Wie Marvin Weihnachten zu den Ratten brachte
Eine Weihnachtsgeschichte von V. Groß
a.
Hinter den Wänden, unter dem Boden
Hinter den Wänden, unter dem Boden, roch es nach würzigem Speck und feinstem Käse. Alle, außer dem Vater, waren versammelt, und es herrschte eine wohlige, sehr friedliche und harmonischen Stimmung. Alle genossen das Gefühl, ganz bei sich selbst zu sein, in sich zu ruhen, mit sich und der Welt dort draußen in völligem Gleichklang zu sein. Es war Weihnachten.
Mutter war in einem etwas weiter hinten gelegenen Teil der Höhle damit beschäftigt, Speck und Käse in kleine, mundgerechte Würfel zu schneiden; dafür hatte sie ihre beste Schürze angelegt. Man konnte sie vom Wohnbereich der Höhle aus sehen, und wenn man ganz still war, den Atem anhielt und lauschte, dann konnte man sie sogar hören, denn sie summte eine alte Rattenweise vor sich hin während sie arbeitete. Leise klang das Lied zu den Kindern herüber, die in der Mitte der Wohnhöhle zu Füssen ihres Großvaters saßen,
und gespannt darauf warteten, dass er mit seiner diesjährigen Weihnachtgeschichte beginnen würde. Vater war noch unterwegs, draußen in den unzähligen labyrinthartigen Gängen, die sich überall durch das Menschenhaus zogen, und die es ihnen erlaubten, jedes Zimmer des Hauses von einem sicheren Ort aus, einem winzigen Guckloch hier oder da, versteckt hinter Kisten, Bücherhaufen oder Möbelstücken, zu beobachten. Er wolle noch etwas vorbereiten, hatte er gesagt, und war verschwunden. Keiner machte sich sonderlich
Sorgen um ihn, denn er war eine sehr erfahrene Ratte. Er kannte vor allem die Menschen ganz genau und wusste deshalb allen Gefahren, die von ihnen ausgingen tunlichst aus dem Weg zu gehen. Er würde bald zurück sein.
Der Großvater, eine, wie man sagte, in Ehren ergraute Ratte, saß in einem hochlehnigen Ohrensessel, seinem Lieblingsplatz, direkt neben dem anheimelnd prasselnden Feuer des kleinen Kamins, und hatte seine obligatorische rot-weiße Nikolausmütze aufgesetzt, die er jedes Jahr den ganzen Heiligen Abend über auf dem Kopf trug, und die abzusetzen nichts in der Welt ihn an diesem Abend jemals bewegen konnte. Mit einem Räuspern zog er ein dickes, in braunes Leder gebundenes Buch, die "Chronik des Rattenvolks",
von einem Beistelltisch herüber auf seinen Schoß, klappte es auf, machte es sich bequem, und während seine grauen, spitzen Ohren rechts und links des Mützenrandes vergnüglich zuckten, sammelte er sich, um seine Weihnachtsgeschichte zu beginnen. Die Kleinen waren sehr gespannt und natürlich sehr aufgeregt. Großvaters Geschichte war der Höhepunkte eines jeden Weihnachtsfestes. Fipis, der sich wie immer nur sehr mühsam beherrschen konnte, kicherte hin und wieder in erwartungsvoller Spannung, was seine Geschwister
jedes Mal mit bösen Blicken und zischenden Lauten beantworteten, die ihn zur Ruhe mahnen sollten. Wie die Orgelpfeifen saßen sie nebeneinander, Gregor, Alija, Max und Fipis, der Kleinste und Jüngste der vier. Jeder von ihnen hatte ein kleines Glas dampfenden Rattenpunsch vor sich auf dem Boden stehen und ab und zu nippten sie an dem starken Getränk, das es nur an Weihnachten gab, und das ihnen ansonsten streng verboten war.
Den ganzen Morgen hatten sie zusammen mit ihrem Vater die Höhle geschmückt und für den festlichen Abend vorbereitet. Der Weihnachtsbaum, ein abgebrochener Zweig des großen Weihnachtsbaumes der Menschen, leuchtete hinter ihnen in strahlendem Glanz und tauchte die ganze Höhle in ein geheimnisvolles Licht. Er war behängt mit allen möglichen und unmöglichen Fundsachen, Dingen, die die Menschen weggeworfen oder sonst wie vergessen hatten, die sie also allem Anschein nach nicht mehr benötigten, und denen sie kein Interesse
mehr entgegenbrachten. Die unregelmäßigen Scherben einer zerbrochenen Weihnachtskugel aus dem letzten Jahr, ein violettes Prachtstück mit kleinen, weiß und silbrig glänzenden Sternen, war der eindeutige Höhepunkt des diesjährigen Schmuckes. Nicht ohne eine gehörige Portion Risiko hatten sie alle zusammen im letzten Jahr, nachts in der Stille des schlafenden Menschenhauses, die Teile der zerbrochenen Kugel aus der Wohnhöhle der Menschen geholt und mit vereinten Kräften hinunter in ihre Stube geschleppt. Neben
der violetten Pracht, die den Baum dominierte, gab es noch Fetzen alter Lamettafäden, bunte Stückchen von Geschenkpapier, ein oder zwei duftenden Teebeutel, ein paar schmutzige Wattewölkchen, Keks- und Schokoladenkrümmel, und, oben auf der Spitze, eine noch sehr gut erhaltene Mandel, die wie eine Flamme geformt war, und die direkt unter der Höhlendecke endete.
