www.online-roman.de


  Lust am Lesen     Lust am Schreiben  




Und einmal im Jahr geschehen Wunder

Eine Weihnachtsgeschichte von Kerstin Schwarz


Sabrina, ein Mädchen von 9 Jahren, glaubte schon längst nicht mehr an den Weihnachtsmann. Sie hatte ganz andere Sorgen. Ihre Mutter war in diesem Jahr gestorben und ihr Vater stürzte sich seitdem in die Arbeit, um dem Schmerz über den Verlust seiner geliebten Frau zu entrinnen. Jeden Abend kam er später und später nach Hause. Er ließ Sabrina allein mit ihrem Schmerz. Im Herbst hatten sie eine kleinere Wohnung bezogen. Beim Umzug hatte der Vater alle Gegenstände, die ihn an seine Frau erinnerten, weggeworfen und nicht einmal ein Bild von ihr aufbewahrt. Nichts sollte mehr an sie erinnern. Die neue Gegend sollte beide ablenken, doch Sabrina fühlte sich nach dem Umzug noch einsamer als je zuvor.
Sabrina saß am Küchentisch und schaute auf den Kalender, der in der Ecke hing. Heute war der 24. Dezember.
Neben dem Kalender hing eine alte Uhr und ihre Zeiger bewegten sich auf 18:00 Uhr zu. Ob der Vater wenigstens heute pünktlich von der Arbeit kam? Heute ist doch Heiligabend. Würde sie auch an diesem Abend wieder alleine sein? Ihr Blick schweifte in Richtung Flur. Dort stand das Telefon und grinste sie an. Es schien ihr zu sagen: "Dein Vater hat dich vergessen!".
Wütend stand Sabrina auf und schlürfte zum Hörer und hielt die Muschel ans Ohr. Ein langer monotoner Ton war zu hören.
Traurig legte sie den Hörer zurück auf die Gabel und lief mit schlürfenden, müden Schritten in die Stube.
Es war still. Unheimlich still. Niemand lachte, kein Weihnachtsglöckchen hallte im Raum und kein Plätzchenduft kam aus der Küche. Nichts war mehr so, wie noch vor einem Jahr.
Sabrina versuchte sich zu erinnern, wie ihre Mutter in der Küche Weihnachtslieder sang und wie der Vater scherzte, wenn er Sabrina auf den Schoß nahm, um mit ihr gemeinsam auf den Weihnachtsmann zu warten, der jeden Moment an der Tür klopfen würde. Ihrer Erinnerungen waren verschwommen, so als ob sie jemand ausgelöscht hatte. Es war nur noch still in ihrem Herzen. Totenstill. Sabrina rannen die Tränen über die Wangen. Sie versuchte, sich an das Gesicht ihrer Mutter zu erinnern. Alles was sie sah, war in Nebel gehüllt. "Mama!", schrie sie schluchzend. Nichts rührte sich. Nur die alte Uhr tickte leise aus der Küche. Tick - Tack ! Tick - Tack!
Sabrina schaltete den Fernseher ein, damit die Ruhe endlich verschwand. So, wie sie es in letzter Zeit immer tat. Doch irgend etwas war anders. Auf dem Bildschirm flimmerte es und ganz langsam erschienen bunte Kreis, die sich drehten und immer schneller und schneller drehten. Sabrina wurde es ganz schwindlig zumute, doch die Kreise zogen sie in ihren Bann. Sie konnte den Blick nicht von den Kreisen lassen. Starr stand sie da und ganz langsam schlossen sich ihre Augen von allein. Plötzlich wurde ihr Körper schwerelos und ihre Füße schienen vom Boden abzuheben. Sie fühlte, wie ihr Körper in Richtung des Fernsehers schwebte und dieser sog sie einfach in sich hinein. Die bunten Farben schienen sie nun ganz zu umschließen und wie in Watte gehüllt, trugen die Kreise Sabrina mit sich fort.
Langsam hörten die Kreisbewegungen auf und sie spürte, wie die bunten Farben sie behutsam wieder auf den Boden setzten. Sabrina schlug die Augen auf,. Sie befand sich am Fuß eines großen Berges, der in Schnee und Nebel gehüllt war. So viel Schnee hatte sie noch nie gesehen. Weit und breit nur Schnee. Nicht einmal eine Fußspur war zu entdecken. Nicht einmal eine klitzekleine. So, als ob noch nie jemand vor ihr hier gewesen war. Nicht einmal ein kleines Tier. Sabrina versuchte in den Himmel zu schauen, doch der war mit dicken Nebelschwaden verhangen. Langsam wurde ihr kalt und unbehaglich. Was sollte sie jetzt tun? Sie beschloss auf den Berg zu klettern. Vielleicht könnte sie von dort aus jemanden sehen. Langsam schritt sie voran. Ihr Atem ging schwer und es wurde immer kälter. Sie drehte sich um. Ihre Fußspuren verschwanden vor ihren Augen. Sie versuchte es noch einmal, aber sobald sie den Fuß anhob, verschwand wieder ihr Abdruck im Schnee. "Merkwürdig!", sagte sie zu sich selbst, "Wo bin ich hier hingeraten?" Sie nahm allen Mut zusammen und stieg den Berg immer weiter