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Flucht ins Gebirge
Eine Weihnachtsgeschichte von Gaby Drechsel
Heute ist der 23. Dezember, wie jedes Jahr fährt sie zum familiären Weihnachtsfest nach Altenmarkt. Alle werden da sein, Eltern, Geschwister, Schwager und Schwägerin - nur einer fehlt, ihr Mann. Nach 5 Jahren das erste Mal Weihnachten ohne ihn, traurige Weihnachten. Auf der Fahrt von München nach Altenmarkt überlegt sie, wie es dazu kommen konnte: man hat sich auseinandergelebt, aus den gemeinsamen Zielen sind individuelle Ziele geworden, der Alltag hat das Zusammensein alltäglich gemacht. Sie als bodenständige,
attraktive, selbstbewusste Frau kann ihr Leben auch ohne ihn führen. Hatte sie nicht schon im letzten Jahr Gefallen an anderen Männern gefunden. Jetzt ist sie frei und kann eine neue Chance ergreifen. Wenn nicht nur tief im Innersten so ein Gefühl der Leere und der Trauer wäre. 5 Jahre beinhalten viele Erlebnisse, Erfahrungen, Empfindungen, die sich nicht schnell aus dem Gedächtnis löschen lassen. Wie wird er wohl Weihnachten verbringen? Alleine, bei seinen Eltern oder mit einer Neuen? Langsam dämmert es schon,
nur noch 30 Minuten Fahrt bis zum Ziel. Wie werden die anderen reagieren? Hoffentlich kommen nicht Mitleidsbekundungen. Sie wird einfach so Weihnachten feiern, wie sie es vor 5 Jahren getan hat, damals war sie auch ungebunden. Die anderen müssen es so hinnehmen. Irgendwie kommt ihr diese Fahrt wie eine Flucht vor. Dies soll aber eine Flucht vor düsteren Gedanken sein. Die letzten fünf Minuten Fahrt probt sie ihr Lächeln. Nach einigen Malen sieht es ganz gut aus.
Bei ihrer Ankunft wird sie bereits von ihrer Mutter empfangen. Eine feste Umarmung und gleich geht's in die warme Stube. Die anderen sind noch nicht da. Die beiden haben sich viel zu erzählen - nur das Thema "Mann" wird ausgelassen. Vor dem Abendbrot kommen auch die Geschwister mit den besseren Hälften. Zum Glück spricht sie keiner auf ihre gescheiterte Beziehung an. Es ist ein angenehmer Abend. Am nächsten Morgen steht sie früh auf und joggt draußen ein bisschen. Sie muss alleine sein, denn die Erinnerungen
an die schöne Zeit mit ihm stimmen sie sehr traurig. Aber sie kann nichts machen und das weiß sie auch. Nach einer dreiviertel Stunde kehrt sie zurück und zieht sich fürs Frühstück um. Es wird kurz der weitere Tagesablauf besprochen: Weihnachtsbaum und Karpfen einkaufen, Weihnachtsbaum schmücken, Kochen, usw. Letztes Jahr hat er den Baum ausgesucht, er war wirklich sehr schön. Sie verdrängt gleich die Erinnerung daran und scherzt und reist Witze. Ob die anderen ihre Fröhlichkeit glauben, da ist sie sich nicht
sicher, wenigstens tun sie so. Am Nachmittag, als der Baum bereits geschmückt im Wohnzimmer steht und das Weihnachtsessen vorbereitet wird, klingelt es an der Tür. Draußen schneit es sehr. Die Schwester öffnet die Tür und sieht einen Weihnachtsmann und schreit "Der Weihnachtsmann ist da" ins Haus. Sie zuckt in der Küche zusammen, ist er es vielleicht und kommt doch. Sie weiß nicht, ob sie sich freuen soll oder nicht. Ganz langsam geht sie in den Gang und schaut auf die Tür. Ihr Herz pocht immer mehr.
Sie ist sehr aufgeregt. Jetzt sieht sie noch nicht das Gesicht, die Statur könnte passen. Doch dann hört sie, wie der Weihnachtsmann auf österreichisch ihrer Schwester frohe Weihnachten wünscht und ihr eine Flasche selbstgemachten Jägertee bringt. Es ist der Nachbar, nicht ihr Mann. Jetzt erwischt sie sich dabei, dass sie gerade "ihr Mann" gedacht hat, obwohl Ex-Mann eher der Wahrheit entspricht. Nachdem das Essen soweit vorbereitet ist, zieht sie sich um
und denkt nur noch an einen schönen Abend. Der Abend ist soweit auch schön: das festliche Essen
hat gut geschmeckt, die Bescherung war fröhlich, die Weihnachtslieder ebenfalls. Fast 22:00 Uhr,
die Familie zieht sich was warmes an und macht sich auf den Weg zur Christmette. Das ganze
Dorf ist verschneit, es sieht sehr romantisch aus. Nach der Messe geht es wieder nach Hause,
paar Worte werden noch gewechselt und dann sind alle so müde, dass zu Bett gegangen wird.
Sie liegt bereits im Bett, als sie zu ihrer Tasche geht und ihr Handy herausnimmt. Eine
Nachricht in Abwesenheit. Das ist sicherlich ihre Freundin mit einem Weihnachtsgruß.
Sie wählt die 3311 und hört folgendes: "Hallo, ich bin's. Ich war schon auf dem Weg
nach Altenmarkt, bin aber zurückgekehrt, weil ich dich nicht in Unruhe versetzen
wollte. Ich wünsche dir frohe Weihnachten. Bin bei meinen Eltern. Wo bist du Silvester?
Vielleicht könnten wir etwas zusammen unternehmen - wie früher. Ruf mich bitte an.
Du bist mir sehr sehr wichtig, das musst du mir glauben. Gute Nacht."
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