überangepasst
Eine Kurzgeschichte von Evelyn Reiter
das kleine kind versuchte verzweifelt, den eltern jeden gedanken von den augen abzulesen. irgendetwas stimmte nicht. was denn?
es fühlte große sehnsucht nach wärme und geborgenheit, nach einfach da-sein dürfen.
als es in die schule ging, merkte es, dass, wenn es forderungen der umwelt erfüllte, dann gleich viel besser wurde. so las es weiterhin in den augen seiner mitmenschen, was es tun könnte, um sich dann gleich wohler zu fühlen.
später las es in den augen seiner mutter: ich muss eine perfekte gläubige werden! in den augen seines vaters las es: ich muss erfolgreich sein! in den augen seiner eltern las es: zeige keine schwäche, weil wir schwäche hassen.
später, als es alle diese wünsche gelesen hatte, wurde es auf einmal nochmals anders. das kind, es wuchs und wurde eine jungendiche und sogenannt erwachsen. von wem sollte es jetzt die wünsche von den augen ablesen? die große ratlosigkeit, die einzug hielt. was jetzt, das kind fühlte sich noch nicht an seinem ziel angekommen. es hatte fast alles ihm mögliche getan, weil es gehofft hatte. aber am ziel angekommen war es nicht. so begann es in seiner umgebung nach dem preis zu suchen, den es insgeheim für sein leben
erhoffte, etwas liebe zu fühlen.
das kind bemerkte, dass wenn es leuten schlecht geht, dass sie geliebt werden. der körper des kindes verwandelte sich in einen problemhaufen und ein paar wenige streicheleinheiten durfte es einfangen. es war nicht so ergiebig, wie sich das kind gedacht hatte. es war auch kein weg. es fühlte sich nur noch einsamer und erfolgloser.
wo durfte es bloß sein?
es musste von zuhause weg, weil es ja angeblich erwachsen geworden war. es sollte seiner eigenen wege gehen. die eigenen wege, die es noch nicht gefunden hatte. wann würde es diese finden?
das nächste problem, war die sozialphobie, die unmöglichkeit, ueberhaupt kontakte aufzubauen seit der jugend. so begann das kind, das jetzt erwachsen genannt wurde, sich jedem freundlichen kontakt fast ohne vorbehalt anzuvertrauen. und wenn etwas war, das es störte, das kind wusste ja, auch damit kann man leben. es war nichts schlimmer geworden als diese große gleichgültigkeit und leere, die um einen herum sein kann. wenn es sogar den eigenen eltern egal zu sein scheint, was es machte und mit einem als mann ungeliebten
partner zusammenzog, weil ihn dieser anhörte als mensch, und insgeheim die wünsche des kindes von dessen augen abzulesen begann.
endlich hatte das kind gefunden, wonach es so lange gesucht hatte. es wollte das gefundene nie wieder loslassen. nie wieder.
doch, es gab das kind und auch die frau. sie schlummerte stumm und schaute zu, was das kind machte, sie duldete frei heraus was das kind tat, denn es war so hungrig und durstig gewesen und so traurig. die frau ließ mit sich geschehen, auch wenn es weh tat und die frau wütend wurde und traurig und wieder wütend. schließlich zog sich die frau wieder zurück und ließ mehr das kind nach vorne kommen. dabei war die frau geboren und wollte auch ihren anteil. sie vergaß auf keinen fall, sich ab und zu mit dem hämmerchen
zu melden und klopfte damit auch immer wieder an den deckel, der zur wirklichkeit hinaus führen würde.
das kind und die frau begannen um ihren platz zu streiten. das kind hatte sosehr angst, dass es wieder niemanden haben würde, und es sich als hülle durch die welt bewegen würde. wie oft hatte es sich überfordert gefühlt, profil zu zeigen. den religiösen war es eine religiöse geworden, den leistern eine leistende. bei der religion geht die rechnung aber nicht auf, denn religion ist etwas was von innen kommt, es hat mit beziehung zu GOTT zu tun und nicht mit anpassung oder schein. religion spricht von güte und
liebe. liebe gibt es nicht durch anpassung.
das kind und die frau streiteten fast jeden tag. und wenn die frau davor war, verletzt zu werden, kam das kind und rettete die frau vor verletzung. die frau war jetzt geschützt. sich konnte sich jetzt erholen und irgendwann würden sich vielleicht kind und frau einig werden, was sie wollten. etwas, das sie tun wollten in ihrem leben, außer geliebt werden und essen und trinken.
und manchmal hatten beide das gefühl, dass es schwierig und schmerzvoll ist, so weiterzuleben. aber oft war da nur die leere, die als antwort zurückkam. weil ja das kind gelernt hatte, nichts von sich zu sagen.