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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Der Mensch und das Tier I

© Jennifer Kirchner

Mein Name ist Paul.
Ich bin ein sechs Jahre alter Staffordshire-Terrier und lebe in New York.
Ich erinnere mich nicht mehr an meine Mutter. Das Erste, an das ich mich erinnere, ist eine Glasscheibe, oder eher gesagt 4 Glasscheiben, die einen engen Raum bilden und ich sitze mitten drin. Ich bekam morgens und abends etwas zu fressen, es schmeckte scheußlich, aber der Hunger trieb es rein.
Der Mann, der mich fütterte, war nicht sehr nett zu mir. Wie alle Menschen, die ich kannte, außer Marc.
Ich muss ziemlich lange in diesem Glaskasten gesessen haben. Irgendwann kam dann Marc. Er war noch jung, vielleicht 10 Jahre alt.
Er kam in den Laden, in dem mein Glaskasten stand, und steuerte direkt auf mich zu, drückte seine Finger an eine Scheibe und sah mich mit seinen großen grünen Augen an. Ich glaube, er mochte mich von Anfang an, genau wie ich ihn. Er holte mich aus dem Glaskasten heraus und streichelte mich. Wohl etwas ruppig, aber immerhin war das für mich eine enorme Abwechslung zu meinem Glaskasten. Er redete lange mit dem Mann, der mich immer fütterte, dann nahm er mich einfach mit. Er nahm mich mit in die große Welt voller Geräusche und Gerüche außerhalb meines Glaskastens. Ich weiß noch, dass es einer meiner schönsten Tage war. Mit Marc.
Marc brachte mich in ein leeres Haus, wo er mich in einen kleinen dunklen Raum einsperrte. Ich will mich nicht beklagen, er war schon viel größer als der Glaskasten und ich konnte endlich mal ein bisschen laufen.
Marc kam jeden Tag und brachte mir etwas zu fressen. Manchmal gutes Fleisch oder Futter aus der Dose. Manchmal nur komische Dinge, die mir Bauchschmerzen machten. Da es nie wirklich viel war, fraß ich jedoch alles was er mitbrachte. Leider vergaß er immer wieder neues Wasser zu bringen.
Ich hatte oft Durst, aber wenn es regnete konnte ich Wasser von den Wänden schlabbern. Irgendwie kam ich schon durch. Und Marc kam jeden Tag und spielte mit mir.
Zwei Monate lang. Jeden Tag.
Ich sah so gut wie nichts von meiner Umgebung. Marc hatte wohl Angst, dass ich weglaufen würde oder das mich jemand sieht. Er war immer leise, wenn er da war. Wahrscheinlich durfte niemand wissen, dass ich dort war.
Aber ich beklage mich nicht. Ich mochte Marc und ich hatte etwas zu fressen. Oft habe ich mich jedoch gefragt ob es nicht noch etwas anderes gab. Außer dem Glaskasten, dem kleinen Raum und Marc.
Nach zwei Monaten dann kam Marc auf einmal nicht mehr. Erst zwei Tage nicht, dann eine Woche nicht. Ich machte mir schreckliche Sorgen.
Wahrscheinlich war ihm etwas zugestoßen. Er hatte mich doch lieb?
Ich hatte Hunger und es regnete einfach nicht.
Nach einer Woche war ich am Ende meiner Kräfte, lag nur noch am Boden und konnte mich nicht mehr bewegen.
Ich weinte aus Kummer um Marc fast den ganzen Tag, irgendwann musste es jemand gehört haben.
Ich weiß noch, dass die Tür aufging und ein großer dunkler Mann herein kam.
Ich bekam Angst und weil ich nicht wusste, was er wollte, knurrte ich ihn erschrocken an.
Dann piekste etwas in meinem Nacken und ich muss eingeschlafen sein.
Ich kam in ein Tierheim. Von dem Glaskasten in einen kleinen Raum und nun ein Zwinger, hell und mit anderen Hunden die ich beriechen konnte.
Ich hatte schon recht viel Glück kann man sagen.
Jeden Tag kamen Menschen an meinem Zwinger vorbei und jeden Tag hoffte ich Marc sei dabei. Aber er kam nicht. Nie.
Dafür kam Joe.
Joe und ich ... wie soll ich sagen. Ich mochte ihn von Anfang an nicht. Er war sehr groß und hatte eine tiefe gefährliche Stimme. Ich hatte Angst vor ihm. Seine Augen waren so leer, ich vermochte es kein einziges mal seinem Blick stand zu halten ohne das ich eine Gänsehaut bekam.