Großvater war jetzt soweit. Er hatte die goldene Lesebrille ganz nach unten ans Ende seiner Schnauze befördert und strich sich gerade noch einmal feierlich über seine langen, inzwischen ergrauten Schnurrbarthaare. Das untrügliche Zeichen dafür, dass es jetzt endlich losging.
"Heute will ich euch davon berichten, wie Marvin, einer unserer Vorfahren, die Weihnacht zu uns brachte. Gebt Acht."
Er räusperte sich ein letztes Mal und die Kinder vor seinem Sessel bekamen große Augen, ihre Ohren richteten sich auf und nahmen Position in Richtung des Großvaters ein. Mutter sah herüber und schmunzelte. Sie wusste noch zu gut, wie talentiert ihr Vater war, wenn es galt an Heiligabend mit seiner Geschichte eine spannende Atmosphäre der Erwartung aufzubauen.
b.
Großvaters Geschichte I
-
Des Vaters mahnende Worte
"Es war an einem Winterabend des Jahres 1884, also vor über hundert Jahren…"
Großvater legte eine Kunstpause ein. Er ließ die Kinder zappeln. Mutter kam leise herein und stellte eine Schüssel Spekulatiuskrümmel vor den Kindern auf den Boden. Dann ging es weiter.
"Marvin, ein aufgeweckter Rattenjunge in den schönsten Kinderjahren, war mit seinem Vater unterwegs in den Gängen und Nebenhöhlen des Menschenhauses, in dem sie damals lebten. Sie waren auf der Suche nach kräftiger Nahrung, denn Marvins Schwester, Annabelle, war seit einigen Tagen krank, und alle waren in großer Sorge um sie. Entgegen besseren Wissens, und allen Warnungen zum Trotz, hatte sie nämlich von den Menschen aufgestellte Nahrung zu sich genommen und diese hatte sich, wie so oft, als vergiftet herausgestellt.
Rattengift. Natürlich wussten alle auch damals schon, dass man Nahrung, die die Menschen freiwillig hergaben, auf keinen Fall zu sich nehmen durfte, aber die Zeiten waren hart in jenen Jahren, die Winter waren kalt und unfruchtbar, und um nicht zu verhungern hatte Marvins Schwester schließlich der Versuchung nachgegeben"
Die Kinder zu Füssen des Großvaters machten bestürzte Gesichter. Sie alle konnten sich noch genau daran erinnern, wie Fipis letztes Jahr beinahe gestorben war, nachdem er denselben Fehler begangen hatte wie Marvins Schwester Anabelle in der Geschichte. Der Großvater blätterte eine Seite des Buchs um und fuhr fort.
"Es war das erste Jahr, in dem Marvin erlaubt worden war, die Wohnhöhle der Familie zu verlassen und alleine, oder, wie zumeist, in Begleitung seines Vaters, durch die weit verzweigten Gänge hinter den Wänden des Menschenhauses zu streifen. Sein Vater hatte nämlich entschieden, dass es nun allmählich für ihn an der Zeit war, das Leben einer erwachsenen Ratte kennen zu lernen. Alles war noch sehr neu und natürlich sehr aufregend für Marvin. Gerade jetzt verfolgten sie den starken Geruch von nicht mehr ganz
frischen Fleischresten, der aus der Richtung der Küche heranwehte, einem Ort, wo die Menschen, wie Vater ihn gelehrt hatte, für gewöhnlich ihr Futter aufbewahrten, und wo es demzufolge immer reiche Beute für eine hungrige Ratte gab. Ein kräftiger Batzen Fleisch, so wusste auch Marvin schon, war momentan genau das richtige für Annabelle, der in ihrem Zustand nur gesunde und kräftigende Nahrung wieder auf die Beine helfen konnte. Marvin folgte seinem Vater in kurzem Abstand innen entlang der Wohnzimmerwand des
Menschenhauses durch einen schmalen, leicht ansteigenden und dunklen Gang. Sie hielten sich eng beieinander, so dass Marvin bereits ein paar Mal auf das Hinterteil seines Vaters aufgelaufen war, wenn dieser abrupt stehen geblieben war, sich aufgerichtet hatte, um auf irgendein Geräusch zu lauschen oder eine viel versprechende Witterung aufzufangen. Immer wieder schlug ihm auch der Schwanz des Vaters ins Gesicht, was ihn gewaltig störte, aber da dieser ihn strengstens ermahnt hatte, so nahe wie möglich hinter
