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Ein Weihnachtsalptraum

Eine Weihnachtsgeschichte von Marlies Aurig


Als Ben aus der Wohnung seines Freundes Roland kam, hätte er am liebsten vor Wut die Tür laut hinter sich zugeschlagen. Aber ihm fiel gerade noch ein, dass Rolands zweijähriger Sohn schon schlief und er ihn damit sicherlich geweckt hätte. Missgelaunt lief Benn einen Stock höher in seine eigene Wohnung, die in einem großen Wohnkomplex lag. Das Haus hatte zehn Stockwerke und acht Eingänge, die alle durch den Keller und im oberen Dachgeschoss durch einen Wintergarten miteinander verbunden waren. Eigentlich hätte er sich denken können, dass Roland ein Attentat auf ihn vor hatte als er ihn heute Nachmittag, eine Woche vor Weihnachten, zum Abendessen und einem kleinen Umtrunk zu sich nach Hause eingeladen hatte und natürlich hatte Ben sich breitschlagen lassen, etwas zu tun, was ihm total gegen den Strich ging. Aber Roland hatte noch etwas gut bei ihm, also war ihm nichts weiter übrig geblieben als ja zusagen. Peter, der größere Sohn seines Freundes und dessen Frau waren in der Kirche, um für das Krippenspiel zu üben und sie würden sicherlich erst sehr spät zurückkommen. Das war auch so eine Sache, die Ben nicht verstand. Das ganze Jahr über gingen weder Ben noch seine Familie in die Kirche, aber Weihnachten hatten sie plötzlich irgendwelche komischen Anwandlungen. Doch Ben würde sich hüten, dieses Thema noch einmal anzuschneiden. Voriges Jahr hätte er sich bald deswegen mit Roland verkracht, und das war es ihm wirklich nicht wert. Weihnachten ging ja auch Gott sei dank irgendwann wieder einmal vorbei. Ben war nicht unbedingt ein sogenannter Weihnachtshasser, aber der Rummel, welcher darum gemacht wurde, der ging ihm tierisch auf die Nerven. Und wenn dieser Rummel sich wenigstens auf die Adventszeit beschränken würde, nein, im September bei dreißig Grad im Schatten tauchten in den Supermärkten regelmäßig die ersten Schokoladenweihnachtsmänner in den Regalen auf. Wenn Ben dann wirklich kurz vor Weihnachten ein paar als Geschenke kaufen wollte, dann, wenn sie wirklich gebraucht wurden, waren sie schon längst wieder aus den Regalen verschwunden und durch Sylvesterknaller ersetzt worden. Am schlimmsten war es, wenn sich Christina, seine Freundin, mit der er jetzt drei Jahre zusammen war, zum Weihnachtseinkauf angemeldet hatte. Sie hasteten durch die vollen Straßen und total überfüllten Läden, überfüllt mit Waren wie auch Menschen, und wussten nie so richtig, was sie ihren und seinen Eltern kaufen sollten. Meistens war es eh nicht das, was der Andere gebrauchen konnte, aber jeder tat so, als hätte er sich genau das gewünscht, was er abends unter dem Baum auspackte um es dann in der nächsten Woche wieder umzutauschen. Am liebsten wäre es Ben gewesen, wenn er Weihnachten hätte ausfallen lassen können, dieses ganze Getue und Theater.
Aber hallo, kam es ihm plötzlich in den Sinn, durch seine Zusage, die er Roland soeben gegeben hatte, konnte er wenigstens den Heilig Abend bei seinen zukünftigen Schwiegereltern ausfallen lassen. Christina würde sauer sein, aber das nahm er in Kauf, wenn er nicht bei der Bescherung und beim Weihnachtsliedersingen unter dem Baum mit dabei sein musste . Um den Besuch der Mitternachtsmesse kam er wahrscheinlich nicht drum herum, aber immerhin. Gleich morgen früh würde er Christina anrufen und ihr mitteilen, dass er am Weihnachtsabend bei den Kindern seines Freundes Weihnachtsmann spielen musste.
Ben stieß einen lauten Fluch aus, als sich in die einzige freie Parklücke ein Mercedes Benz drängelte, die er für sich selbst schon ausgemacht hatte. Jetzt fuhr er bereits zum drittenmal um den Block, damit er irgendwo einen Parkplatz fand. Aber das war am Vorweihnachtsabend ein aussichtsloses Unterfangen. Dessen nicht genug, wurde es allmählich etwas spät, der Kostümverleih sollte achtzehn Uhr schließen und jetzt war es bereits viertel vor sechs. Aber Ben war ja auch selber daran Schuld, er hatte dieses unwürdige Unterfangen, sich ein Weihnachtsmannkostüm auszusuchen und anzuprobieren bis zum letzten Moment hinausgezögert. Roland hatte ihm den Gutschein mit der Adresse des Verleihs schon vor vier Tagen gegeben. Es war alles schon bezahlt, Ben musste das Kostüm nur noch anprobieren und mitnehmen. Doch so, wie es jetzt aussah, würde Roland ganz schön verärgert sein, wenn er ohne ein Kostüm zurückkam. In einer Nebenstraße fand er schließlich eine Lücke, in die sein Auto noch hinein passte und dann eilte er los. Es war ein ganzes Stück zu gehen von der Stelle aus, wo Ben sein Auto geparkt hatte bis zu der Adresse, wo er sein Weihnachtsmannkostüm abholen sollte. Als Ben vor dem Laden ankam war es fünf Minuten nach um sechs und die Eingangstür war verschlossen.
