Lust am Lesen
Lust am Schreiben
Ramon Rasanti wartet auf Miguel
Von Claudia Gürtler
Ramon Rasanti war nicht mehr ganz der alte.
Leider, leider!
In seinem neunzehnten Katerjahr lebte er sein neuntes und letztes Leben.
Sein schwarzes Fell war zottig geworden, und da und dort waren weiße Haare
zu sehen. Ramons Augen waren trüb geworden, und morgens taten ihm alle
Knochen weh.
Aber Ramon Rasanti hatte noch etwas vor. An glühend heißen Sommertagen und
an bitterkalten Wintertagen setzte er sich vor sein Lieblingsmauseloch und
wartete.
Er wartete, bis er in der Hitze dampfte. Er wartete, bis in der Winterkälte
sein Bauch am Boden festfror. Er blieb sitzen, auch wenn ihm vor Erschöpfung
die Schnauzhaare zitterten. Er wich nicht von der Stelle, auch wenn er vor
Kälte mit den Zähnen klapperte, sodass alle Mäuse der Gegend gewarnt waren.
An einem Abend im Januar schlug sein Frauchen schon zum siebzehnten Mal die
Gabel an Ramons Fressnapf, und der Kater murrte missmutig: "Was soll denn das? Ich bin ja nicht schwerhörig!"
Ramon saß noch immer draußen auf der Wiese, als der Mond aufging.
Er blieb sitzen, als sein Schutzengel kam und ihm gut zuredete: "Lass es, Ramon Rasanti, stolzester und siegreichster aller Kater!"
"Nein!" raunzte Ramon.
"Genieß dein neuntes und letztes Erdenleben", mahnte der Schutzengel. "Friss das saftige Fleisch aus deinem Napf, leg dich in der warmen Stube
deinem Frauchen auf den Schoss."
"Keine Zeit, hab zu tun", wiederholte Ramon gereizt.
"Du hast so viele Mäuse gejagt", seufzte der Schutzengel ungeduldig, denn
auch er fror an den Füßen.
"Lass diese eine laufen", riet er.
"Diese hier ist mir die Wichtigste", sagte Ramon. "Ich komme erst mit dir in
den Himmel, wenn ich sie erwischt habe. Und wenn's sein muss, bleibe ich
hier sitzen bis in alle Ewigkeit."
Miguel, dem frechsten Mäuserich der Welt, kam es sehr gelegen, dass der
Schutzengel den Kater ablenkte. Zwei Zentimeter vor Ramons Nase sprang er
aus dem Mauseloch. Jauchzend raste er in wilden Sprüngen zwischen in der
Kälte erstarrten Grasbüschen hindurch.
Ramon rannte ihm nach.
"Diesmal erwische ich ihn! Gleich hab ich ihn!"
Was hatte dieser Miguel Ramon schon geärgert!
Miguel wagte einen kühnen Kopfsprung ...
... und verschwand im Mauseloch seines Vetters Manuel.
Ramon versuchte wieder zu Atem zu kommen. War er nicht so schnell gewesen,
als könne er fliegen? Diesmal hätte er ihn erwischen müssen, diesen Miguel!
Ramon Rasanti legte das linke Ohr aufs Mauseloch und lauschte. Drinnen
wisperten und kicherten Miguel und Manuel. Es klang, als wollten sie sich
totlachen.
Bitterkeit schlich sich ins Herz des großen Ramon Rasanti. So hundeelend
konnte sich ein Kater gar nicht fühlen!
"Lass es, Ramon", mahnte die sanfte Stimme des Schutzengels wieder. "Du hast
nicht mehr ewig Zeit, weißt du? Genieß die Tage, die dir noch bleiben. Leg
dich in den Schoss von Frauchen. Roll dich zusammen. Sie wartet darauf."
"Hab zu tun, das siehst du doch", maulte Ramon matt. Vor seinen Augen
tanzten farbige Punkte.
Frauchen kam durch die knirschende Kälte, hob den Kater hoch und wickelte
ihn in eine Decke.
"Ramon, mein Engelchen", was tust du bloss immer hier draussen?" fragte sie
vorwurfsvoll.
Ramon guckte sich verstohlen um.
"Hoffentlich hat Miguel das nicht gehört", dachte er.
"Engelchen ist gut!", dachte der Schutzengel.
Ramon ließ sich ins Haus tragen.
Zum Fressen war er zu müde, und Frauchen machte sich Sorgen. Sie streichelte
ihn, bis er schnurrend einschlief.
Früh am nächsten Morgen schlich Ramon Rasanti aus dem Haus und stapfte über
die Wiese. Er ging an seinem Schutzengel vorbei und tat, als sehe er ihn
nicht.
Ob Miguel schon wach war? Ramon setzte sich vor das Mauseloch und lauschte.
Schnarchen Mäuse eigentlich, wenn sie schlafen?
Ungewöhnlich kalt und still war die Welt an diesem Morgen, und Ramon wurde
schnell müde. Wenige Minuten lag er erst auf der Lauer, als ihm die Augen
zufielen.
Aber als er erwachte, lag er weich und bequem. Und Ramon Rasanti wunderte
sich. Er fühlte sich gut, so gut, wie schon lange nicht mehr. Er reckte und
streckte sich, und kein Knochen tat ihm weh.
Ganz in der Nähe lag sein Schutzengel auf einem Liegestuhl aus rosaroter
Wolkenwatte und las die Zeitung.
Aber Ramon hatte keine Zeit, sich zu wundern. Er hatte ein Mauseloch genau
vor der Nase, und er schnupperte aufgeregt. Roch es nicht nach Miguel, der
frechsten Maus aller Zeiten? Und war es nicht wirklich Miguel, der kicherte: "Was du auch anstellst, Ramon, du erwischst mich nicht."
"Das werden wir ja sehen", entgegnete Ramon und schnurrte vor Glück.
"Ich habe Zeit, zu warten. Die ganze Ewigkeit lang."