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Die Geschichte des Weihnachtsbaumes

Eine Weihnachtsgeschichte von Stefan Wichmann


Es war im tiefsten Mittelalter, als ein heftiger Sturm über die Felder blies, so dass sich die Bäume bogen und selbst ihre letzten Blätter abwarfen. Ein Mädchen mit Namen Cyra stapfte unverdrossen durch den Schnee und schlug den Kragen ihres Mantels hoch, so dass ihr Gesicht ein wenig vor diesem scharfen Winterwind geschützt war. Sie freute sich. Heute sollte das Krippenspiel in der Kirche geprobt werden, so dass es am Weihnachtsabend aufgeführt werden konnte. Viele Gruppen hatten sich gefunden, die Texte lernten und die Bühne gestalteten, um die ganze Geschichte, angefangen vom Paradies mit der Vertreibung der ersten Menschen bis hin zu der Geburt Jesu, vorzubereiten und später aufzuführen. Die Texte mussten alle Kinder auswendig aufsagen und so hatte der Bruder mit Namen Peter dem kleinen Mädchen Cyra beim Lernen geholfen, denn Kinder durften in dieser Zeit nicht in die Schule gehen und einzig und allein die Jungen wurden von den Vätern in Lesen und Schreiben unterrichtet. Er hatte ihr geduldig immer wieder den Text vorgesagt, bis sie diesen auswendig aufsagen konnte. Sie sah bewundernd zu ihm auf, wie er da immer einen Schritt vor ihr den Weg entlang schritt und nur ab und zu nach ihr schaute, um sicherzugehen, dass er sie nicht verloren hatte.
Endlich kamen sie an der großen Kirche an. Sie legten sorgfältig ihre Mäntel über einen Stuhl in der Garderobe und schauten mit großen Augen zu dem Pfarrer und einen ganz in Schwarz gekleideten Mann, den sie noch nie gesehen hatten. Beide Männer sprachen sehr angeregt miteinander. Als die Kinder hinzutraten, beugte sich der Pfarrer freundlich zu Peter. "Guten Tag, Peter!", sagte er. "Du kümmerst dich doch um das Bühnenbild!"
Peter schaute ihn an. "Ja, und ich habe sogar eine Lösung für das Problem gefunden!"
Der Pfarrer nickte.
"Wie wollt ihr denn den Baum aus dem Paradies darstellen, wenn zu der Weihnachtszeit nur hässliche und kahle Bäume vorhanden sind. Wir müssen doch einen Baum haben, damit die erste Sünde der Menschen dargestellt werden kann. Schließlich hat Eva eine verbotene Frucht von einem Baum gepflückt."
Cyra platzte mit der Neuigkeit heraus: "Peter hat eine tolle Idee gehabt! Er schlägt eine Tanne. Die hat doch grüne Zweige und sieht so toll aus!"
Doch der Mann in der schwarzen Robe schritt energisch ein. "Immergrüne Zweige werden von den Heiden als Sitz der Götter betrachtet und als Glücksbringer an die Kranken gegeben! Ich lasse nicht zu, dass solch ein Teufelszeug..."
Der Pfarrer hob beschwichtigend die Hände, während Cyra Tränen in die Augen stiegen. Sollte die Aufführung nun ausfallen, weil der Mann glaubte, dass die Kirchengänger zu den Zweigen beten würden? Sie stampfte mit dem Fuß auf, doch Peter kam ihr zuvor und rief: "Wir werden keine Tanne nehmen, sondern einen Buchsbaum. Und außerdem wird der Baum sofort nach der Aufführung hinausgebracht!"
Der Mann in der schwarzen Robe strich sich über den Bart. Cyra drückte Peter die Daumen. Er hatte ihr so bereitwillig beim Lernen geholfen, jetzt wollte sie ihm auch helfen. Doch sie wusste nicht wie. Aufgeregt knetete sie ihre Hände.
"Wie soll denn die Frucht ausschauen?", fragte der Mann in der schwarzen Robe mit einem grimmigen Unterton.
Cyra platzte mit einer Antwort heraus. "Wir nehmen einen Apfel. Den kann ich von zu Hause mitbringen!"
So kam es, dass seit diesem Jahr für eine kurze Zeit ein grüner Baum aufgestellt werden durfte. Das Krippenspiel wurde ein voller Erfolg. Peter hatte einen Baum mit dem Pfarrer zusammen aufgestellt. Ein wunderschöner Apfel hing an einen Ast und wenige kleinere Äpfel. Die Zuschauer waren begeistert und Cyra führte ihren Auftritt mit solcher Begeisterung auf, dass diese Aufführung ein toller Erfolg wurde.
So kam es, dass es im nächsten Jahr wieder aufgeführt werden sollte. Der Baum wurde jedoch nicht nur mit einem Apfel, sondern mit mehreren Früchten geschmückt und im Jahr darauf sogar mit Papierkugeln in goldenen Farben. Bald schon gehörte ein Baum fest zu dem Krippenspiel und zu dem Weihnachtsfest. Selbst, als die Kirche reformiert wurde und weitere Glaubensgemeinschaften entstanden, wurde ein Baum aufgestellt. Die Tanne setzte sich als Baum durch und blieb auch längere Zeit in den Räumen stehen. Zwar wurde später das Weihnachtsspiel, beginnend mit dem Paradies, nicht mehr aufgeführt, doch der Baum wurde als Erinnerung an die alte Tradition mit vielen Lichtern, Früchten und Schmuck verziert. Reiche Familien stellten sich einen kleinen Baum sogar in die Stube und nicht so reiche Familien hängten sich Zweige an die Decke.


Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.


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