"Verdammter Mist!" fluchte Ben laut. Was sollte er jetzt bloß machen? Sollte er wirklich unverrichteter Dinge wieder abziehen. Das kam nicht in Frage, wegen fünf Minuten zu spät kommen. Irgendjemand musste doch noch im Laden sein, man Schloss doch nicht einfach ab und ging nach Hause. Da musste sicherlich vor den Feiertagen noch die Abrechnung gemacht und die Einnahmen gezählt und weggeschafft werden. Ben rüttelte leicht an der Tür und sah in das Schaufenster, alles dunkel und Niemand zu sehen. Er trat zurück und sah, dass es ein Eckladen war. Vielleicht war ja auf der anderen Seite noch eine Tür oder ein Fenster. Ben ging um die Ecke herum, sah aber nur eine alte Holztür, die mit Brettern zu genagelt war. An dieser vernagelten Tür befand sich ein ebenso alt aussehender Klingelknopf. Ohne jede Hoffnung, aber immerhin wollte Ben alles versucht haben, drückte er auf das schmutzige Ding. Nichts zu hören. Als er sich gerade umgewandt hatte, um wieder zur Vorderseite zu gehen, hörte Ben hinter sich ein Geräusch. Schnell wandte er sich um und sah, dass die alte vernagelte Brettertür sich einen Spalt geöffnet hatte. Er hätte schwören können, dass dieses Ding schon seit Jahren nicht mehr aufgegangen war, aber was soll´s, jetzt konnte er wenigstens dem Ladeninhaber sein Missgeschick begreiflich machen, so dass er sein Kostüm noch bekam. Ben bekam den Mann überhaupt nicht zu Gesicht, er nahm an, dass es ein Mann war, sondern nur eine behaarte Hand, die ihn in den Eingang winkte. Ben trat schnell ein, nicht, dass der Mann es sich noch anders überlegte. Drinnen umfing Ben ein halb dunkler Raum, die Lichtquelle musste sich weiter hinten befinden. Durch einen Vorhang hörte Ben die Stimme des Mannes, der ihn aufforderte, die Tür zu schließen. Ben tat, wie ihm geheißen und sie fiel mit einem lauten Knarren ins Schloss. Als Ben sich umsah, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Wo war er denn hier hin geraten? Dass Roland in so einem Laden etwas kaufte oder auslieh, das konnte Ben sich nicht vorstellen. So ein Schmuddelladen, anders konnte Ben das Geschäft nicht bezeichnen, düster und vollgestopft mit undefinierbaren Dingen, passte ganz und gar nicht zu Roland. Wenn er wieder zu Hause war, musste Ben ihn unbedingt fragen, wie er zu diesem Kostümverleiher gekommen war. Aber wahrscheinlich war Roland überhaupt nicht selbst hier gewesen, sondern hatte dieses Geschäft durch einen Bekannten tätigen lassen, das konnte Ben sich schon eher vorstellen.
"Hier ist das, wonach sie suchen."
Ben sah sich erschrocken um, er hatte den alten Mann nicht zurückkommen gehört, doch nun stand er plötzlich neben ihm. Misstrauisch begutachtete Ben den roten Mantel sowie die dazugehörigen Stiefel, die Mütze und einen langen weißen Bart mit einem Gummi zum umhängen. Hatte Ben dem Mann eigentlich gesagt, was er von ihm wollte? Ben glaubte nicht, er war eingetreten und da war der Mann schon hinter dem Vorhang verschwunden gewesen. Na ja, aber die Sachen waren bestellt und Ben war sicherlich der Einzige, der seine Bestellung noch nicht abgeholt hatte.
"Haben sie noch mehr Kostüme zur Auswahl?" fragte Ben den Verkäufer.
"Der hier wird ihnen mit Sicherheit passen", antwortete der Ihm. "Entweder sie nehmen den hier oder lassen es bleiben, die Wahl liegt ganz bei ihnen."
Was war das denn für eine blöde und unfreundliche Antwort. Benn wollte ihm schon erbost antworten, als ihm einfiel, dass er ja zu spät gekommen war und er froh sein musste , überhaupt noch eingelassen worden zu sein.
"Ich nehme es", gab Benn zur Antwort. Besser irgendein Kostüm, auch wenn es nicht richtig passen sollte, als gar keines und Ärger mit seinem Freund. Er gab dem Mann, dessen Gesicht Ben in dem diffusem Licht immer noch nicht so richtig sehen konnte, den Gutschein von Roland und nahm dafür das Weihnachtsmannkostüm in Empfang. Als Ben schon draußen war, rief ihm der alte Mann noch nach, dass er das Kostüm pünktlich am ersten Weihnachtsfeiertag wieder abliefern sollte. Ben nickte ihm zu, verstanden zu haben und war ansonsten froh, wieder auf der Straße zu stehen und frische Luft atmen zu können. Was sollte denn das jetzt, fragte er sich. Seit wann bringt man denn am ersten Feiertag etwas zurück? Da haben doch alle Läden geschlossen. Alle, außer so einem Panoptikum, der hat so viele Kundschaft, dass er sich keinen Feiertag leisten kann. Benn hätte am liebsten laut gelacht, aber er wurde sowieso schon von einem Jungen argwöhnisch beäugt, wie er mit seinem Kostüm in der Hand vor dem geschlossenem Laden stand und Selbstgespräche führte. Seine Mutter, an dessen Hand der Junge lief, sah auch schon argwöhnisch zu ihm herüber. Ben machte sich auf den Weg zu seinem Auto, er würde das Kostüm nach getaner Arbeit einfach bei Roland abliefern, sollte der sich doch am ersten Feiertag auf den Weg zu diesem seltsamen Kostümverleih machen, ihm ging dass dann nichts mehr an.
