Geoutet: Heino ist ein Vampir!
Eine Weihnachtsgeschichte von Hermann Bauer
24.12. - Der Heilige Abend ist da. Für viele das schönste Fest im Jahr, für mich weniger. Familie habe ich natürlich nicht. Also hocke ich allein daheim. Ich flegle mich in meinen bequemen Fernsehsessel und schalte das Fernsehgerät an - was soll ich denn sonst anstellen an diesem langweiligen Tag - und was sehe ich - kaum zu fassen: Irgend ein Schnulzenheini singt. Feierlich schleicht er um kitschig geschmückte Weihnachtsbäume. Künstlicher Schnee im Studio 1 fällt auf seine Perücke. Und er trällert "Stille
Nacht, heilige Nacht". Um zu vermeiden, dass ich gleich gerührt mit Tränen in den Augen Depressionen bekomme, schalte ich um auf einen anderen Sender. Leider komme ich vom Regen in die Traufe: Christopher Lee, der König der Blutsauger, kniet, in einen schwarzen Umhang gehüllt, vor einer bildhübschen Blondine. Er öffnet seinen schaurig-charmanten Mund, und mit gierigen Augen stößt er seinem Opfer seine langen Eckzähne in den Hals...
Mir reicht es endgültig! So ein Scheiß-Programm! Ich fluche wie ein Rohrspatz. Verärgert schalte ich das Fernsehgerät aus. Mir kommen diese verlogenen Vampirschinken vor wie diese rührseligen Rühmann-, Ganghofer- oder Luis-Trenker-Heimatschnulzen. Die Wirklichkeit sieht eben anders aus! Ich weiß, was ich sage, denn ich bin selbst ein Vampir.
Es ist ein gewaltiger Irrtum, wenn man meint, Vampire an den großen Eckzähnen zu erkennen. Jeder Zahnarzt kann heute dieses Problem schnell lösen. Leider zahlen die Krankenkassen seit der Gesundheitsreform die Kosten dafür nicht. Eigentlich ein Skandal.
Mit der Knoblauch-Allergie ist es nicht so schlimm, wie manch einer annimmt. Die Pharmaindustrie hat sich längst auf die Probleme der Vampire eingestellt. Vampire lassen sich auch schon lange nicht mehr von einem Kruzifix vertreiben. Ich kenne sogar Bischöfe, die nachweislich Vampire sind. Mit anderen Worten: Vampire sind gegen Knoblauch und Kreuze immun.
Viele wissen nicht, dass ungefähr acht bis zehn Prozent unserer Bevölkerung Vampire sind. Ich möchte keinen Vampir outen - aber es weiß ohnehin schon jeder: Heino ist ein Vampir. Tagsüber tarnt er die Tageslichtüberempfindlichkeit seiner Augen mit einer dunklen Sonnenbrille, was beweist, dass Vampire auch am Tag durchaus nicht in ihrem Sarg schlafen müssen.
Ist Ihnen bei Heino noch nicht aufgefallen, dass der Kerl nie älter wird? Das ist die positive Seite, ein Vampir sein zu dürfen. Die negative Seite: Der Freundeskreis stirbt weg wie die Fliegen.
Und nun zum Thema Blut: Von mir und auch von anderen Vampiren wird in der heutigen Zeit kein Mensch mehr gebissen, schon wegen der Angst vor Aids. Bei den ganz wenigen Fällen, die immer noch vorkommen, handelt es sich um Psychopathen. Die Blutbeschaffung geht einfacher. Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass Blutkonserven nur begrenzt haltbar sind. Die Krankenhäuser verkaufen kurz vor Ablauf der Gültigkeitsdauer zu Sonderpreisen ihr konserviertes Blut. Der Preis ist nicht höher als der, den man für einen
Apfelsaft ausgibt. Teurer sind lediglich seltene Blutgruppen, die durchaus den Preis eines Champagners haben können. Aber man gönnt sich ja auch mal einen guten Tropfen! Manche Vampire suchen Damentoiletten auf und sammeln die weggeworfenen Tampons ein, die als Teebeutel einen wunderbaren Bluttee ergeben. - Aber das ist Geschmacksache, zumal man die Damen nicht kennt, die diese Tampons wegwarfen.
Es gibt auch Gefahren für Vampire, zum Beispiel, wenn einem ein Holzpfahl in die Brust gestoßen wird, was immer zum Tode führt. Mit Entsetzen stelle ich fest, dass Neonazis seit neuestem auch Holzpfähle mitführen. Das jagt einem schon Angst ein.
Schockiert hat mich vor kurzem, als ich in der Zeitung den Beschluss des Deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVG) las, in dem es heißt: "Die Darstellung von Gewalt gegen menschenähnliche Wesen in einem Horrorfilm verstößt nicht gegen die grundsätzlich geschützte Menschenwürde." Das BVG betonte, dass der Gesetzgeber die Darstellung von Gewalt gegen menschenähnliche Wesen wie Vampire nicht unter Strafe stelle. Die Menschenwürde werde erst verletzt, wenn beim Betrachter eine Einstellung erzeugt werde,
die den "jedem Menschen zukommenden fundamentalen Wertanspruch" leugne. (Az: 1 BvR 698/89)
Viele fordern es - ich halte jedoch wenig von einem "Coming-out." Die Zeit ist einfach noch nicht reif genug. Ich biete aber gerne Autoren, Journalisten und Vampirologen in Zeitung, Rundfunk, Film und Fernsehen meine Mitarbeit an, um das Bild des "Grusel-Grafen aus Transsylvanien" und des "Beißers und Fürsten der Finsternis" zu korrigieren. Meine Adresse ist kurzgeschichte@online-roman.de bekannt. Ich freue mich auf Ihre Zuschrift.
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