Er machte mir ein stacheliges Halsband um und nahm mich mit. Erst in sein Auto, was toll war, ich konnte einen großen Teil von New York sehen. Unter anderem war da eine große Wiese, mit Bäumen und als wir daran vorbei fuhren schien die Sonne darauf. Es war das schönste was ich bis dahin gesehen hatte. Das schönste was ich je sah. Auf der Wiese sah ich einen großen Hund der hinter einem flachen Ding her rannte und es aus der Luft fing. Stolz trug er es zu einem Menschen der ihn darauf hin lachend streichelte und ihn lobte. So wie Marc mich damals streichelte.
Während meines restlichen Lebens stellte ich mir immer wieder vor, ich sei der Hund auf der Wiese und Marc freute sich, dass ich ihm das flache Ding aus der Luft fing.
Leider war ich nie wirklich auf der Wiese. Aber es sich vorzustellen war immerhin oft ein Trost.
Joe brachte mich wieder in ein altes Haus. Es roch stark nach Exkrementen und ich hörte viele Hunde die leise winselten oder wütend knurrten.
Er sperrte mich in einen kleinen Raum, ohne Fenster. Stock dunkel und ließ mich allein. Nun, der Zwinger im Tierheim wäre mir weit aus lieber gewesen, da war wenigstens Licht und andere Hunde die ich sehen konnte. Hier war nichts außer Kot auf dem Boden und Glasscherben die mir die Füße aufschnitten. Hier drinnen verlor ich schnell das Gefühl für die Zeit. Mir war langweilig und ich traute mich wegen er Scherben kaum zu bewegen. Also legte ich mich einfach hin und träumte von der Wiese und von Marc.
Es dauerte lange bis Joe wieder kam. Ich musste mein Geschäft in dem kleinen Raum machen und Hunger hatte ich auch. Joe zog mich an einer Leine aus dem kleinen Raum und brachte mich in eine große Halle, wo viele Menschen standen und laut riefen. Ich hatte Angst.
Irgendjemand schlug mir auf einmal auf den Kopf. Ich versuchte zu orten woher es kam, aber da waren so viele Menschen. Unsicher wollte ich mich hinlegen, zeigen das ich noch jung war und niemanden etwas tun würde, aber Joe zog mich immer wieder hoch. Andauernd schlug mich jemand und alles schrie durcheinander. Ich wurde wütend. Ich hatte doch niemandem etwas getan, wollte eigentlich nur noch weg, auf die Wiese, zu Marc.
Joe hielt mich erbarmungslos fest und zerrte mich in einen Ring der von einem hohen Zaun umgeben war.
Dort ließ er mich los und verließ den Ring durch eine kleine Türe, die danach zu war. Ich saß fest. Um mich herum die lauten Menschen und keine Möglichkeit sich zu verstecken, oder weg zu rennen. Ich roch Blut auf dem Boden und bekam immer mehr Angst. Ich wollte weg. Nur weg.
Auf einmal hörte ich ein tiefes Knurren aus einer Ecke. Sofort hechtete ich herum und sah dann schon das Grauen auf mich zukommen. Ein anderer Hund, mir ziemlich ähnlich raste mit einem unglaublich aggressiven Gesicht auf mich zu. Er zeigte seine riesigen Zähne und seine Augen waren klein und voller Wut.
Eigentlich wollte ich mich sofort auf den Boden schmeißen um ihm zu zeigen, dass ich niemals anfechten würde das er hier der Boss war. Aber bevor ich das tun konnte hatte er bereits seine Zähne in meinem Nacken gebohrt und schleuderte mich herum. Es tat weh, ich wusste nicht warum er das tat. Ich versuchte weg zu laufen aber sobald ich in die Nähe des Zaunes kam traten die Menschen nach mir. Also hatte ich keine Wahl, ich musste mich wehren.
Jedes Mal, wenn der Hund wieder auf mich zukam wehrte ich ihn ab. Ich war stärker als er. Viel stärker und gewann jeden Zweikampf. Leider hörte er aber nicht auf. Sobald ich ihn wieder von mir gestoßen hatte kam er, mittlerweile stark blutend, auf mich zu um mich zu beißen. Irgendwann hatte ich die Nase voll und zeigte ihm, wo es lang ging. Er hatte angefangen.
Ich biss wohl einmal zu fest zu denn auf einmal winselte er nur noch und brach zusammen. Der Boden war voller Blut und die Menschen schrieen hysterisch - begeistert.