Ben stand am Fenster seiner Wohnung und sah auf das Schneetreiben hinaus. Vor ungefähr einer Stunde hatte es angefangen und ließ alle ansonsten normalen Leute in euphorische Weihnachtsextasse ausbrechen. Hinter ihm über dem Stuhl hingen sein Weihnachtsmannmantel und die Mütze sowie der Bart. Nicht einmal eine Maske war mit dabei gewesen. Ben würde sich hemmungslos blamieren, weil Rolands Söhne ihn sofort erkennen werden. Der Kleine vielleicht nicht unbedingt, aber der Größere war schon fünf Jahre alt. In dem Alter konnte man ihnen schon nichts mehr so leicht vormachen. Aber Roland wollte es eben so haben, also sollte er auch seinen Weihnachtsmann bekommen. Ben nahm sich noch einmal den Zettel zur Hand, auf dem die Schandtaten der Beiden im letzten Jahr vermerkt waren. Wenn er einmal dort war, konnte er ja schlecht als Weihnachtsmann von einem Zettel ablesen. Weihnachtsmänner hatten so etwas zu wissen, ohne Gedächtnishilfe, das war ein unumstößliches Gesetz. Vor einer Stunde hatte Christina angerufen, ob er es sich nicht doch noch mal überlegt hätte.
"Ich habe es Ben versprochen. Vor der Mitternachtsmesse bin ich dann bei euch. Du weißt doch, dass ich ihm noch einen Gefallen schuldig war, einen großen sogar. Also werde ich das eine Jahr eben mal Weihnachtsmann spielen. Du müsstest doch wissen, wie ich eigentlich so etwas hasse", hatte er ihr geantwortet und sie damit einigermaßen ruhig gestellt.
"Also gut, Benjamin. Bis später dann."
Wenn Christina Benjamin zu ihm sagte, dann war sie wirklich verärgert. Kein Benni und kein Küsschen am Telefon. Dafür hatte er aber bis zweiundzwanzig Uhr frei. Jetzt war es gleich halb sechs, Zeit sich anzuziehen, und in einer halben Stunde war er wieder hier und konnte machen, was er wollte. Und das würde ganz bestimmt nichts mit Weihnachten zu tun haben. Vielleicht würde er sich eine Videokassette mit einem Fußballspiel ansehen und dazu Hot Dogs und frisches Popcorn essen. Der beste Weihnachtsabend, den Ben seit langem je erlebt hatte stand ihm heute Abend bevor und versetzte ihn in eine angenehme Stimmung, aber in keine Weihnachtsstimmung, sagte er sich. Dass ganz bestimmt nicht.
Der Mantel passte Ben wie angegossen, als hätte er ihn bei einem Schneider extra für ihn anfertigen lassen. Im Flur zog er sich die Stiefel an, die ebenfalls bestens saßen, und setzte sich dann die Mütze auf, nachdem er sich den Fellbart umgebunden hatte. So schlecht sah er eigentlich gar nicht aus, der Bart machte ihn doch ziemlich unkenntlich, wenigstens für Kinder, hoffte er. Eigentlich hätte er sich noch ein Kissen um den Bauch binden müssen, aber da hätte der Mantel dann nicht mehr gepasst. Da müssen sie sich eben mit einem schlanken Weihnachtsmann zufrieden geben. Ben nahm den Sack mit den Geschenken auf die Schulter und verließ seine Wohnung.
Auf dem Korridor begegnete ihm Gott sei dank niemand. Wenn man einmal als Weihnachtsmann verkleidet gesichtet wurde, dann fiel den Leuten plötzlich ein, dass sie für ihre Kinder auch einen gebrauchen könnten und wenn er schon einmal unterwegs war, da könnte man ja vielleicht bei ihnen auch noch herein schauen und vielleicht noch bei dem Nachbar gegenüber und so weiter und so fort. Aber Ben hatte seinen Abend schon anders geplant, er würde ganz bestimmt nicht den Clown spielen, außer für Roland.
Roland stand schon am Treppenabsatz und wartete auf Ben, damit er ihn ohne zu klingeln in die Wohnung lassen konnte und Ben dann, wie es sich für einen Weihnachtsmann gehört, mit lautem Klopfen an die Wohnzimmertür poltern konnte. Als Ben um die Ecke kam, hätte er ihn bald selber nicht erkannt.
"Du brauchst dir wirklich keine Gedanken wegen der fehlenden Maske zu machen", sagte er zu Ben. "Ich hätte dich bald auch nicht erkannt und dachte erst, es ist jemand anderes, der auch unterwegs ist."
