Über das Schreiben
Ein Aufruf von Markus Schwark
Ich wüsste noch viel zu tun. Aber nach einem langen, stressigen Arbeitstag wie
diesem habe ich mich doch lieber auf die Couch fallen lassen und beriesle mich
nun mit wenig Forderndem aus dem Fernseher. Starklatsch, Daily Soaps und Comedyserien,
alles Füllstoff, der am nächsten Tag - oder auch schon in 2 oder 3 Stunden -
vergessen ist. Doch plötzlich bleibt mein zappender Finger ruhig. Auf irgendeinem
Regionalsender ist über einem aufgeklappten Buch der Titel "Schreibstunde"
zu lesen. "Schreibstunde?", schiesst mir durch den Kopf. "Mal was anderes.
Vielleicht ist das ja was." Und tatsächlich, die nächsten 30 Minuten wird über
Schreiben als Lust, Frust, Freude und Ventil gesprochen. Eine Moderatorin
mittleren Alters hat einen scheinbar nicht unbekannten Schriftsteller zu Gast.
Das Gespräch zieht mich aus meiner Passivität raus und Gedanken schiessen mir
durch den Kopf. Oft habe ich schon ans Schreiben gedacht, ja sogar damit
begonnen Texte zu schreiben oder zumindest Ideen zu formulieren. Nur lässt mich
eine kreative Trägheit und schnell abflachende Motivation den Stift bald wieder
niederlegen. Doch nun fühle ich die angesprochene Lust und Freude am Schreiben.
Kreativität scheint sich unmittelbar einzustellen. Ich gehe in schnellem Schritt
in mein Arbeitszimmer. Unbezahlte Rechnungen, längst abgelaufene Gutscheine und
nicht abgeschickte Briefe finden sich innerhalb von Sekunden auf einem
beachtlichen Stapel wieder. "Ihr kommt bald mal dran", denke ich und ziehe
einige leere Blätter aus einer Schublade hervor. Aus dem Korpus unter meinem
Schreibtisch, krame ich eine leicht lädierte Mappe hervor. "Texte" steht mit
Bleistift darauf geschrieben. Als ich die Mappe öffne, erblicke ich als erstes
einen Zeitungsartikel über einen grausamen Mord an einem 10-jährigen Knaben.
"Ach ja, daraus sollte mein Kriminalroman werden." Auf dem Rand stehen diverse
Notizen gekritzelt. Einige davon kaum lesbar, aber ich kann mich trotzdem an
jedes einzelne Wort erinnern. Mich überkommt ein unheimlicher Drang, meine
Ideen auf das Papier zu bringen. Ich fange an, Sätze zu formulieren, Beziehungen
zwischen Personen zu beschreiben und gleichzeitig diese Personen zu
charakterisieren. Innert Minuten haben sich Puzzleteile einer
Geschichte, die ich nicht einmal ansatzweise erzählen könnte, auf dem Blatt
verteilt. Ich spüre, wie die Kraft nachlässt. Wie Blitze schlugen meine
Gedanken auf meinen Stift und schliesslich auf das Blatt ein. Ein Sturm,
ein Tornado und so plötzlich wie er kam, ist er auch wieder weg. Ich schaue
auf das soeben Geschriebene und versuche - nun eher zwanghaft - alles in
einen Zusammenhang zu bringen. Einige zähe Schritte geht's voran.
Verbindungen könnten geschaffen werden, das Gefühl, dass etwas daraus werden
könnte, bleibt. "Es wird eh nix. Ich bin einfach zu faul um das durchzuziehen."
Nicht, dass ich nicht schreiben möchte, aber ich kann nicht. Trägheit,
Begeisterung, die wie in der Achterbahn hochschiesst, aber genau so schnell
wieder abfällt. Nach der Talfahrt bin ich jeweils ernüchtert, jedoch nicht
niedergeschlagen. Um Leidenschaft zu entwickeln, reichen diese Schreibmomente
nicht aus. Aber wenn, dann wüsste ich noch viel zu tun.