Der schöne Schein trügt
© Marion Treche
'Die erwischen wir doch mit links!', dachten wohl zwei Polizisten, als sie vor einigen Jahren während einer Streifenfahrt nahe des Tierparks auf zwei ausgerückte Pfauenpärchen stießen. Die beiden Hennen waren schnell eingefangen und ins Gehege zurücktransportiert. Doch als die Polizeibeamten die Pfauenhähne ergreifen wollten, erlebten sie eine schmerzhafte
Überraschung: Kampfstieren gleich gingen die Prachtvögel auf die beiden Ordnungshüter los und zerkratzten deren Hände und Gesichter. Auch die Uniformen blieben nicht unversehrt. Fluchtartig retteten sich die gebeutelten Polizisten in ihren Streifenwagen. Die beiden Pfauen dagegen stolzierten freiwillig, aber mit triumphalem Getröte zurück zu ihren Weibchen ins Zoogehege.
In Zoos und Tierparks auf der ganzen Welt vermögen Pfauenhähne das menschliche Auge mit märchenhafter Farbenpracht zu verwöhnen, wenn sie die Schleppe ihrer Schmuckfedern zu einem Rad fächern. Da erstrahlen dann über hundert Augen in berauschendem Glanz - einem Himmel gleich, an dem die Sterne nur so funkeln. Und dennoch: Der schöne Schein trügt. Pfauen sind ausgesprochen angriffslustig und verfügen über eine enorme Kampfkraft.
Lebensuntüchtig und geziert sind sie kein bisschen.
In seiner indischen Heimat wird der Pfau als Beschützer gegen wilde Tiere sogar richtig gern gesehen. Er verspeist mit Vorliebe Schlangen, und selbst beachtliche Raubtiere wie Mungos, Streifenhyänen und verschiedene Raubkatzenarten trauen sich kaum in die Nähe des Prachtvogels, weil er ihnen mit Sicherheit ordentlich das Fell gerben würde. Überhaupt greifen Pfaue gern jeden an, der ihnen vor den Schnabel läuft - ganz gleich ob Tier oder Mensch.
Der Pfau hat aber auch Feinde, gegen die er nicht ankommt, wie beispielsweise Tiger oder Leoparden. Aber springt der Pfau durch sein schillerndes und funkelndes Balzkleid dem Feind nicht geradezu ins Auge?
Beileibe nicht, denn sein Federkleid ist - zumindest in seiner Heimat, dem indischen Dschungel - die perfekte Tarnung. Die Sonne dringt nur spärlich durch das Blätterdach des Regenwaldes und zeichnet auf den wenigen beschienenen Stellen kleine Lichtkreise, die teilweise bunt schillern - genau wie die Schmuckfedern des Pfaus.
Die Pfauenweibchen sind zwar wesentlich schlichter gefiedert als ihre männlichen Gegenstücke, sind aber in Sachen Fortpflanzung federführend. Je unauffälliger die Prachtentfaltung eines Hahnes, desto geringer stehen für ihn die Chancen, eine Henne abzubekommen. Das schönste Pfauenmännchen ist gleichsam das kräftigste und beherrscht die Kunst des Überlebens. Und nur ein so hervorragend veranlagter Hahn ist für das anspruchsvolle Weibchen gerade gut genug.
Die vielen rätselhaften "Augen" auf seinen Schmuckfedern steigern die Chancen für den liebeshungrigen Pfauenhahn. Denn der Anblick von zwei Augen hat im Tierreich eine besonders nachhaltige Wirkung: Zum einen starrt ein Tier ein anderes mit regungslosen Augen an, wenn es das zukünftige Opfer fressen will. Dann gibt es noch den fürsorglichen Blick einer Tiermutter auf ihre Sprösslinge, und auch bei der Balz spielt das Anblicken eine wichtige Rolle.
Und so entfaltet das Männchen vor den Augen seiner Angebeteten die ganze Pracht seiner Schmuckfedern. Das Weibchen schreitet in den Mittelpunkt des Rades und lässt sich von dem Zauber seiner Schönheit betören. Dabei tut die Henne ganz verlegen und pickt nach nicht vorhandenem Futter auf dem Boden herum - ganz so, als sei sie rein zufällig zum Fressen vorbeigekommen. Der liebestolle Hahn balzt nun um seine Angebetete herum und wartet mit vor Erregung zitternden Federn darauf, dass sie sich vor ihm niederlegt.
Denn erst dann hat er sie wirklich erobert und darf zur Paarung schreiten.
Schönheit ist beim Pfauenhahn also gleichzusetzen mit Kampfkraft, Angriffslust und der Fähigkeit zu überleben. Sein Lebensziel ist es, ein Weibchen zu erobern - und hat er das erst einmal erreicht, will er nicht mehr von ihr weichen.
Hätten die beiden Polizisten das bloß vorher gewusst.
Eingereicht am 24. November 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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