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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Oktoberschnee

Eine Kurzgeschichte von Sarah Schuster


-1-
Ich liege in meinem Bett. Ich bin müde, sehr müde. Es ist weiß bezogen, die weißen Laken haben mir schon immer am besten gefallen. Sie strahlen eine Reinheit aus, die mich beruhigt. Ich muss wohl vergessen haben das Fenster zu schließen, denn ich spüre wie eine eisige Kälte meinen ganzen Körper erzittern lässt. Ich weiß nicht, wie spät es ist. Eigentlich erkenne ich mein Zimmer kaum wieder, es ist alles so verschwommen, schemenhafte Schatten... sonst nichts. Doch ich erkenne meine weißen Laken, mein weiches, weißes Bett, ach wie gern ich doch dort liege. Die Müdigkeit ergreift immer mehr Macht über mich. Ich kann mich kaum konzentrieren, doch aus irgendeinem Grund spukt mir ein Gedanke durch den Kopf...
"Und wenn ich jetzt sterbe... in dieser Sekunde, in diesem Augenblick, diesem Moment... hat es sich gelohnt? Ist mein Leben lebenswert... Wert genug, um von mir gelebt zu werden?" Mir ist wirklich sehr kalt...
-2-
Ein Schritt nach dem anderen. Ein Stein, fast wäre ich über ihn gestolpert.
Eine Frau überquert mit einem Kinderwagen die Straße, während die Autofahrer ungeduldig warten müssen. Ich hingegen habe Zeit, zu viel Zeit. Viele Freunde habe ich nicht gerade. Ein Schritt nach dem anderen, bloß nicht beschweren... Bescheidenheit ist eine Tugend, sagt meine Mutter immer. Sind denn etwa Wut und eine eigene Meinung eine Sünde? Ich glaube nicht. Aber wer könnte es ihr verübeln, sie ist nun mal nicht so wie ich. Oder sagen wir lieber ich bin nicht so wie sie... wie keiner von ihnen. Doch ich habe mich damit abgefunden. Sie sagen ich bin anders, ich bin einfach nur ehrlich, ehrlich zu mir selbst... sollen sie doch über mich sagen was sie wollen.
Ich laufe weiter die Straße entlang, ein bestimmtes Ziel habe ich nicht. Da laufe ich nun, ziellos durchquere ich Gassen und Straßen. Ich beobachte wie herbstliches Laub sich im Wind kräuselt, mit ihm spielt... jeder für sich, doch in perfekter Harmonie. Ich spaziere öfters hier entlang. Ein gewollter Nebeneffekt ist es, dass ich nicht allein mit meiner Mutter den Tag verbringen muss. Seit Vater uns verlassen hat ist sie genauso ziellos wie ich, doch im Gegensatz zu mir zerbricht sie daran, und das ist bei Gott kein angenehmer Anblick. Sie kann es nicht ertragen mit sich allein zu sein. Ich hasse sie nicht, ich kann sie eigentlich gut leiden, doch sie ist mit sich selbst nicht im reinen und diese tiefe Traurigkeit macht mich verwundbar. Und das will ich nicht sehen, also sehe ich einfach weg. Ich will nicht hören wie sie weint, also halte ich mir die Ohren zu. Es ist mir egal wie andere darüber denken, ich mache nur was mir in meinen Augen am Einfachsten erscheint... um der Selbsterhaltung Willen. Sagt ich bin grausam, aber so sind Menschen nun mal. Sperrt sie in einen Raum und seht wie sie sich hinterrücks erschlagen... so ist das Leben. Wer damit nicht zurechtkommt, der verliert. Ein Auto hupt und reißt mich aus meinen Gedanken.
"Pass doch auf wo du hinläufst!", höre ich einen Mann empört schreien, drei Sekunden später ist er verschwunden. Mein Puls rast, das Blut schießt mir ins Gesicht und lässt mich erröten.
Der Schreck lässt meine Knie zittern, also setzte ich mich an den Straßenrand. Ich fahre mit meinen Händen über meinen Mantel und zupfe ihn so zurecht, dass meine Hose nicht nass wird, denn es hat kurz zuvor geregnet.
"War verdammt knapp, hast wohl geträumt...", höre ich eine Stimme hinter mir sagen.
"Was... geträumt? Ja, na ja... war in Gedanken, aber...", meine Stimme will mir nicht ganz gehorchen und da ich das Chaos in meinem Kopf auch noch nicht ordnen kann, stottere ich nur bruchstückhafte Erläuterungsansätze.
Es ist ein kalter Oktobertag. Vereinzelt berühren zarte Schneeflocken den Boden und nisten auf dem kühlen Asphalt. Es hat sich schon eine leichte Schneedecke gebildet, was sehr ungewöhnlich ist für diese Jahreszeit. Schnee an einem Herbsttag, das hatte es hier das letzte Mal vor fünfundzwanzig Jahren gegeben.