ihm zu laufen, blieb Marvin keine andere Wahl, als diese Unannehmlichkeiten einfach hinzunehmen. Als sie fast die gesamte Länge der Wohnzimmerwand hinter sich gebracht hatten, und sich gerade anschickten einen der Beobachtungsposten hinter einem Vorratsregal der benachbarten Menschenküche anzusteuern, sah Marvin mit einem mal etwas sehr Sonderbares, etwas, das er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Seltsam schien es, merkwürdig und fremd, doch irgendwie zugleich auch schön, geheimnisvoll und anziehend. Marvin
verlangsamte sein Tempo und ließ den Vater ein Stück vorauslaufen. Dort! Durch eine Ritze in der Mauer drang ein strahlendes, weißes Licht. Wie ein breites Schwert durchschnitt die gleißende Helligkeit den dunklen Gang. Staubteilchen tanzten träge auf den Lichtstrahlen. Gerade als Marvin seinen Vater nach der Erscheinung fragen wollte, tauchte dieser durch den Lichtschleier, und verschwand. Er war auf sich allein gestellt. Inzwischen war er stehen geblieben, und beäugte mir zusammengekniffenen schwarzen Murmelaugen
die seltsame Erscheinung. Marvin war schon immer Neugierig gewesen, und so schob er sich langsam, zögerlich, schnüffelnd, horchend und tastend näher an den Spalt heran und … spähte hindurch. Mit einem Schlag wurde er geblendet und sah, abgesehen von zuckenden Lichtblitzen vor seinen Augen, erst einmal überhaupt nichts mehr. Dann aber, während seine Augen sich langsam an die Helligkeit gewöhnten, wie wunderbar war das, was er da sah: Lichterglanz, tausendfach reflektiert in glitzernde Silberfäden und spiegelnden
Kugeln, ein Feuerwerk aus weißem Licht, das aus allen Winkeln und Ecken der Menschenhöhle gleichzeitig zu kommen schien. Er war wie hypnotisiert. Staunend, mit angehaltenem Atem und offener Schnauze, starrte er in die Menschenhöhle und konnte nicht fassen, was er sah. Wo, um alles in der Welt, kam das ganze Licht her? Und was hat das zu bedeuten? So fragte er sich. Doch schneller als ihm lieb war, war sein Vater wieder bei ihm, sah mit strengem Blick auf in herab, und mit einem kräftigen Biss in den Nacken ermahnte
er ihn zu gehorchen. Nur widerwillig löste sich Marvin vom Anblick der unbeschreiblichen Lichterfülle, die so sehr im Gegensatz stand zu der ewigen Dunkelheit und Kälte der Höhle, in der er selbst mit seiner Familie lebte. Er folgte seinem Vater weiter den dunklen, erdigen Gang entlang. Aber den ganzen weiteren Weg bis hin zur Menschenküche, und noch während sie die Fleischstücke aus dem Mülleimer der Menschenfamilie stahlen, um sie in ihre Höhle zu schleppen, konnte Marvin den Anblick der strahlenden, lichterfüllten
Menschenhöhle nicht vergessen. Etwas, das solch einen Glanz ausstrahlte, musste etwas Wundervolles sein. Dort konnte bei Leibe nichts Böses lauern, davon war Marvin überzeugt, trotz all der jahrelangen Warnungen seines Vaters den Menschen niemals zu vertrauen, und trotz allem, was die Menschen Anabelle, und vielen anderen vor ihr, mit ihren vergifteten Ködern angetan hatten. Dort wartete ein Geheimnis auf ihn, etwas Abenteuerliches und wundervoll Aufregendes, dessen war Marvin sich sicher.
Später, während seine Mutter die kranke Schwester mit dem erbeuteten Fleisch versorgte, saß Marvin bei seinem Vater. "Vati?"
Sein Vater sah von der Zeitung auf und betrachtete seinen Sohn. "Marvin?", und nach einer kurzen Pause, "es ist dieses Licht, stimmt's? Du denkst über das Licht heute Mittag nach, hab ich recht?"
Sein Vater wusste also Bescheid. Marvin fasste neuen Mut. "Ich frage mich", sagte er, "was das war, Vati? Dieser Glanz….es war wunderbar." Daraufhin tat sein Vater einen schweren Atemzug, gerade so, als trüge er eine unsägliche Last auf den Schultern. Dann erzählte er Marvin von den seltsamen Bräuchen der Menschen, und von einem speziellen Anlass, den sie "Weihnachten" nannten und zu dem sie ihre Höhlen schmückten, feinstes Essen kochten und so außergewöhnliche Dinge taten, wie sich
gegenseitig Geschenke zu überreichen oder gemeinsam zu singen. Marvins Vater hielt das alles jedoch nur für ein weiteres Zeichen der abgrundtiefen Verlogenheit und der Heuchelei der Menschen. Das entsprach seiner Einstellung, die er im Umgang mit ihnen gewonnen hatte.