Ben dachte, Roland wollte ihn nur beruhigen, aber es war Roland ernst damit gewesen. Niemals hätte Roland gedacht, dass man durch einen Bart so anders aussehen konnte.
Ben brachte sein Debüt als Weihnachtsmann mit Bravour hinter sich. Es hatte ihm sogar richtig Spaß gemacht, dass hätte Ben noch vor einer halben Stunde nicht für möglich gehalten. Als die letzten Geschenke verteilt waren machte er sich auf den Weg in seine Wohnung, wieder vorsichtig, um niemanden zu treffen. Aber es war niemand außer ihm unterwegs, jetzt war die Zeit der Bescherung. Ben Schloss seine Wohnungstür auf, geschafft, dachte er gerade, jetzt konnte sein gemütlicher Teil beginnen, trat in den Flur und......
"Der Weihnachtsmann ist da!" rief ein kleines Mädchen ihrem jüngeren Bruder zu.
Benn sah sich irritiert um. Das hier war nicht seine Wohnung.
"Scheiße", Benn biss sich auf die Zunge, hoffentlich hatten die Kinder das nicht gehört. Ein fluchender Weihnachtsmann, das fehlte noch, wenn er schon unaufgefordert in eine fremde Wohnung hereinspazierte. Er konnte noch von Glück sagen, wenn die Mutter der Kinder, die jetzt soeben auch den Raum betrat, nicht die Polizei rief, weil sie glaubte, ein Einbrecher käme als Weihnachtsmann verkleidet zu ihnen. Doch die Mutter spielte mit und hieß den Weihnachtsmann herzlich willkommen. Ben erzählte den Kindern, dass er aus dem tiefen Walde komme und ließ die Kinder dann ein Lied und ein Gedicht aufsagen. Jetzt kam der Teil, wo die Geschenke ausgepackt werden mussten. Das Dumme war nur, dass Ben keine Geschenke mehr dabei hatte. Wie sollte er den Kindern das begreiflich machen? Vielleicht sollte er seinen leeren Sack her zeigen, damit sie es selber sahen, wie leer er ist. Doch als Ben den Sack aufrollte, sah er unten noch zwei kleine Päckchen liegen. Die hatte er sicherlich vergessen und etwas Wertvolles enthielten sie bestimmt nicht, sonst hätte Roland daran gedacht, also gab er den Kindern die vergessenen Geschenke und war aus einer großen Verlegenheit erlöst. Dann wollte Ben so schnell wie möglich hier raus, es ließ ihm keine Ruhe, dass er sich so geirrt haben sollte und in eine fremde Wohnung gegangen war. Als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen hörte, fand er sich direkt neben seiner Wohnung wieder. Ben stutzte abermals, er kam aus seiner Wohnung, aber er war bei fremden Leuten gewesen. Machte sich hier jemand einen Scherz mit ihm? Falsche Etage, nein. Hier hing sein Namensschild, Benjamin Neumann. Selbst wenn jemand das Schild ausgetauscht hätte, während er bei Roland war, er hatte vorhin mit seinem Schlüssel aufgeschlossen, daran erinnerte er sich ganz genau, er war doch nicht senil, oder doch? Jetzt ganz langsam, Benni, sagte er zu sich, und steckte seinen Wohnungsschlüssel ins Schloss. Er passte , nichts klemmte. Kann ja vorkommen, dachte er, dass ein Schlüssel in eine andere Wohnung passt, dass hatte es sogar schon mit Autoschlüsseln gegeben. Ein Bekannter von Ben war schon einmal mit einem fremden Auto los gefahren und hatte es erst später bemerkt. Ben öffnete die Tür und war darauf gefasst, die Frau mit ihren zwei kleinen Kindern wieder anzutreffen. Aber was Ben geschah, verschlug ihm total die Sprache. Er war wieder nicht in seiner Wohnung und er wollte schon ganz schnell flüchten, als er bemerkte, wo er war. Ben machte sich darauf gefasst, dass die Bewohner plötzlich auftauchten und ganz laut "Überraschung!" riefen. Nur das dass hier heute keine Geburtstagsparty war und Christinas Eltern so ein Stilbruch zu Weihnachten auch nicht ähnlich sah. Weihnachten war ihnen heilig und alles lief nach einem bestimmten Ritual ab. Dazu gehörte auf keinen Fall, Benn oder irgendjemand anderes an diesem Abend einen Streich zu spielen. Das verrückteste an der ganzen Sache war, wie war Ben hier her gekommen? Er war in seine Wohnung gegangen, oder was zumindest bis vor kurzem noch die Wohnung von Ihm gewesen war, und jetzt war er bei Christina und ihren Eltern gelandet. Das war, das war.... Ben fand einfach keine Worte dafür. Er und seine Schwiegereltern in spe wohnten dreißig Kilometer entfernt. Er war nicht auf die Straße gegangen, hatte keinen verdammten Fuß vor die verschneite Haustür gesetzt. Da! Seine Schuhe waren völlig trocken, keine einzige Tapse war zusehen und draußen war alles voller Schneematsch. Panik kam in ihm hoch und er hätte fast laut geschrieen, als jemand ihn am Ärmel zupfte.
"Hast du Geschenke für mich mit, Weihnachtsmann?"
