Sie war wohl nicht mehr die Jüngste …
© Elke Link
"Was sich mein Frauchen da wieder ausgedacht hat, mich auf meine alten Tage noch in diese Tierarztpraxis zu schleppen?" schien Senta, eine alte vornehme Colly-Hündin, zu denken.
Sie saß da, neben Marianne, ihrer Besitzerin, die ziemlich gelangweilt in Sentas Impfpass herumblätterte. Kerzengerade saß Senta da, als hätte sie einen Spazierstock verschluckt. Sie hätte sich niemals auf den Boden gelegt, so wie es zum Beispiel der junge tapsige Boxer tat.
Er hatte sich der Länge nach, irgendwo mitten in den Raum geflegelt, hatte ständig seine lange von Speichel triefende Zunge heraushängen, die er sich ab und zu mal tüchtig abschüttelte.
"Nein, was hat er für ein faltiges Gesicht? Sieht schon richtig alt aus. Nur seine Augen sind noch jung", schien Senta zu denken, denn sie schüttelte etwas erstaunt ihren schlanken eleganten Kopf.
Neben ihr saß ein schwarzer Labrador, der ziemlich verkniffen dreinblickte.
"Ob er womöglich Zahnschmerzen hat?" durchfuhr es Senta. "Er hat noch nicht mal ein Lächeln für mich übrig. Wo ich ihn doch ständig anlächele und er vorhin schon mal kurzen Augenkontakt mit mir hatte".
Es ärgerte Senta ein wenig, dass sie, wo sie es doch ihr Leben lang gewohnt war, beachtet zu werden, diesmal leer ausgehen sollte.
Der Unbekannte stand plötzlich auf, schüttelte sich ergiebig, drehte sich um und streckte ihr sein Hinterteil entgegen.
"Pfui, schäm Dich", raunte Senta ihm zu. "Gehört sich nicht, kommst wohl aus keiner guten Kinderstube? Eine Dame schaut man an, und streckt ihr nicht den Hintern hin!"
Den schwarzen Herrn schienen Sentas Worte überhaupt nicht zu interessieren. Er schaute in die andere Richtung - und - zu Sentas Entsetzen - begann er auch noch zu allem Überfluss mit einer ganz jungen, viel zu jungen - Basset-Hündin zu flirten.
"Nein, aber wirklich", quetschte sich Senta raus, "wie kann man denn nur nach einer Basset-Hündin schauen! Als wenn es keine schöneren edleren Hündinnen gäbe. Schaut er denn nicht mal auf die Figur? Auf die Beine? Diese viel zu kurz geratenen Dackel-Beine und den überproportional großen Körper? Und dann dieser Kopf, diese Augen, dieser dämliche Blick mit dem immer offen stehenden Maul? Nein wirklich! Immer nur Sex im Kopf!" Senta schaute empört durch die ganze Runde.
"Ob den anderen das auch auffällt? Dieser geile Blick! Peinlich, wie der Schwarze so unverblümt der langen kurzbeinigen Dicken den Hof macht."
Es war gut, dass sich die Situation veränderte und Senta auf andere Gedanken kommen konnte. Die Türe flog auf und alle Augen richteten sich auf Jacqueline.
Ja - sie hieß Jacqueline, denn ihr Frauchen, die ungeheuerlich viel Wirbel machte, rief ständig diesen Namen.
"Ja, wir haben`s ja gehört, dass sie Jacqueline heißt, und wir haben sie schon alle gerochen. Parfum!!! Igitt!!! Ein kleiner Nuttenpfiffi ist sie - sonst nichts! Impertinent, mit einem solchen Outfit hier zu erscheinen! Mit Schleifchen im Haar und einem Mäntelchen aus karriertem englischem Jacquard-Stoff - eigentlich richtig peinlich!"
Gut, dass niemand Sentas Gedanken lesen konnte. Es wäre ihr doch nicht recht gewesen, hätte irgendeiner der ´Patienten` hier, ihre Gedanken erfahren. Es brauchte ja keiner zu wissen, dass sie sich immer so ärgerte über diese jungen Dinger da, die mir nichts - dir nichts - einfach erschienen, und der ganzen Männerwelt den Kopf verdrehten. Aber eigentlich ärgerte sie sich nur über sich selbst, weil sie schon so alt war, und für die jungen knackigen Kerle nicht mehr infrage kam.
Ach, wie oft schloß sie die Augen und schwelgte in Träumen, zurück in vergangene Zeiten, als sie - von allen bewundert - immer die Nr. 1 war.
"Aber heute achtet ja keiner mehr auf eine gute Kinderstube, auf Bildung, Erziehung, Stammbaum und Klasse, heute treibens die jungen Rüden mit allen - und seien es auch schon mal solche, raffinierten, billig aussehende, ungebildete Modehunde. Einfach geil sind sie - laufen jeder hinterher," schien Senta zu denken. Sie drehte sich einfach um, schaute jetzt mittlerweile in Richtung Wand. Nein - sie wollte sich das Elend nicht länger anschauen. Schluss, aus!
Schon wieder öffnete sich die Türe und ein großer Korb wurde von irgendwem ins Wartezimmer geschoben. Ein Riesenkorb stand da plötzlich mitten im Raum.