"Trau niemals einem Menschen", sagte er mit mahnender Stimme. "Menschen sind hinterlistig, grausam und herzlos, sie quälen andere Tiere, ja sogar sich selbst gegenseitig, nur so aus Spaß, und wenn sie einmal freundlich erscheinen, so ist ihnen darin keinesfalls zu trauen, denn, Marvin, hör gut zu, es existiert, glaube mir, kein Mensch, kein Einziger, der einfach so von sich aus freundlich wäre, immer verfolgen sie einen egoistischen, selbstsüchtigen Zweck, und wenn sie also einmal freundlich Tun,
dann nur um diesem heimlichen Zweck zu dienen. Menschen, Marvin, sind verachtungswürdige Wesen und niemand im ganzen Tierreich versteht oder mag sie wirklich. Halt dich fern von ihnen, wenn dir dein Leben lieb ist. Eine gute, eine anständige Ratte gibt sich nicht mit ihnen ab."
Und damit war das Thema für seinen Vater beendet. Doch Marvin war noch nicht zufrieden. "Aber das Licht, dieser Glanz, alles war so friedlich, und…" Sein Vater senkte die Zeitung wieder und funkelte mit den Augen. Er wurde ungeduldig, man sah es ihm deutlich an. "Hör auf mich, Marvin, halt dich von den Menschen fern, sie sind böse. Sie dir deine Schwester an, das ist es, was sie uns antun. Vergiss die Menschen, Marvin, glaub mir es ist besser so." Marvin gab sich notgedrungen zufrieden und
verfiel in nachdenkliches Schweigen. Er wusste nur zu gut, wie sehr sein Vater die Menschen verabscheute, und es war besser, ihn nicht weiter danach zu fragen.
Aber schlussendlich konnte Marvin der Ansicht seines Vaters nicht folgen. Er glaubte einfach nicht, dass ein Wesen, welches eine solche Festlichkeit, einen solchen Glanz hervorzubringen im Stande war, nur und ausschließlich böse oder verdorben sein konnte. Nein, Marvin hatte so etwas wie Friedlichkeit und Liebe gespürt als er in die große Wohnhöhle der Menschen gestarrt hatte, da gab es noch mehr als nur Bosheit und Verdorbenheit, dessen war er sich sicher.
Seinem Vater sagte er nichts davon, aber er beschloss, sich dieses "Weihnachten" der Menschen, und nicht zuletzt die Menschen selbst, in dieser Nacht noch, einmal näher anzusehen. Was war so schlecht an Geschenken, an Lichterglanz, feinem Essen und feierlichen Liedern? Er selbst hätte nur allzu gerne einmal im Jahr eine Zeit des Lichterglanzes, der Lieder und des Friedens erlebt. Er musste sich ein eigenes Urteil bilden, so sehr er seinen Vater auch mochte und ihm vertraute, diese Sache verlangte überdeutlich
nach persönlicher Meinungsbildung aufgrund selbstgemachter Erfahrung. Er sah es als eine Herausforderung, nicht mehr und nicht weniger. Marvins Entschluss stand also fest.
In dieser Nacht schlich er sich aus der elterlichen Höhle hinaus und schickte sich an zu jenem Spalt in der Wand des Menschenhauses zurückzukehren, durch den er den seltsamen Glanz zum ersten Mal beobachtet hatte. Er bog um die Ecke in den langen Gang, der entlang der Wohnzimmerhöhle der Menschen führte, und wieder sah er dort hinten an dessen Ende die Lichtstrahlen aus der schmalen Ritze in der Wand scheinen. Er näherte sich vorsichtig, schob die Schnauze langsam ins Licht und sah mit blinzelnden Augen durch
den Spalt. Und wieder war da dieser unbeschreibliche Glanz. Dieses Mal jedoch war die Menschenhöhle nicht leer. Die ganze Menschenfamilie war anwesend. Der Menschenvater, die Menschenmutter und die beiden Menschenkinder, alle standen um einen festlich geschmückten Baum, der in einer Pracht glitzerte, für die Marvin längst keine Worte mehr fand. Ein Strahlenkranz umgab diesen Baum, ließ ihn weich und zart erscheinen. Musik erklang, Kerzen brannten, die Menschen sangen und es duftete darüber hinaus sehr verlockend
nach allerlei fremdartigen Leckereien. Marvin wurde beinahe schwindelig ob all der Sinneseindrücke, die da auf ihn einstürmten. Genießerisch hob er die Schnauze in die Luft, schnupperte und schnüffelte, schwelgte in Düften und grinste.
Er war dabei, all die mahnenden Worte seines Vaters zu vergessen, all seine Warnungen in den Wind zu schlagen.
c.