Vor ihm stand ein vierjähriges Mädchen, Christinas Nichte, fiel Ben ein. Ihr Bruder war mit seiner Frau und Tochter zu Besuch, für die Kleine hatten sie auch etwas gekauft, aber das Geschenk hatte Ben noch zu Hause liegen, er wollte es ihr morgen früh persönlich geben. Er konnte ja nicht wissen, dass er heute Abend hier als Weihnachtsmann aufkreuzen würde.
"Oh, der Weihnachtsmann ist da!" rief Christinas Bruder den Anderen zu, als er in das Zimmer geschaut hatte, weil er sich wunderte, mit wem seine Tochter sprach.
Dass Tim ihn nicht erkannt hatte war nicht weiter verwunderlich für Ben, sie hatten sich erst zweimal gesehen, aber als die anderen herein kamen und niemand ein Zeichen des Erkennens gab, wurde ihm doch mulmig zumute.
Sie sagen nichts wegen der Kleinen, so wird es sein, dachte Ben. Aber was mach ich jetzt ohne ein Geschenk? In dem Sack befand sich nichts mehr, er hatte dieses Ding vorhin bis zum Boden aufgerollt, nicht einmal ein Apfel oder eine kleine Nuss konnten sich darin noch versteckt haben. Doch als Ben den Sack auf dem Boden ablegte, vernahm er ein leises rascheln, wie von Geschenkpapier, das sich an dem Stoff von dem Sack rieb. Aber das war unmöglich, er und auch die beiden Kinder hatten den Sack vorhin gründlich durchsucht und als Ben jetzt seinen Arm in den Sack steckte, konnte er ein großes Päckchen fühlen. Er wurde blass und alles drehte sich um ihn. War er plötzlich verrückt geworden? Ein magischer Sack, der sich immer dann füllte, wenn es gerade gebraucht wurde? Halt! Dieser Sack stammte nicht aus diesem mysteriösen Laden, diesen Sack hatte er von Roland bekommen, der die Geschenke, die Ben verteilen sollte, darin eingepackt hatte.
Christinas Nichte hatte soeben ihr Weihnachtsgedicht beendet und sah ihn jetzt erwartungsvoll an, was der Weihnachtsmann ihr geben würde. Der Weihnachtsmann, selbst genau so gespannt wie das kleine Mädchen, holte aus dem Sack das Paket, welches er vorhin gefühlt hatte, und dieses Paket sah genau so aus wie das, das er zusammen mit Christina für Anne, so hieß das Mädchen, fiel ihm jetzt wieder ein, gekauft hatte. Anne riss sofort neugierig das Papier ab und als sie den Karton entfernte kam die Puppe zum Vorschein, die er mit Christina ausgesucht hatte.
"Ist das nicht lieb von Ben, dass er sein Geschenk mit einem Weihnachtsmann vorbei schickt, wenn er selbst nicht hier sein kann?" sagte Christinas Mutter zu ihrer Tochter. Niemals hätte Ben gedacht, dass gerade sie ihn verteidigen würde. Aber dass sie ihn nicht erkannt hatte, Christina wahrscheinlich ebenso wenig! Sie kam jetzt auf ihn zu und bot ihm einen Schnaps an. Christina wusste ganz genau, dass Ben keinen Schnaps, welche Marke auch immer, trank. Bier, Sekt oder Wein, ja. Aber hochprozentiges mochte er einfach nicht. Ben gab Christina ein Zeichen, dass sie ihm mit auf den Flur folgen sollte. Als sie allein waren, fragte Ben sie, ob sie ihn denn nicht erkenne.
"Ich wüsste nicht", gab Christina ihm zur Antwort. "Ihre Stimme erinnert mich ein bisschen an Ben, sie müssen mir schon sagen, woher wir uns kennen."
"Ich bin es! Christina, ich bin Ben! Erkennst du mich denn wirklich nicht?" Dabei zog und zerrte Ben an seinem Fellbart, damit sie sein Gesicht sehen konnte. Aber dieses vermaledeite saß so fest, dass Ben ihn einfach nicht ab bekam.
"Tut mir leid, aber zu solchen Scherzen bin ich im Moment nicht aufgelegt", sagte Christina zu ihm. "Meinen Freund würde ich auch als Weihnachtsmann verkleidet erkennen."