Da musste sich Senta doch mal wieder umdrehen. Es reizte sie ja auch, genau wie alle anderen ungemein, endlich zu erfahren, was da in diesem Korb war.
Jacqueline spitzte ihre Öhrchen, der Schwarze hob seine Nase etwas hoch, schaute ungeduldig sein Herrchen an, als wartete er auf einen Befehl; der Spucke-schlappernde Boxer bequemte sich endlich mal aufzustehen und auch die langweilige gutmütige Basset-Dame drehte ihren Kopf.
Es war eine aufkommende Spannung zu erkennen, jeder wollte wissen, was denn wohl in dem Korb sei.
Es herrschte Totenstille.
Die nasse Hundeschnauze des Schwarzen hob sich etwas an und begann zu vibrieren.
Alle waren mucksmäuschenstill, bis dann ein kaum wahrnehmbarer Laut aus dem Inneren des Korbes drang, was die anderen erahnen ließ, dass der Korb nicht leer war.
Wieder tat sich einige Minuten lang nichts.
Der Boxer ließ sich wieder plump auf den Boden fallen, die unförmige Basset-Hündin verkroch sich unter dem Tisch, Jacqueline hüpfte kokett auf Frauchens Schoß und knabberte ihr etwas am Ohr, der Schwarze war plötzlich total angetörnt von Jacquelines Charme und ließ die langweilige Basset-Hündin links liegen.
Doch Senta ließ sich nicht irritieren…sie wusste, dass Gefahr "im Raume stand". Sie witterte es…ein unbekannter, artfremder, undefinierbarer, exotischer, dennoch interessanter Geruch…
Neben dem Korb saß ein junger Mann, der einen Turban trug.
"Ausländer - wo der wohl herkommt", schoss es Senta durch den Kopf.
"Ob der wohl deutsch spricht? Und sein Hund da, in dem Korb, ob DER wenigstens deutsch spricht?"
Irgendwie war sie plötzlich da, die Flöte.
Und der junge Mann begann - hier im Wartezimmer der Tierarztpraxis - eine orientalische Weise zu spielen.
"Das ist doch wohl die Höhe!" durchfuhr es Senta.
Aber auch alle anderen im Wartezimmer waren plötzlich hellwach, alle saßen mittlerweile kerzengerade da, zum Sprung bereit, eine besondere Mischung - aber Einheit demonstrierend.
So etwas hatte es noch nie gegeben! Solch eine Frechheit, solch eine Impertinenz. Ohne Rücksicht auf die Gebrechen der Patienten wurde hier einfach ohne Erlaubnis Flöte gespielt.
Die Tierarzthelferin schaute überrascht hinter ihrem Tresen hervor, aber auch sie war wohl nicht in der Lage, dem Flötenspieler Einhalt zu gebieten.
Es war eine knisternde Atmosphäre, kein Mucks war zu hören, jeder wartete auf den anderen, der irgendwann losbellen würde….
Dennoch war es eine angenehme beruhigende Melodie, die der junge Flötenspieler zum Besten gab…
Den fröhlich dreinblickenden jungen Mann im Auge behaltend, gleichzeitig immer wieder auf den Korb blickend, saßen sie da…wie zu Salzsäulen erstarrt.
Die Uhr tickte gleichmäßig vor sich hin, das Telefon läutete ein paar Mal, dem Schwarzen schien irgendwann das Flöten-Gedudel zu gefallen, er legte seinen mächtigen Kopf etwas zur Seite, als sei er ein Musikkenner, der gleich noch applaudieren wolle.
Jaqueline wachte auch aus ihrer Verspanntheit, sprang vom Schoß ihres Frauchens und begann zu tanzen. Die gemütliche Basset-Dame schien mittlerweile eingeschlafen zu sein und der Boxer legte seinen Kopf auf den Boden und beobachtete die Szene mit immer noch triefenden Lefzen.
Alle Augen waren nach wie vor auf die Flöte gerichtet, der angenehmen Melodie lauschend und keiner, außer Senta bemerkte die Schlange, die sich mittels eleganter rhythmischer Bewegungen aus dem Korb schlängelte und zur Musik tanzte. Hoch und runter, mal nach rechts gebeugt, mal nach links, und ihre Augen funkelten, weil sie bemerkte, dass sie die Situation beherrschte.
"Wie eine Königin", entfuhr es bewundernd dem Schwarzen, dem dieser Anblick nicht entgangen war.
Senta hätte zu gerne zugegeben, dass sie überrascht war. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ein solches Tier, wenn man es überhaupt Tier nennen konnte, hatte sie noch nie gesehen. Ungeheuerlich!
"Der Nächste bitte", hörte Senta die Sprechstundenhilfe rufen und war irgendwie dann doch froh, als Marianne aufstand und mit ihr in Richtung Behandlungszimmer ging.
Es war schon ziemlich niederschmetternd, wie ihr heute von allen Seiten die Schau gestohlen wurde. Sie war halt nicht mehr die Jüngste….
Es hat ihr mal heute wieder gereicht, diese ernüchternde Vor-Augen-Führung der Realität. Ob sie den Tierarzt wechseln würde, wollte sie sich noch überlegen.
Eingereicht am 06. Februar 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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