hinauf. Endlich lichtete sich der Nebel und Sabrina sah eine kleine Hütte, welche genau auf dem Gipfel stand. Aus dem Schornstein kam Rauch. Es musste also jemand dort wohnen, der ihr helfen kann. Sabrinas Schritte wurden schneller. Endlich hatte sie die Hütte erreicht. Als sie nach der Türklinke griff, öffnete sich die Tür wie von Geisterhand und plötzlich nahm sie einen wohltuenden Duft wahr, der ihr bekannt vorkam. So roch es doch, wenn Mutti Plätzchen machte? Und kaum hatte sie dies gedacht, stand ihre Mutter vor ihr. "Mama?", schluchzte Sabrina und warf sich ihr in die Arme. "Na, da bist du ja endlich!", schluchzte nun auch die Mutter und beide hielten sich lange fest.
Sabrina hatte natürlich viele Fragen. "Was machst du hier? Wie bist du hierher gekommen? Wie geht es dir?" Die Mutter versuchte Sabrina zu beruhigen. "Weißt du mein Schatz", sagte sie zärtlich und doch traurig zu ihr, "ich bin im Land des Vergessens! Die Menschen, an die niemand denkt, wohnen hier und nicht einmal unsere Fußspuren bleiben zurück. Nichts, was an unsere Anwesenheit erinnert. Gar nichts!"
Sabrina sah sie ungläubig an. "Auch meine Fußspuren sind verschwunden. Hat mich Papa etwa auch vergessen?" "Ach, meine liebste Tochter, ich fürchte, ja." Traurig schauten sie sich beide an.
Plötzlich erbebte die Erde und der Schnee schmolz in Sekunden dahin. Sie liefen aus dem Haus und sahen ein Wunder. Der Nebel verzog sich. Überall sprossen Blumen aus der Erde hervor. Vor ihnen taten sich grüne Wiesen und Wälder auf. Alles erstrahlte in den schönsten Farben und die Sonne strahlte über ihnen. Und auch die Hütte war plötzlich kunterbunt. Sabrinas Mutter war entzückt. Hier könnte ich für immer wohnen, rief sie erfreut. Hand in Hand liefen sie durch die Wiesen und Sabrina spürte, wie glücklich die Mutter war. Jemand hatte an sie beide gedacht und aus dem Land des Vergessens geholt. "Hurra! Papa!", rief Sabrina, "Papa hat an uns gedacht." Sabrinas Mutter strich ihr über den Kopf. "Es wird Zeit, dass du Heim kehrst", sprach sie leise, "dein Vater braucht dich." "Und du, Mama?" "Ich bin nun glücklich hier! Wenn ihr immer an mich denkt, muss ich nie wieder in das Land des Vergessens." "Ja, das verspreche ich dir!"
Kaum hatte Sabrina diese Worte gesagt, nahmen die bunten Farben sie wieder mit sich fort. Die Kreise zogen sich über Sabrina zusammen und immer schneller drehten sie sich. Sabrina schloss ihre Augen und sie fühlte eine wohlige Wärme. Sie spürte die Farben um sich und diese trugen sie vorsichtig wieder zurück.
Nach einer Weile schlug sie die Augen wieder auf. Vor ihr kniete ihr Vater und streichelte zärtlich Sabrinas Wangen. "Kind, was war los? Dein Herz schlug nicht mehr und ich fand dich hier leblos auf dem Boden." Tränen rannen ihm übers Gesicht. "Ich hatte dich ganz vergessen und auch, dass heute Weihnachten ist. Verzeihst du mir? Ich will dich nicht auch noch verlieren. Bin ich bin froh, dass ich dich noch rechtzeitig gefunden habe."
Sabrina schlang ihre Arme um den Hals des Vaters. Sie erzählte ihm von ihrer Reise und von dem Land des Vergessens, in das sie und ihre Mutter geraten war. "Das darf niemals wieder geschehen", sprach der Vater mehr zu sich selbst. Er ging in die Küche und kramte eine alte Kiste aus der Kammer hervor. Er öffnete den Deckel und nahm Mutters Schätze vorsichtig heraus. Er war nun froh, dass er doch nicht alles weggeworfen hatte. Und plötzlich hielt er auch ein Bild von ihr in der Hand. Sabrina und ihr Vater schauten es sich lange an. "Nie wieder sollst du in das Land des Vergessens", schworen sich beide und hingen das Bild der Mutter an die Wand. Leise klingelte der Vater mit der kleinen Glocke, die er ebenfalls in der Kiste fand. Ein warmer Windhauch war zu spüren und für Sekunden war es so, als ob die Mutter bei ihnen war.
Glücklich schlief Sabrina in den Armen des Vaters ein und der Vater schwor sich, Sabrina nie wieder alleine zulassen. Und jedes Jahr in der Weihnachtszeit holen die beiden das Glöckchen hervor und lassen es klingen.
Und jedes Mal - nur für Sekunden - spüren sie einen warmen Hauch...


Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.


»»» Weitere Weihnachtsgeschichten «««

»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««

»»» HOME PAGE «««