Ben griff mechanisch nach seinem jetzt wieder leeren Sack und flüchtete panikartig aus der Wohnung. Aber er landete nicht im Schnee, die Treppen konnte Ben noch erkennen, die bei Christinas Eltern in den Vorgarten führten, dann fand er sich neben seiner eigenen Wohnung wieder. Ganz ruhig, Ben, sagte er zu sich selbst. Das alles hier muss eine vernünftige Erklärung haben. Ben überlegte angestrengt, was er heute zu sich genommen hatte. In irgendeinem Essen oder Getränk musste eine Droge gewesen sein. Ob Roland vielleicht? Nein, das glaubte Ben nicht. Ihm fiel ein, dass er das Glas Wein, das er bei Ben bekommen hatte, überhaupt nicht angerührt hatte, weil er es so eilig gehabt hatte, aus diesem Kostüm wieder heraus zu schlüpfen. Richtig, dieses verdammte Kostüm. Genau das war es. Ben kam nicht in den Sinn, dass diese vernünftige Erklärung, dass sein Trauma mit diesem Weihnachtsmannkostüm zusammenhing, genau so unrealistisch war, wie alles, was er heute Abend erlebt hatte. Er kam, solange er diesen Mantel trug, nicht in seine Wohnung. Soviel glaubte Ben verstanden zu haben. Das Problem war nur, dieser Mantel schien mit seiner Haut verwachsen zu sein, genau wie dieser Bart, den er vorhin bei Christina nicht abbekommen hatte, damit sie ihn erkannte. Und die Mütze, Ben zog daran herum, nichts. Wenn in diesem Moment jemand Bens Korridor entlang gekommen wäre, so hätte Ben den heutigen Abend sicherlich in einer psychiatrischen Klinik verbracht. Ein verkleideter Mann stand da vor einer Wohnung, brabbelte wirres Zeug vor sich hin und zog und zerrte an seiner Verkleidung herum, die ihm wie am Leib festzukleben schien. Ben war den Tränen nahe und er steigerte sich in immer größer werdende Panik hinein, da kam ihm ein Gedanke, der ihm etwas Normalität zurück brachte. Dieser Gedanke hieß Roland. Roland hatte ihn vorhin in seinem Kostüm gesehen und was noch viel wichtiger war, er hatte Ben erkannt. Ben raffte sich auf und ging einen Stock nach unten, dabei schleifte er immer noch seinen Weihnachtmannsack hinter sich her. Hätte man ihn gefragt, warum, dann hätte Ben sicherlich keine Antwort darauf gewusst. Das Weihnachtsmannspiel war heute Abend für ihn vorbei, keinen Fuß würde Ben in dieser Nacht noch einmal in seine Wohnung setzen, denn seine Wohnungstür war heute nicht ganz geheuer. Jetzt stand er vor Roland seiner Eingangstür und Ben drückte auf die Klingel. Aber Roland kam nicht heraus und auch nicht seine Frau sowie keines seiner Kinder. Ben bemerkte, dass die Tür einem winzigen Spalt offen stand, was er vorhin nicht bemerkt hatte. Aus der Wohnung war kein Laut zu hören. "Roland!" rief Ben. Nichts. Sie waren doch um die Zeit noch nicht in der Kirche, dachte Ben. Er machte sich allmählich Sorgen um sie, die offenstehende Eingangstür und kein Laut aus ihrer Wohnung, normalerweise konnte man die Kinder schon durch die geschlossene Tür hören. Ben stieß die Tür ganz auf und ging hinein und wieder geschah dass, was er heute unter jeden Umständen hatte vermeiden wollen. Doch diesmal fand Ben sich nicht in einer fremden Wohnung wieder sondern es war dunkel und er fror. Sein Mantel und seine Mütze waren weiß vom Schnee, obwohl Ben erst einen kurzen Augenblick da gestanden hatte. Er sah das Feuer, es war ein ganzes Stück von ihm entfernt, sah die Männer, die um das Feuer herumstanden, ihre bärtigen Gesichter, die vom Feuer rötlich schimmerten. Ben ging auf das Feuer zu, was blieb ihm auch weiter übrig. Die Tür war verschwunden, ihm war kalt und dort vorn loderte ein Feuer. Als Ben näher kam, löste sich einer der Männer von der Gruppe und ging Ben entgegen.
"Wo bin ich hier?" fragte Ben ihn, und was macht ihr hier?"
"Wir feiern heute das Fest der Begegnungen", gab ihm der Mann zur Antwort.
"Und was soll das sein? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Ihr seid wohl auch keine besonderen Weihnachtsfans, wenn ihr euch hier draußen im Wald ohne eure Familien amüsiert?"
Der Mann sah Ben an und brach dann in ein lautes Gelächter aus.
"Du sprichst eine ulkige Sprache, Fremder. Genau so lustig sehen deine Kleider aus. Was ist das, Weihnachten?"
Ben glaubte sich veralbert. Man konnte ja geteilter Meinung sein, aber was Weihnachten war, das wusste schließlich Jeder.
"Ich trage ein Weihnachtsmannkostüm, weil ich heute als Weihnachtsmann unterwegs war. Normalerweise laufe ich nicht so rum. Aber jetzt ist mir kalt und ich habe Hunger, aber irgendetwas hindert mich daran, in meine Wohnung zu gelangen. Ich weiß, dass sich das total verrückt anhört."
Der Mann sah Ben interessiert an und musterte ihn.
"Komm mit", sprach der Fremde zu Ben. Als sie sich dem Feuer näherten, rief Bens Begleiter den anderen Männern zu: "Hier bringe ich euch den Ulates. Er ist der Verkünder der Geburt des Conchobar."
Ben glaubte, dass er vom Regen in die Traufe gekommen war. Er war hier unter Verrückten gelandet, Es gab also wirklich noch Leute, die verrückter als er selbst waren. Aber ob das Ben als Trost sehen konnte, war ihm nicht so recht klar. Keine Tür mehr da, durch die er zurück konnte und vor ihm diese Bekloppten, die allesamt aus einer Irrenanstalt abgehauen waren. Als Ben näher kam, roch er gebratenes Schweinefleisch und sein Magen brach sofort in lautes Knurren aus.