Ich wundere mich, dass der Junge, der mich eben angesprochen hat, nicht fortgeht. Er schaut mich an, als würde er darauf warten, dass ich ihn bitte Platz zu nehmen. Ich mustere ihn kurz. Seine blond gelockten Haare stechen mir ins Auge, sie gefallen mir sehr. Auch seine blassgrünen Augen wirken beruhigend auf mich, ich kann nicht sagen warum. Meinetwegen, soll er mir doch eine Weile Gesellschaft leisten. Er sieht aus, als hätte er einiges zu sagen.
"Setzt dich, wenn du willst." entgegne ich ihm mit nichtssagendem Blick.
Er setzt sich ohne zu zögern neben mich.
"Was machst du an so einem kalten Tag allein auf der Straße?", fragt er direkt und ein bisschen brüsk. Von Feingefühl hat er wohl noch nicht viel gehört.
"Ich habe zu Hause nichts, was mich halten kann.", ich spüre wie ein wenig zu aggressiv antworte, doch ihn scheint das nicht zu stören. Warum muss er auch meinen wunden Punkt treffen?
"Deine Familie macht sich sicher Sorgen um dich, also sag so etwas nicht..."
"Wie meinst du das? Eine Familie hab ich nicht... es gibt da nur meine Mutter, aber du kennst sie nicht, also wie kannst du so etwas wissen?"
Sein Blick durchdringt mich und er wendet ihn nicht von mir ab... kennt er sie etwa doch? Aber unmöglich, meine Mutter kennt keine Jugendlichen in diesem Alter, er scheint etwa siebzehn Jahre alt zu sein.
"Ich meine es so wie ich es sage, sie macht sich große Sorgen um dich, seit ihr allein seid. Sie hat es auch nicht leicht, weißt du?"
Wer zum Teufel ist bloß dieser Junge... und warum mischt er sich in meine Angelegenheiten ein? Eine Frage, für die ich bald eine Antwort erhalten sollte.
Eine Antwort, die mir vielleicht nicht gefallen würde...
-3-
Mir fällt auf, dass der Junge eine sehr blasse Haut hat. Dies erscheint mir äußerst merkwürdig, da es den ganzen Sommer über hier sehr heiß war und jeder den ich kenne einen sonnengebräunten Teint besitzt. Er kommt wohl nicht aus dieser Gegend. Das macht es jedoch noch unwahrscheinlicher, dass er meine Mutter kennt. Die Situation kommt mir äußerst seltsam vor.
Es herrscht einen Moment lang Stille, dann stellt er mir eine Frage, mit der er mich überrascht.
"Was würdest du ihr sagen, wenn du sie ein letztes Mal sehen würdest?"
Mich überkommt ein beklemmendes Gefühl.
"Geht es ihr gut?"
"Ja... mach dir keine Sorgen."
Ich verspüre den Drang einfach aufzustehen und fortzulaufen, aber irgendetwas stimmt mit diesem Jungen nicht. Etwas, das ich nicht definieren kann, hält mich zurück. Ich spüre, wie eine unangenehme Hitze mir in die Wangen steigt.
Ich zögere kurz, doch dann überkommt mich eine Wut, die mich antworten lässt.
"Ich würde ihr sagen, dass sie endlich aufhören soll zu weinen. Das macht es doch auch nicht besser... das bringt meinen Vater auch nicht wieder zurück! Ganz im Gegenteil, das macht es mir umso schwerer."
Er schaut mich behutsam an, voller Verständnis, aber gleichzeitig auch so, als wisse er es besser.
"Es ist doch nur ihre Art zu trauern. Sie zeigt offen ihre Gefühle."
"Aber ich kann das nicht ertragen... nein ich kann das nicht..."
"Warum nicht?"
"Ich will nicht schwach sein, ich bin nicht schwach...", antworte ich. Ohne es zu wollen, blitzen kleine Tränen in meinen Augen auf.
"Es ist schwer Gefühle zu zeigen, wenn man es nicht gelernt hat, nicht wahr?" Er versucht zu lächeln, doch dies verwandelt sich lediglich in einen widerwilligen Seufzer.
"Man neigt dazu seine Gefühle einzufrieren, damit einem die Welt da draußen nicht so kalt vorkommt, doch so funktioniert das nicht! Wenn du nicht um deinen Vater trauern kannst wirst du daran zerbrechen."
Zu viele Gedanken schwirren mir durch den Kopf. Was würde ich ihr sagen?
"Ich würde ihr sagen, dass es mir Leid tut. Es tut mir Leid, dass ich nicht Grund genug dafür bin, dass sie aufhört zu weinen."
Es ist merkwürdig, aber vor ihm schäme ich mich nicht. Ich sitze hier, in Tränen aufgelöst, doch er gibt mir das Gefühl es sei in Ordnung. Er schaut mich immer noch mit seinem durchdringenden Blick an.
"Weißt du, es liegt nicht an dir. Sie liebt dich sehr, das hat sie immer getan, doch manchmal braucht man einfach Zeit um Vergangenes zu verarbeiten... bis nur noch eine Narbe zurückbleibt."
