Oh Tannenbaum!
Eine Weihnachtsgeschichte von Elke Link
Es ist der 22. Dezember.
Noch 2 Tage bis Weihnachten!
Wie jedes Jahr, herrscht schon wieder die altbekannte Weihnachts-Hektik, die wir ja alle kennen und die sicherlich bis zum Fest noch zunehmen wird.
Vor dem großen Kaufhaus haben sie die hintere Ecke, wo sonst die Einkaufswagen stehen, freigemacht. Freigemacht für die Weihnachtsbäume. DIE Weihnachtsbäume, die jedes Jahr von einem versoffenen Verkäufer angeboten werden. Versoffen deshalb, weil es ja auch eine ziemlich ungemütliche Sache ist, den ganzen Tag in der Kälte zu stehen, und auf Kunden zu warten. Und da muss man sich halt eben von innen ein bisschen "einheizen".
Aber irgendwie akzeptiere ich diesen "versoffenen Tannenbaum-Verkäufer", denn er hat einen besonderen Glanz in den Augen, die nicht nur vom Alkohol etwas wässrig wirken, sondern auch eine angenehme Ruhe vermitteln und auch eine gewisse Zufriedenheit mit der Welt ausdrücken.
Die ganz Reichen müssen den vollen Preis für einen Weihnachtsbaum zahlen. Jedoch die etwas " bescheiden aussehenderen" haben manchmal Glück, einen Sonderpreis zu erhaschen.
Nun ja, er ist sehr zufrieden mit seinem Ergebnis. Bis heute hat er alle - eigentlich alle, denn nur noch ein Baum ist übrig geblieben - verkauft. Es ist aber auch gut gelaufen, dieses Jahr. Vielleicht war es auch eine besonders gute Lieferung. Denn die Leute haben ihm die Bäume regelrecht aus der Hand gerissen.
Morgen früh werden sie kommen - die Leute von der "Stadt". Sie werden dann die Umzäunung wieder abbauen, die große Verpackungstrommel mitnehmen und die runtergefallenen Zweige und Tannennadeln aufkehren.
UND den übrig gebliebenen Baum - nun ja - wer weiß. Vielleicht will ihn jemand?? Vielleicht wird er zersägt und die Tannenzweige verschenkt???
Der Verkäufer freute sich auf einen gemütlichen warmen Fernsehabend - sicherlich hatte seine Frau auch etwas Gutes gekocht. Er verschloss noch schnell das große Eisengittertor. Ganz kurz kam ihm noch der Gedanke in den Sinn - warum - WOFÜR schloss er ab? Es war doch NICHTS mehr da - nur noch DER EINE.
Der kleine verkrüppelte, verkümmerte Baum, den niemand wollte. Den würde ja auch wohl niemand mehr klauen.
Mit diesem Gedanken schweifte sein Blick nochmals über den leeren Verkaufsplatz und er ging langsamen Schrittes in Richtung Heimat.
Mittlerweile ist es ganz dunkel geworden. Die letzten Käufer wurden regelrecht aus dem Kaufhaus rausgedrängt, denn auch die Verkäufer wollten endlich Feierabend haben. Endlich auch nach Hause, um dort das Notwendige zu erledigen.
Unserem kleinen verkrüppelten Baum wurde es mittlerweile etwas ungemütlich. Wo er doch in den vergangenen Tagen von seinen Kameraden, Brüdern und Schwestern, so schön warm gehalten wurde.
Jetzt stand er ganz alleine da und es zog ganz schön von allen Seiten.
Jetzt bogen ein paar Jungen um die Ecke. Verwundert blieben sie stehen und starrten unseren kleinen Baum an. Einer von ihnen begann zu lachen. Er bog sich schier vor Lachen und die anderen taten das gleiche.
"Habt Ihr schon einmal SO einen hässlichen Baum gesehen? Kein Wunder, dass ihn keiner kaufen wollte!"
Das tat dem kleinen Baum sehr weh. Es kostete ihn viel Kraft, geradeaus zu schauen und nicht vor Traurigkeit umzuknicken. Die ganze Zeit hatte niemand über ihn gelacht. Aber als die anderen noch neben ihm standen, sah man seine Unvollkommenheit nicht so deutlich, wie jetzt - wo er so alleine da stand.
Mittlerweile wurde es immer kälter. Er fror und fror und der Schnee, der leise herunterrieselte bedeckte seine Äste und Nadeln.
Wie gerne wäre er auch gekauft worden!