Großvaters Geschichte II
-
Marvin will es wissen
Während er also da so stand und das "Weihnachten" der Menschen bestaunte, da kam ihm eine Idee. Er wurde mit einemmal ganz aufgeregt bei dem Gedanken, und sein Schwanz schlug in der staubigen Dunkelheit hinter ihm von einer Seite auf die andere. Ja, sein Entschluss stand fest. Er musste da mitten hinein. Hinein in all die Festlichkeit, in den Glanz, hinein ins strahlende Licht, koste es, was es wolle. Doch wie es bewerkstelligen? Wie es in die Tat umsetzen? Wie? Marvin dachte nach, grübelte, fasste
Entschlüsse und verwarf sie wieder, wollte sein Vorhaben mehr als einmal aufgeben, und zog es dann doch wieder in Betracht. Hatte sein Vater ihn nicht ausdrücklich gewarnt? Er verdrängte die Stimme seines Vaters aus seinen Gedanken. Niemand würde ihn bemerken, wenn er nur vorsichtig genug war. Und außerdem, so sagte er sich, konnte er immer noch genauso schnell wieder verschwinden, wie er gekommen war. Während also in der Wohnhöhle der Menschen das Singen endete und alle sich jetzt, unter den lauernden Augen
Marvins, der immer noch durch den Spalt in der Wand lugte, niederließen, um die bunten Pakete, die überall unter dem Baum ausgebreitet lagen, auszupacken, hielt er seine Chance für gekommen. Alle schienen äußerst beschäftigt, und ihre Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf die bunten Päckchen und Pakete.
Jetzt oder nie!
Marvin schoss los.
Hinaus aus seinem sicheren Versteck, quer durch die Menschenhöhle und erstmal schnurstracks unter den festlich gedeckten Tisch. Dort angekommen, verhielt er sich zunächst einmal völlig still und versuchte ein wenig Luft zu schnappen. Doch etwas war schief gegangen. Das geschäftige Geräusch knisternden Papiers verstummte. Das Missgeschick nahm bereits seinen Lauf. Marvin war entdeckt worden. Er hörte wie die Menschenmutter einen schrillen Schrei ausstieß. Auch eines der Kinder hatte zu schreien angefangen. Aber
es schien, als wüsste keiner momentan so genau, was zu tun war. Alles war in Auflösung und höchster Aufregung begriffen. Marvin selbst wäre fast das Herz stehen geblieben vor Schreck. Hektisch rannte er unter dem Tisch hin und her, suchte einen Ausweg aus der Falle. Sein Herz schlug zum Zerspringen. Er fand keinen Weg. Wohin? Da war nicht die kleinste Lücke, durch die hindurch er hätte entwischen können, zu viele Menschenbeine bewegten sich inzwischen unruhig um den Tisch herum und ließen keine Raum zur Flucht.
Und, oh allmächtige Ratte, der Menschenvater hatte, wie Marvin jetzt bemerkte, zu Kehrbesen und Kehrblech gegriffen, den bevorzugten Waffen der Menschen wenn es galt seinesgleichen zu Leibe zu rücken. Er stocherte und wedelte jetzt mit dem Besen unter dem Tisch herum und Marvin hatte alle Mühe der Bedrohung immer wieder aufs Neue auszuweichen. "Besen und Kehrblech", dachte Marvin, "Besen und Kehrblech, allmächtige Ratte".
Ohne Zweifel, so war Marvin klar, würde der Menschenvater versuchen ihn mit dem Kehrblech zu erschlagen. Das taten sie immer, hatte sein Vater gesagt, entweder sie liefen davon, oder sie versuchten einen mit irgendetwas zu erschlagen, und wenn erst einmal Besen und Kehrblech ins Spiel kamen, so hatte sein Vater noch hinzugefügt, dann wurde es wirklich gefährlich. Marvin wurde endgültig angst und bange. In welch schlimme Lage hatte sein Eigensinn ihn diesesmal wieder geführt? Hätte er doch nur auf seinen Vater
gehört und seine unselige Neugier zu bezähmen gewusst. "Dumme, dumme Ratte", schalt er sich und warf dabei einen sehnsüchtigen Blick auf den unerreichbar weit entfernten Spalt drüben in der Wand.
Dann die Chance.
Mit dem Mut der Verzweiflung nutzte Marvin eine winzige Lücke, um unter dem Tisch hervorzuschießen. Seine Beine trommelten in einem verzweifelten Stakkato über den Boden. Er huschte hinter den Schrank, der nicht weit vom Tisch entfernt stand, sah sich gehetzt um und stellte erleichtert fest, dass fürs erste niemand so recht zu wissen schien, wo genau er sich jetzt befand. Niemand hatte seine panische und halsbrecherische Flucht bemerkt. Sie glaubten vielmehr immer noch, dass er unter dem Tisch saß. Das Bild,
das sich ihm bot war allerdings ein äußerst chaotisches. Die Menschenmutter war inzwischen auf einen der Sessel gesprungen und hatte dabei wohl den Weihnachtsbaum, diesen herrlichen Weihnachtsbaum, irgendwie angestoßen. Er wankte bedrohlich von einer Seite auf die andere und es war eindeutig abzusehen, dass er irgendwann umfallen würde. Der Menschenvater indes hatte in seinem Jagdfieber die Tischdecke vom Tisch gerissen und in einem Wirbel flogen Teller, Schüsseln, Gläser und Besteckteile in hohem Bogen durch
die Luft. Es war ein unglaubliches Getöse, das da vor sich ging.
