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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Damals zu Haus

Eine Kurzgeschichte von Sebastian Kiss


Ich wohnte bei meinen Eltern in der heutigen Telemannstraße, in diesem großen Neubaublock in der Nähe der Pferderennbahn, auf der mittlerweile Graureiher ihre Versammlungen abhalten. Früher waren diese Neubauten im Musikerviertel wegen ihres Komforts begehrt und großen Tieren vorbehalten. Heute wohnen meine Eltern dort. Nicht etwa der Beschaulichkeit der Neubauten wegen, sondern der Nähe zum Park. Es gibt eine Wiese zwischen der Bundesstraße 2 und dem 11-Geschosser, auf der meine Eltern ein kleines Beet angelegt haben. Auf dieser Wiese finden sich jetzt die kleinen Tiere ein.
Im Frühjahr, wenn der Bärlauch im Auewald blühte, zog der Geruch dieser grün-weiß bedeckten Flur durch die nahe gelegenen Straßen. An manchen Abenden schlich er sich gar durch mein Fenster.
Der erste Bote des Jahres war der Grünspecht, auf dieser Wiese zwischen B2 und Telemannstraße. Meine Eltern tauften ihn auf den Namen Pit Pikus. Im Mai kam in den frühen Abendstunden ein Entenpärchen und verbrachte auf dieser Wiese ihren Sommer. Die ersten Gewitter luden zu riesigen Spektakeln ein. Auch wenn unser Block nicht hufeisenförmig war, wie die alten venezianischen Opernhäuser, kam ich mir vor wie im Theater. Zuerst sorgten Mauersegler, Schwalben und Fledermäuse im Tiefflug für Furore. Dann begann der Wind die Bäume zu biegen, heulte durch jede geöffnete Luke, mahnte die Verkehrsschilder im Takt zu klappern, wetzte Zeitungen aus den Containern durch die Lüfte und ließ einzelne Blätter nach seinem Willen tanzen. Dann kam die Generalpause, bevor es zum krachenden und blitzenden Finale kam. Im Herbst hatten auch ein rotes und ein schwarzes Eichhörnchen diese Wiese zwischen Hochhaus und Bundesstraße für sich entdeckt. Als die Nachbarin aus dem ersten Stock im Winter starb, zogen auch die Tauben endlich wieder weiter. Mit ihrer Fütterung hatte sie Blaumeisen, Sperlinge, aber auch Tauben angelockt. Sie hinterließ einen zugeschissenen Balkon.
Mein Vater trocknete auf unserem Balkon in der Herbstsonne immer die Walnüsse aus unserem Garten. Als ich im Wohnzimmer an einem Vormittag Zeitung las, glaubte ich meinen Augen kaum, als das rotbraune Eichhörnchen auf der Geländerbrüstung bei uns im ersten Stock herumturnte. Wir fanden heraus, dass es über den Blitzableiter hinaufkam. Wir hielten es für legitim, dass es sich an unseren Walnüssen bediente.
Im darauf folgenden Jahr kam es wieder und wurde im Herbst vom 89er Bus überfahren. Im Winter kamen die Krähen, damals zu Haus, auf dieser Wiese zwischen Bundesstraße und Neubaublock.



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