Wie schön haben es wohl jetzt seine Brüder und Schwestern! Sie werden sicherlich schon geschmückt im Wohnzimmer stehen und auf ihren großen Auftritt am Heiligen Abend warten. Und dann werden sie von der ganzen Familie bewundert. Man wird Kerzen anzünden, es wird nach Stollen und Weihnachtsplätzchen duften und die Kleinen werden mit glänzenden Augen vor dem Weihnachtsbaum stehen und "Stille Nacht, heilige Nacht" singen.
Oh wie viele Jahre hatte er davon geträumt. Und nun steht er hier, gottverloren, alleine, zurückgelassen, verschmäht. Wie schrecklich!!
Mit diesen Gedanken schlief er ein. Das einzig Positive war, dass er nicht mehr fror. Er träumte einen wunderschönen Traum bis zum nächsten Morgen.
Das erste, was er nach dieser Nacht wahrnahm, war, dass er wieder in der Wirklichkeit war. Immer noch stand er alleine da. Immer noch hatte diese grausame Sache kein Ende gefunden.
Allmählich kamen immer mehr Leute vorbei. Erst die ganz frühen Berufstätigen, die zum Bus eilten. Dann die Kinder, die zum letzten Mal für dieses Jahr in die Schule mussten, dann die ersten Hausfrauen, die schon am frühen Morgen ihre Lieben zu Hause mit frischen Semmeln verwöhnen wollten.
Danach setzte dann der eigentliche Weihnachtsbetrieb ein. Autos fuhren vor, hektische Menschen mit Einkaufszetteln in der Hand verschwanden im Kaufhaus, um dann mit gefüllten Einkaufswagen wieder heraus zu eilen.
Aber auch eine alte Bekannte, eine alte Oma mit ihrem kleinem Rauhaardackel, die der kleine Tannenbaum schon kannte, weil er sie tagtäglich gesehen hatten, kam wieder, um sich die Tageszeitung und die Frühstücksbrötchen zu kaufen.
"Hallo, Dackel, schau her, ich will dir Lebwohl sagen. Heute ist mein letzter Tag hier".
Der Dackel drehte sich um, blickte etwas nachdenklich auf den kleinen Tannenbaum, kam etwas näher und nun geschah etwas ganz schreckliches: Er hob sein Bein und pieselte den kleinen Tannenbaum ganz nass.
Oh Gott. Auch das noch. "Hoffentlich hat das keiner gesehen", schoss es ihm durch den Kopf.
Die alte Oma befestigte die Leine des kleinen Dackels in der Nähe des Tannenbaumes, so dass sich Baum und Hund eine ganze Weile gegenübersaßen. Der kleine Dackel wusste eigentlich gar nicht, was er falsch gemacht hatte. Er hatte überhaupt kein Unrechtsbewusstsein.
Der kleine Tannenbaum jedoch war ziemlich beleidigt und schaute wütend in die andere Richtung.
Nun ja, diese Situation wurde bald beendet, denn die alte Dame band schon kurze Zeit später den kleinen Bösewicht ab und verschwand.
Aber es war nur ein kurzes Aufatmen. Schon wenige Mitnuten später kam ein ratternder Lastwagen herangerollt. Erst kam er vorwärts herangefahren, dann wendete er nochmals, um dann rückwärts fast direkt an den kleinen Tannenbaum heranzustoßen. Von der Ladefläche sprang ein etwas ältlicher Mann herunter, der mit dem Weihnachtsbaum-Verkaufsstand wohl "kurzen Prozess" machen wollte. Er verlud alle Überreste der verkauften Bäume, kehrte die runtergefallenen Tannennadeln auf, legte die Zaunelemente übereinander
auf die Ladefläche und schubste die Verpackungstrommel in die hinterste Ecke.
Dann machte er eine kleine Pause, zündete sich eine Zigarette an, sog den wärmenden Rauch ein und wollte gerade die Tür des Führerhauses öffnen, um einzusteigen, da blieb sein Blick an dem unglückseligen kleinen Tannenbäumchen - ganz hinten in der Ecke - hängen.
"Oh Gott, was nun?" schoss es dem kleinen Bäumchen durch den Kopf. Was wird jetzt noch auf mich zukommen?
Ein mitleidiges Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. Und dann ein pfiffiges Grinsen. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.
Und mit einem Griff hatte er das Tannenbäumchen gepackt und neben die große Verpackungstrommel auf die Ladefläche gestellt. Und schon ging die Fahrt los.
Wohin nur? Diese Frage quälte das Bäumchen derart, dass es regelrecht zu zittern begann. Wo endete wohl diese holprige Fahrt? Hin und her rutschte es, zuletzt lag es der Länge nach am Boden und wurde mal nach rechts und mal nach links geworfen.