Er sagt es... und ich glaube ihm.
"Und ich würde ihr sagen, dass ich sie liebe... ich bereue keinen Tag mit ihr."
In seinem Gesichtsausdruck ändert sich etwas Grundlegendes. Er sieht nun äußerst zufrieden aus. Warum wollte er das nur hören?
"Was willst du? Was tust du hier eigentlich?"
Er reagiert vorerst nicht auf meine Frage.
"Du würdest ihr sagen, dass du sie liebst... das ist schön. Denn weißt du ... sie hat dich gehört..."
-4-
Meine Mutter liegt im Wohnzimmer auf der Couch. Sie ist in einer Decke eingewickelt und offensichtlich eingeschlafen. Das Telefon klingelt und sie wacht auf.
"Was für ein komischer Traum... wenn es doch nur real wäre. Wenn mein Kind wirklich mit mir reden würde. Ich liebe sie doch auch...so sehr."
Sie wird von dem stetigen Klingeln aus ihren Gedanken gerissen.
"Guten Tag?"
"Guten Tag... setzten Sie sich lieber hin. Ich muss Ihnen leider eine traurige Nachricht mitteilen. Ihr Kind wurde von einem Auto angefahren. Sie lief über die Straße, war unachtsam. Sie lag einen Augenblick da, dann ging alles sehr schnell. Es tut mir leid, aber ihre Tochter ist tot. Sie hatte keine Schmerzen..."
-5-
Es ist merkwürdig hier mit diesem Jungen zu sitzen, die Zeit scheint einfach still zu stehen. Ich bin ganz ruhig, denn er beginnt erneut zu reden.
"Wir geben jedem von euch die Chance eine letzte Entscheidung zu treffen, bevor ihr geht. Es gibt viele Leute wie dich, und glaub mir, du hättest es bereut, wenn du ihr nicht alles gesagt hättest. Das Problem ist individuell, doch am Ende läuft es bei euch allen aufs selbe hinaus. Die schwierigste Wahl ist meistens auch die Richtige. Ich habe das alles schon so oft miterlebt!"
Ich schaue ihn ungläubig an, doch etwas, das ich kaum beschreiben kann, setzt einen Hebel in meinem Kopf in Bewegung. Plötzlich ist mir alles klar. Eine Klarheit, an der es nichts zu zweifeln gibt.
"Bist du ein Engel?"
"Glaubst du an Engel?"
Meine Frage hat sich damit erledigt.
-6-
Mein Körper liegt regungslos auf dem kalten Asphalt. Die klare , weiße Schneedecke ist befleckt, einige Stellen haben dunkles, rotes Blut aufgesogen. Das heiße Blut wirkt auf dem reinen Weiß des Schnees so paradox, es strahlte eine unendliche Bizarrheit aus... es gehört dort einfach nicht hin. Mir fällt auf wie weich der Schnee doch ist, er erinnert mich an mein weiches Bett. Ja... und dieses reine Weiß, ich könnte es fast mit der Reinheit meines geliebten Lakens verwechseln.
Ich spüre, wie mir Blut über die Stirn rinnt, immer mehr Blut, doch ich kann es nicht stoppen. Ich bin müde, sehr müde. Ich höre leise Worte... ich solle bloß nicht einschlafen, um Gottes Willen nicht einschlafen. Doch die Stimmen sind so fern.
"Mach dir keine Sorgen, es wird mir gut gehen", denke ich plötzlich. Da erinnere ich mich wieder an den Gedanken, der mir die ganze Zeit durch den Kopf geisterte.
"Und wenn ich jetzt sterbe... in dieser Sekunde, in diesem Augenblick, diesem Moment... hat es sich gelohnt?"
Ich muss an den seltsamen Jungen denken, und was er mir gesagt hat, kurz bevor er mich wieder verließ...
"Und am Ende zählt es nicht was du gemacht hast... oder warum du es getan hast. Bereuen, das ist der springende Punkt. Bereust du was du getan hast? Und wenn du sagen kannst, nein... ich bereue nichts, die Entscheidung die ich getroffen habe war wirklich ehrlich, war wirklich ich... dann hat es sich gelohnt. Ja, dann... dann war dein Leben wirklich lebenswert."
Und ich bereue es nicht, ich will nicht eine Sekunde missen, die ich mit meiner Mutter verbracht habe.
Man sagt, kurz bevor man stirbt zieht das ganze Leben noch einmal an einem vorbei. Das stimmt nicht ganz. Es sind die kleinen Momente, die schicksalhaften Momente, an denen man Entscheidungen treffen musste. Genau diese Momente haben mir die Antwort gegeben, die ich schon so lange gesucht habe. Nein... ich bereue nichts und ja... mein Leben war lebenswert, wirklich wert von mir gelebt zu werden.
Ich bin müde und mir ist kalt. Ich schließe meine Augen... schließe sie ganz fest... und plötzlich spielt das keine Rolle mehr...



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