"Komm her und setz dich zu uns, Fremder", sagte ein großer Hüne zu ihm, der mindestens zwei Meter groß war. Er ging zu dem Bratspieß, welcher über dem Feuer hing und brachte Ben ein großes Stück Fleisch.
"Teile mit uns das Fleisch des Mananann". Dann reichte er Ben auch noch einen Krug gefüllt mit Wein.
"Was tut ihr hier am Weihnachtsabend", wollte Ben jetzt von ihm wissen.
Dieser sah ihn erst genau so erstaunt an wie jener Mann, der Ben zu dem Feuer geführt hatte.
"Du meinst, heute nacht ist die "Autre Monde", die Nacht der anderen Welt. Das ist die Nacht der Begegnungen zwischen Lebenden und Toten, die Hügel, in denen Götter und Helden wohnen werden zugänglich und die beiden Reiche werden voneinander durchdrungen. Du, mein Freund bist in die Autre Monde gereist. Feiere mit uns diese Nacht, diese Nacht in der Mac Oc empfangen als auch geboren wird."
"Sagt mir wenigstens wo wir uns hier befinden", brachte Ben mit vollgestopftem Mund hervor.
"Siehst du das denn nicht. An der Grenze und die Pforten werden niemals geschlossen. Nur in der heutigen Nacht sind sie leichter passierbarer", gab ihm derselbe Mann zur Antwort.
Als sie alle reichlich gegessen und getrunken hatten, tanzten die Männer um das Feuer und sangen Lieder in einer Ben unverständlichen Sprache. Unverschlossene Pforten gut und schön, dachte Ben, nur wäre es ihm lieber gewesen, wenn sie ihm diese Pforten auch gezeigt hätten. Ben stand auf und machte sich auf den Weg. Schließlich konnte er ja nicht für immer und ewig hier sitzen bleiben und außerdem wartete Christina heute noch auf ihn. Wenn er nicht kam, würde sie sich bestimmt Sorgen machen, dass ihm vielleicht etwas passiert wäre. Wie gern würde Ben jetzt mit ihr bei ihren Eltern am Kamin sitzen, er würde mit Innbrunst und am lautesten Weihnachtslieder singen, wenn er diesen schrecklichen Alptraum nur beenden könnte. Aber das hier war kein Traum, auch nicht unbedingt die Realität, wie Ben sie kannte, aber eindeutig kein Traum. Ben ging den gleichen Weg zurück, den er vorhin zu dem Feuer genommen hatte. Die Nacht war dunkel, aber das Feuer erhellte noch weit den Weg, auf dem Ben jetzt ging. Als er sich noch einmal nach den Männern umsah, wie sie da so zusammen um das Feuer tanzten, wurde Ben plötzlich bewusst, wieso sie das taten. Sie feierten auch Weihnachten, nur eben anders, als Ben es kannte. Natürlich, dass ihm das nicht gleich eingefallen war, die Männer waren bestimmt Druiden. Von denen und ihren Bräuchen sollten es immer noch Einige geben. Ob man dieses Fest nun Autre Monde nannte oder Weihnachten oder Wintersonnenwende bei den Heiden, keine Ahnung was noch alles, war es doch immer das selbe Prinzip und Ben wurde schlagartig klar, was dieser große Mann gemeint hatte, als er sagte, dass dies die Nacht der anderen Welt wäre und die beiden Reiche heute voneinander durchdrungen wurden. Diese ganzen Rituale, ob Mitternachtsmesse oder das, was die Männer hier taten, dienten dazu, sich vor der Magie zu schützen und nicht ungewollt eine Pforte aufzustoßen, so wie Ben es getan hatte. Weihnachten war die magischste Nacht des Jahres und die Grenzen wurden fließend, nur konnte niemand sagen, wo diese Grenzen eigentlich waren. Man schützte sich davor, in dem man mit anderen Menschen beisammen war und wehe denen, die Niemanden hatten. Ben verstand jetzt die Ängste und Depressionen solcher Leute. Das alles taten die Menschen natürlich unbewusst, man tarnte seine unbewussten Urängste mit Weihnachtsstress und Liebe war auch ein uraltes Mittel, um böse Geister zu verjagen, dass konnte man in jedem Märchen nachlesen. Man machte seinen Lieben Geschenke und verbrachte mit ihnen gemeinsam die Autre Monde um nicht durch eine solche Pforte zu fallen wie Ben. Und manchmal war eine solche Pforte eine alte, mit Brettern vernagelte Tür. Roland war nicht Schuld daran, er hatte den Gutschein wirklich von einem Bekannten besorgen lassen, und dieser Bekannte von Roland kannte Ben nicht. Alles Zufall? Das glaubte Ben nicht. Aber er, Ben, hatte die Wahl gehabt, genau wie der alte Mann in dem Laden es ihm gesagt hatte. Ben hätte pünktlich sein können, er hätte das Kostüm nicht nehmen brauchen, er hätte nicht den Weihnachtsmann spielen müssen und so weiter. Sicher gab es noch Möglichkeiten, doch das brachte Ben nicht weiter. Er könnte hier auch stehen bleiben und erfrieren oder weitergehen und eine offene Pforte suchen. Würde er sie erkennen? Das wusste Ben nicht, aber zumindest war er heute schon durch einige unfreiwillig gefallen. Ben machte sich auf den Weg. Der Pfad wurde immer enger und schmaler, er stolperte in der Dunkelheit über Wurzeln, und er glaubte, dass er hier niemals wieder aus dem Wald finden würde. Als Ben sich an einem Baumstamm festhielt, weil er sonst gestürzt wäre, sah er etwas höchst Sonderbares. An diesem Baum, mitten im Wald, war ein Klingelknopf befestigt. Ben überlegte, wo er so einen alten schmutzigen Klingelknopf schon einmal gesehen hatte und da fiel es ihm wieder ein. Das war das Ding an der vernagelten Tür, wo Ben das Kostüm abgeholt hatte. Das war seine Pforte. Ben drückte auf den Knopf und augenblicklich verwandelte sich der Baum in die Tür, durch die Ben gestern Abend gegangen war. Er drückte auf die Klinke und die Tür ging genauso knarrend auf, wie Ben es in Erinnerung hatte.