Eines der Menschenkinder stand neben dem wankenden Baum und weinte lauthals vor sich hin. Das andere Menschenkind aber, so stellte Marvin erstaunt fest, verhielt sich sehr ruhig und schien sogar zu lächeln. Dieser Junge, der da, wie das Zentrum eines Wirbelsturms, still, unbeteiligt, inmitten der Verwirrung stand, schien außerdem genau zu wissen wo Marvin sich versteckt hielt, denn er sah unverwand herüber zum Schrank. Einige Sekunden lang schienen ihre Blicke sich zu begegnen, schwarze Knopfaugen sahen in kindlich
braune Menschenaugen und natürlich umgekehrt. Doch alles um Marvin herum raste, und auch dieser Augenblick, der wie ein kurzer, stummer Fleck der Zeitlosigkeit im Zuge der Ereignisse gewesen war, verflog. Gegenüber seinem provisorischen Versteck bemerkte Marvin jetzt wieder den schwarzen Spalt aus dem er in die Menschenhöhle gelangt war. Er wusste, das war seine einzige Chance, um lebend zu entkommen. Und, er musste handeln bevor er seinen Vorteil einbüsste, und noch jemand bemerkte, wo er sich aufhielt. Seine
Instinkte übernahmen nun die Kontrolle. Mit angespannten Muskeln drückte er seinen Körper so flach an den Boden wie es ihm möglich war. Er visierte den rettenden Spalt in der gegenüberliegenden Wand der Wohnhöhle an und stellt sich vor, wie ein Pfeil zu sein, ein Pfeil, der, einmal abgeschossen, schnell, geradlinig, unaufhaltsam und präzise sein Ziel finden würde. Nichts anderes nahm er mehr war, nichts anderes zählte mehr.
Marvin schoss erneut los.
Unglücklicherweise aber fiel der Weihnachtsbaum exakt in diesem Augenblick um. Genau auf den seinem Ziel entgegenhastenden Marvin, so dass dieser sich, anstatt auf freiem Gelände, plötzlich inmitten eines von elektrischen Kerzen beleuchteten Gewirrs von Zweigen und Ästen wieder fand. Er erstarrte. Überall um sich herum sah er glitzernde Fäden und rot- glänzende Kugeln. Licht schien verstohlen durch ein Gewirr aus Tannengeäst. Manche der Zweige waren mit etwas Weißem bedeckt und überall um ihn herum rieselten
jetzt seltsame weiße Flocken herab und begannen den Boden zu bedecken. Es roch eindringlich nach Tannennadeln und Harz. Marvin genoss trotz der drohenden Gefahr für einen Moment diese so seltsame, traumartige Umgebung. Aber bald besann er sich. Es war nicht die Zeit sich noch länger in Bildern zu verlieren. Er musste weiter. Sein Leben stand auf dem Spiel. Schon schienen sich die Zweige um ihn herum, wie von Geisterhand bewegt, nach oben zu heben und Marvin bemerkte aus den Augenwinkeln ein großes dunkles Viereck,
einen schwarzen, bedrohlichen Schatten, der sich auf ihn herabzusenken begann. Reflexartig lief er erneut los. Blind auf die Angemessenheit seines Orientierungssinnes vertrauend, der ihn, so hoffte er, nahe genug an den rettenden Spalt in der Wand bringen würde, hastete er, schlingernd und hakenschlagend weiter. Und ja, es war nicht mehr weit. Er spürte noch den Luftzug des herabsausenden Kehrblechs, dem er nur um Haaresbreite entkommen war, und vernahm das dumpfe Geräusch, als es hinter ihm auf den Boden aufschlug.
Aber es war nicht mehr weit. Nur noch wenige Meter bis zum Ziel.
Dann jedoch geschah etwas, das Marvin in diesem Moment wie ein Todesurteil empfand. Nach seinem Lauf unter den Ästen des umgestürzten Weihnachtsbaumes hindurch zog er inzwischen einen beträchtlichen Wust an unnötigem Ballast hinter sich her. Alles Mögliche war an ihm hängen geblieben. Unter anderem hatte er eine der roten Kugeln hinter sich hergezogen, die sich über einen dünnen Draht an einem seiner Hinterläufe verfangen hatte. Es war ein Wunder, dass er überhaupt hatte laufen können. Diese Kugel aber war durch
eine schnelle Richtungsänderung und das Abbremsen Marvins unmittelbar vor dem rettenden Spalt dermaßen unglücklich nach vorne geschleudert worden, dass sie den rettenden Ausgang nun versperrte. Allmächtige Ratte! Marvin war hoffnungslos eingeklemmt, und je mehr er strampelte und sich wand, um an der Kugel vorbei doch noch durch den Spalt zu gelangen, desto unrettbarer verfing er sich in einem Netz aus Silberfäden, die er ebenfalls zu Hauf hinter sich her gezogen hatte. Allmählich ließ jetzt seine Kraft nach.
