillen Nacht, denn die Lieder wurden neu und modern. Das Christkind räumte seinen Platz für den Weihnachtsmann, der nun den Fernsehabend gestaltete. Aus dem köstlichen Festessen entwickelten sich Abwaschberge und Kalorientabellen.
Aber jetzt will das Christkind wiederkommen. Es hat gelernt über die Zeit und die Geschenke werden wieder größer. Es brachte mir einen Brief von meiner Cousine, die ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe. Meine Nachbarin schenkte mir selbstgebackene Plätzchen und am Sonntag sang der Chor im Gottesdienst die alten Lieder.
Und Weihnachten möchte ich mit unseren Kindern Karten spielen, mein Mann wird uns trotz aller Schlankheitskuren eine Gans im Ofen brutzeln und morgens, wenn alle noch schlafen, entzünde ich die Kerzen an unserem Weihnachtsbaum. Mein Christkind hat mir eine Familie geschenkt.
Vielleicht habe ich das Glück, ganz alt zu werden. Dann bleibe ich am Heiligen Abend alleine mit meinen Erinnerungen. Ich werde Gänsebraten nicht mehr vertragen und ganz erbärmlich frieren, wenn ich in der Kirche sitze.
Eine wunderschöne Krippe werde ich aufbauen. Und wer weiß, was das Christkind bis dahin noch alles gelernt hat. Ich bin gespannt auf seine Geschenke.


Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.


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