Als er eintrat stand der alte Mann schon im Laden und wartete auf ihn.
"Du kannst den Mantel und alles Übrige jetzt ausziehen, Ben", sagte er zu ihm.
Ben tat wie ihm geheißen und die Sachen fielen von ihm ab, als wenn sie nie so an ihm festgeklebt hätten. Er war froh, diese Sachen endlich los zu sein, aber Ben hatte noch ein Problem. Er hatte zwar eine lange Hose unter dem Mantel an gehabt, aber da er ja nicht auf die Straße gemusst hatte und der Mantel ziemlich warm gewesen war, hatte Ben nur ein Unterhemd darunter getragen. Wenn er so nach Hause gehen würde, dann läge er spätestens morgen früh mit einer Lungenentzündung im Bett. Besser eine Lungenentzündung als diese Sachen auf dem Leib, dachte Ben und wollte zur Tür hinausgehen.
"Einen Moment noch", sprach der alte Mann hinter ihm.
Als Ben sich umsah, hielt dieser ihm seinen Pullover und seinen Anorak, den er heute Morgen getragen hatte, entgegen. Ben war sprachlos. Wie kam der nur an seine Sachen. Ben zog sich schnell an. Er wollte keine Minute länger als nötig hier zubringen.
"Sie denken wirklich an Alles?" sagte Ben zu dem Mann.
Dieser kicherte nur leise vor sich hin. Als Ben schon fast aus der Tür getreten war, rief er ihm mit seiner kratzenden Stimme noch hinterher: "Magie liegt im Detail, Ben. Vergiss das nie."
Dann war die Tür geschlossen und Ben begab sich auf den Heimweg. Er lief lieber durch erleuchtete Straßen, obwohl er eine Abkürzung kannte. Aber die war ihm zu dunkel. In einer solchen Nacht konnte man ja nie wissen, und Ben wollte auf keinen Fall versehentlich noch mal durch eine Pforte gehen. Als er zu Hause ankam stockte er kurz, als er seinen Schlüssel im Schloss umdrehte und hineingehen wollte. Aber er konnte ja wohl schlecht die restliche Nacht hier auf dem Gang verbringen. Außerdem musste er unbedingt Christina anrufen, sie machte sich bestimmt schon schreckliche Sorgen um ihn. Kurz entschlossen trat Ben ein und stand im Dunkeln. Er griff nach dem Lichtschalter und war zu Hause. Ben konnte sich nicht erinnern, jemals so froh gewesen zu sein, wieder nach Hause zu kommen.

Epilog
Nach etwa einem Monat siegte bei Ben die Neugier über die Angst und er suchte den Kostümverleih am hellen Tag auf. Als er näher kam, sah er, dass drinnen Licht brannte und durch die Vordertür kam soeben ein Kunde heraus. Ben ging mit gemischten Gefühlen in den Laden, aber seine Angst war völlig unbegründet gewesen. Hier drinnen war es hell und die Sachen hingen übersichtlich aufgereiht in sauberen Kleiderständern.
"Kann ich Ihnen helfen?"
Hinter Ben stand ein Verkäufer der dem alten Mann nicht im Geringsten ähnlich sah.
"Sind Sie der Inhaber?" fragte Ben ihn.
"Ja, Der Laden gehört mir und vor mir schon meinem Vater", gab dieser ihm zur Antwort.
Ben hatte auch nicht wirklich geglaubt, den alten Mann vom Weihnachtsabend hier zu treffen. Ben verabschiedete sich und trat aus dem Geschäft. Langsam lief er um die Ecke und kam zu der alten Tür, die mit Brettern vernagelt war. Ben ging dichter heran und sah, dass diese Tür, so vernagelt wie sie war, sich unmöglich mit rechten Dingen geöffnet haben konnte. Aber vor einem Monat hatte er eben nicht so darauf geachtet, da wollte er einfach nur ein Kostüm haben und dunkel war es da auch schon gewesen. Als Ben zu dem Klingelknopf sah, der unter Garantie keine Funktion mehr erfüllte, bemerkte er ein Namensschild darunter, das ihn an dem Abend gar nicht aufgefallen war. Auf diesem Schild stand:
"Autre Monde - Die andere Welt"
Für jeden Anderen hätte dieses Schild eine Reklame sein können für einen Kostümverleih, aber Ben wusste es besser.


Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.


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