Unglücklich sah er sich um und registrierte den menschlichen Riesen, der mit erhobener Waffe und verzerrtem Gesicht auf ihn zukam. Marvin sah sein letztes Stündlein gekommen. Er erwartete den letzten Schlag, den Schlag, der ihm vermutlich das Genick brechen würde."
Großvater grinste und strahlte über beide Backen. Die Kinder saßen stumm und mit weit aufgerissenen Augen vor ihm. Fipis hatte seinen Schwanz nach vorne gezogen und knetete mit beiden Pfoten an ihm herum. Alija hielt ihr Glas mit Rattenpunsch in den Händen, so als hätte sie vollkommen vergessen, dass sie daraus hatte trinken wollen. Keiner der vier schien bis jetzt überhaupt registriert zu haben, dass ihr Großvater sich zu einer kleinen Pause entschlossen hatte. Um sie nicht allzu sehr auf die Folter zu spannen,
nahm er schnell selbst einen Schluck aus seinem Krug, und fuhr fort.
"Marvin schloss die Augen und versuchte noch einmal sich mit allerletzter Kraft doch noch durch den engen Spalt zu Zwängen. Ein Schatten fiel auf ihn. Der Menschenvater ließ die Schippe herabsausen. Das also war das Ende eines Rattenlebens, schoss es Marvin durch den Kopf, während er angsterfüllt nach oben starrte, und instinktiv seinen Kopf mit den Pfoten zu schützen versuchte. Und alles nur, weil ich nicht auf meinen Vater gehört habe, dachte Marvin.
Und dann?
Dann geschah das Wunder. Ein Wunder, wie man es vielleicht nur an Weihnachten erleben kann.
Der Menschenjunge, der zuvor noch so still inmitten des ganzen Aufruhrs gesessen hatte, der Junge mit dem angedeuteten Lächeln in seinen Gesichtszügen verhinderte den tödlichen Schlag. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und hatte seinen Körper zwischen Marvin und die tödliche Waffe geschoben, und damit den Menschenvater für einen entscheidenden Moment irritiert. Dieser kurze Augenblick genügte. Mit einer ruckartigen Seitwärtsbewegung löste Marvin sich endlich doch noch aus der Klemme, in der er gesteckt hatte.
Die Kugel machte den Weg frei und Marvin zwängte sich durch den Spalt. Mit einer allerletzten Kraftanstrengung zog er schließlich auch die immer noch an ihn gefesselte Kugel durch den Spalt in den Gang, und … hatte es geschafft.
Sicher. Er war sicher.
Während er schwer atmend im dunklen Gang saß, vernahm er aus der Menschenhöhle noch dumpf die Flüche des Menschenvaters, und im Hintergrund das Gewimmer der Menschenfrau. Noch einmal spähte er zurück in die Höhle, und wieder trafen sich schwarze Knopfaugen und braune Kinderaugen. Der Junge lächelte immer noch, und es sah jetzt tatsächlich so aus, als zwinkere er Marvin zu. Hastig wandte Marvin sich ab und lief den dunklen Gang entlang. Er wollte nur noch nach Hause. Die rote Kugel, die er immer noch hinter sich
her zog sprang und schepperte über den rauen Erdboden und immer wieder versuchte Marvin sie abzuschütteln indem er das Hinterbein hob und kräftig nach hinten stieß. Aber da war nichts zu machen. Sie hing fest. Unglücklicherweise verhedderte er sich in den langen Silberfäden, die er ebenfalls immer noch mit sich schleppte, kam ins Stolpern und begann sich zu überschlagen. Haltlos purzelte er den abschüssigen Gang hinab, wobei er sich praktisch um die Kugel herumwickelte, so dass diese ihn bei jeder Umdrehung aufs
Neue überrollte. Schließlich und endlich nahm die rasante Fahrt ein Ende, und er prallte mit einem lauten Krachen direkt neben dem Eingang zu ihrer Wohnhöhle gegen die Wand.
Benommen rappelte Marvin sich auf und starrte, noch ehe er richtig begriff was eigentlich passiert war, in die verdutzten Gesichter seiner Eltern und seiner Schwester, die ihn vom Eingang der Wohnhöhle aus ansahen.
Er bot wahrlich ein phantastisches Bild, eingewickelt in Lametta, immer noch voller Tannennadeln und Harz, und zuletzt in Begleitung einer, natürlich etwas mitgenommenen und verbeulten, aber immer noch glänzenden roten Christbaumkugel, auf die er sich, noch unsicher auf den Beinen, aufzustützen versuchte.
"Frohes Fest!", stammelte er etwas verlegen und in Ermangelung passenderer Worte, weil er das Gefühl nicht loswurde jetzt irgendetwas sagen zu müssen, während die Kugel unter seinem Gewicht wegrutschte und er vor aller Augen noch einmal kräftig auf die Schnauze flog.
d.