Der andere Hund bewegte sich kaum noch. Der wütende Blick war einem verzweifelten, einsamen Blick gewichen. Auf einmal sah er gar nicht mehr gefährlich aus sondern nur noch traurig. Ich wollte sehen wie es ihm geht, wollte zu ihm aber Joe war auf einmal da und hielt mich fest. Jemand packte den anderen Hund am Schwanz und zog ihn aus dem Ring. Dieses Bild werde ich nie vergessen obwohl ich es danach hunderte Male wieder sah. Ein Mensch zog den Hund einfach aus dem Ring und hinterließ eine dicke Blutspur. Der Hund sah mich die ganze Zeit an. Voller Trauer und Schmerz.
Bevor ich mir darüber weitere Gedanken machen konnte war ich aber schon wieder in meinem kleinen dunklen Raum, einen gammeligen Knochen vor mir und etwas Wasser.
Von da an ging es dann immer so weiter. Ich saß tagelang in dem kleinen Raum, bekam nicht genug zu fressen und konnte mich kaum bewegen.
Alle paar Tage kam Joe und zerrte mich unter Schlägen in den Ring wo ich immer neue Hunde beißen musste bis sie mich in Ruhe ließen. Oft taten sie mir sehr weg, bei einem Kampf verlor ich ein Ohr. Ein Ander mal biss mir jemand ins Auge was zur Folge hatte, das ich nach einer starken Entzündung nichts mehr auf dem Auge sah.
Fünf Jahre lang geht das nun schon so. Ich werde immer wütender, versuche weg zu kommen, zur Wiese damit ich das flache Ding fangen kann. Für Marc.
Joe wird immer brutaler und ich bin jetzt der Hund, der auf den anderen zurennt aus Angst. Damit er mich gar nicht erst beißen kann. Ich gewinne immer. Ich lasse nicht zu das die anderen Hunde mir weh tun. Vorher beiße ich sie so stark, das sie aus dem Ring gezogen werden. Voller Blut. Aber ich habe dann meine Ruhe.
Heute waren ganz viele Leute in dem Haus in dem ich lebe. Ich habe sie gehört. Sie sind in alle Räume gegangen. Zu den anderen Hunden die ich nie gesehen habe.
Irgendwann kam dann auch einer zu mir. Hat erst vorsichtig in den Raum gesehen worauf ich ihn sofort angebellt habe. Er sollte wieder gehen, mich in Ruhe lassen.
Er kam zurück, mit einer langen Stange in der Hand. Am Ende der Stange war eine Schlaufe die er mir um den Hals band und mich in eine Ecke drückte.
Ich war wütend. Heute war ich doch schon in dem Ring, wo mich einer ganz schön am Bein erwischt hatte! Ein Stück meiner Haut hing an meiner Schulter herunter und durch dadurch das mich der Mensch an die Wand drückte tat es höllisch weh. Er sollte aufhören. Sollte verschwinden, also knurrte ich ihn
an und schnappte nach ihm. Aber er ging nicht.
Eine Frau kam herein und sah mich so merkwürdig an. Hielt sich eine Hand vor den Mund und redete traurig auf mich ein. Irgendetwas in ihrem Blick war anders. Ich glaube sie hatte Mitleid mit mir und ich blieb still sitzen. Vielleicht würde sie mit mir auf die Wiese gehen und mit mir Marc suchen? Ich wollte ihr zeigen, dass ich mich freute sie zu sehen. Das sie da war. Aber sie verstand es falsch und wich vor mir zurück. Vielleicht bellte ich zu euphorisch?
Irgendetwas piekste mich in den Hintern. Es brannte auf einmal. Alles in mir schien zu brennen und ich musste mich hinlegen.
Die Menschen gingen wieder und schlossen die Tür hinter sich. Ich war wieder allein, im Dunkeln. Aber ich wollte doch mit der Frau gehen. Wollte mit ihr zur Wiese! Zu Marc!
Mit letzter Kraft habe ich mich nun zur Türe geschleppt. Hoffe das sie zurück kommt. Um mich herum dreht sich alles. Alles tut weh. Ich weiß, wenn ich jetzt einschlafe, werde ich nicht mehr wach. Ich spüre es. Ich werde sterben. Hier in der Dunkelheit. Allein unter Schmerzen, mit denen ich mich längst abgefunden habe.
Wie gerne wäre ich einmal auf der Wiese gewesen. Frei und an der Luft. Wie gerne wäre ich einmal einfach nur gerannt. Ohne Angst zu haben das mich jemand schlägt oder ein anderer Hund mich beißt. Wie gerne hätte ich Marc noch einmal gesehen. Er mochte mich.



Eingereicht am 26. August 2005.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.



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