Plötzlich stoppte das Auto.
Das Bäumchen schloss die Augen, denn es vermutete jetzt eine riesige Feuerstelle, wo es verbrannt werden würde oder die Müllkippe, wo es neben anderen weggeworfenen Dingen vertrocknen oder verfaulen müsste.
Es dauerte nicht lange, da hörte es Stimmen. Es war die ihm mittlerweile bekannte Stimme des Lastwagenfahrers - denn auf der ganzen Fahrt hatte er ein und das selbe Lied gesungen - und dann eine fremde Stimme, die wohl einer alten Frau gehörte.
Das nächste, was das Bäumchen wahrnahm, war das Gesicht der alten Frau. Sie beugte sich nach unten und hob behutsam das Bäumchen auf, stellte es vor sich hin, schaute wieder den Lastwagenfahrer an, nein sie schaute nicht, nein - sie strahlte ihn an. Und Tränen standen in ihren Augen. "Welche eine Freude machst Du mir mit diesem Bäumchen. Nun habe ich dieses Jahr endlich einmal wieder einen richtigen WEIHNACHTSBAUM. Vielen, vielen Dank - mein lieber Junge!"
Noch ein paar Worte - und der Lastwagen setzte sich in Bewegung.
Plötzlich hatte sich die ausweglose Situation des kleinen Bäumchens verändert, denn die Atmosphäre hier bei der alten Frau, war keineswegs mehr angsteinflößend.
Sie beeilte sich mit dem Hereinholen des Baumes, denn es kam ein ungemütlicher Wind draußen auf. Sie holte den alten Weihnachtsbaumständer aus der Kammer, stellte den kleinen Baum hinein und beschloss, ihn hinten in die Ecke, zwischen Fernseher und Fenster zu stellen.
Erst einmal wärmte sich der kleine Baum auf. Dass er zufrieden war, bemerkte man rasch, denn seine Äste streckten sich, die Nadeln glänzten und dufteten nach frischem Tannengrün.
Als er so zufrieden in der Ecke stand, wurde er fast etwas müde, wenn da nicht die leise Musik des Plattenspielers ihn wieder wach gemacht hätte. "Leise rieselt der Schnee" und "Süßer die Glocken nie klingen", verzauberten die Atmosphäre.
Die gute Frau kam mit Schachteln und Kartons ins Zimmer, packte bunte Kugeln und glänzendes Lametta aus und behing damit den kleinen Baum. Nach einiger Zeit stellte sie sich vor ihn hin und aus ihrem Lächeln konnte er erkennen, wie schön er war.
Die alte Frau strahlte vor Freude und verschwand in der Küche.
Es war eine gute Nacht. Es war nicht mehr kalt und ungemütlich. Und keine Angst brauchte der kleine Baum mehr zu haben.
Als der kleine Baum erwachte, schreckte er auf, weil er dachte, er hätte nur geträumt. Aber nein - es war kein Traum - es war WIRKLICHKEIT.
Es roch im ganzen Haus nach Stollen und Plätzchen, die mittlerweile unter dem Weihnachtsbaum standen. Und daneben lagen kleine bunt verpackte Päckchen. Daneben saßen zwei Puppen mit frisch gekämmten Haaren und neuen Kleidern.
Heute trug die alte Großmutter eine weiße Schürze über ihrem Sonntagskleid. Denn heute war Besuch angesagt. Den ganzen Tag rannte die liebe Frau hin und her und verschönerte noch dies und das, denn sie freute sich, wie lange nicht mehr, auf ihre Kinder und Enkel.
Und dann war es soweit! Der Besuch stand vor der Tür. Kaum war die Tür offen, stürzten die Kinder auch schon herein. Aber sie durften noch nicht ins Weihnachtszimmer, denn die Großmutter musste noch die Kerzen anzünden.
Allerdings waren sich die Kinder nicht ganz sicher, ob nicht doch das Christkind der Großmutter in der guten Stube half.
Leise hörte man die Glocken läuten und danach stimmte ein Kinderchor ein Weihnachtslied an.
Die Türe öffnete sich und voran schritt die Großmutter ins Weihnachtszimmer. Ihr hinterher kamen die Kinder und dann die Eltern. Mittlerweile sangen alle das Weihnachtslied mit.
Die Kinder standen vor dem Baum und staunten.
Wie schön er war!
"Oma, noch nie habe ich einen schöneren Baum gesehen, als diesen", sagte das kleine Mädchen.
Und dass diese Worte wahr waren, sah man ihren Augen an.
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