Großvaters Geschichte III
-
"Nicht alle Menschen sind schlecht"
Sekundenlang herrschte Schweigen. Verlegenes, ausdrucksloses Schweigen. Marvins Vater betrachtet mit gerunzelter Stirn und nachdenklichem Blick seinen Sohn und Marvin wäre deshalb am liebsten im Erdboden versunken. Er war sich seines Ungehorsams mehr als bewusst. Dann aber begann, zu Marvins allergrößter Überraschung, Anabelle leise zu kichern. Ihr Kichern schwoll an und wurde, obwohl sie es zu unterdrücken suchte, zu einem prustenden Lachen. Die bedrohliche Spannung, die in der Luft gelegen hatte, begann sich
aufzulösen und bald hallte der ganze Gang wieder vor ausgelassenem Gejohle. Selbst Marvins Vater, der eben noch alles andere als freundlich auf seinen weihnachtlich geschmückten Sohn geblickt hatte, konnte das Lachen nicht mehr unterdrücken und stimmte mit ein. Marvin kam sich reichlich dumm vor und zog eine missmutige Grimasse, war aber froh, dass das erwartete Donnerwetter bis jetzt ausgeblieben war. Schließlich musste auch er lachen.
"Frohe Weihnachten, Marvin", riefen seine Schwester und seine Mutter. "Frohe Weihnacht!", brummte der Vater. Man nahm Marvin in die Höhle hinein und auf seinen zögerlich vorgebrachten Vorschlag hin, und nachdem Anabelle, der es zur Freude aller wieder deutlich besser ging, begeistert zugestimmt hatte, beschloss man, Vaters kritischen Blicken zum Trotz, die Höhle zu schmücken und also Weihnachten zu feiern, und damit nicht zuletzt den glücklichen Ausgang von Marvins Abenteuer sowie die überraschende
Genesung seiner Schwester gebührend zu begehen. Man sang alte Rattenweisen und es gab die besten Leckereien aus der Speisekammer. Die Kerzenstummel, die sonst nur für Notfälle gebraucht wurden, erleuchteten die Höhle, und das von ihnen ausgehende Licht wurde von den erbeuteten Lamettafäden an den Wänden und vor allem der, inzwischen polierten und ausgebeulten Weihnachtskugel, die wie eine Trophäe von der Decke herabhing, zurückgeworfen und verbreitete festlichen Glanz. Marvin berichtete allen von seinem Abenteuer,
und immer und immer wieder in dieser Nacht, in der sie alle noch lange zusammensaßen, beglückwünschte man sich gegenseitig zu allem Möglichen und wünschte sich unter lautem Lachen und andauerndem Gejohle immer und immer wieder ein "Frohes Fest".
Irgendwann schließlich, als zuletzt nur noch Marvin und sein Vater beisammen saßen, während Mutter und Schwester sich, müde aber glücklich, zurückgezogen hatten, kam es natürlich noch zu der unvermeidlichen und wohl auch berechtigten strengen Ermahnung des Vaters an seinen Sohn. Aber des Vaters Herz war weich geworden und er konnte nicht wirklich mehr böse sein auf Marvin.
Und zuletzt nahm auch der Vater an diesem Abend noch etwas sehr Wichtiges und Unvergessliches mit, etwas, das ihm sehr zu denken gab. Es waren die letzten Worte Marvins gewesen, nachdem sie sich noch einmal herzlich umarmt hatten und bevor auch Marvin todmüde zu Bett gegangen war.
"Vati", hatte Marvin in vorwurfsvollem Ton gesagt und seinen Vater dabei mit ernster Miene angesehen, "nicht alle Menschen sind schlecht."
e.
Hinter den Wänden, unter dem Boden
Der Großvater klappte das Buch zu. Fipis und die anderen Kinder waren noch ganz in die Geschichte versunken. Sie schienen weit weg, über hundert Jahre in der Vergangenheit. Der Großvater war nicht wenig stolz auf die Wirkung, die seine Erzählung auch dieses Jahr wieder erzielt hatte. Man sah es ihm deutlich an. Selbst die Mutter, die ihre Arbeit in der Küche beendet hatte und der Vater, der inzwischen unbemerkt in die Höhle zurückgekehrt war, hatten sich gegen Ende der Geschichte zu ihren Kindern gesellt und
dem Großvater gelauscht. Allmählich aber kehrten alle in die Gegenwart zurück. Man beging Weihnachten. Es gab Geschenke, man aß den feinsten Speck und manch andere Leckerei, und irgendwann machte sich die ganze Familie schließlich auf, um wie jedes Jahr durch einen vom Vater extra ausgesuchten Spalt, irgendwo in der Wand des Menschenhauses, den eigentlichen Erfindern der Weihnacht bei ihren Festlichkeiten zuzusehen, ihren Lieder zu lauschen, die von der ganzen Rattenfamilie lautstark mitgesungen wurden, und nicht
zuletzt den unglaublichen Glanz zu bestaunen, den die Menschen an Weihnachten hervorzuzaubern vermochten.
Alles verlief eben so, wie es nun seit über hundert Jahren der Brauch ist hinter den Wänden, unter dem Boden, seit jener denkwürdigen und historischen Nacht nämlich, in der Marvin den Ratten die Weihnacht brachte.
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