Engel
Eine Kurzgeschichte von Sarah Tichy
Wie ein Engel. Wie ein Engel liegt sie dort, denkt er, als er in das halbdunkle Zimmer kommt.
Die Augen geschlossen, ein leichtes Lächeln auf dem Mund; sie lächelte immer, auch in den schwersten Situationen (und das war gewiss eine von diesen). Die blonden Locken umspielen ihr schmales, blasses Gesicht. Die Decke wölbt sich über ihren Busen. Ihre Arme liegen gerade an beiden Seiten ihres dürren Körpers. Die Unterarme sind dick verbunden und manchmal zuckt einer ihrer langen Finger.
Sie wollte es. Sie war nicht glücklich, versucht er sich zu beruhigen. Sie wollte weg. Weg von dieser Welt. Weg von ihrem Leben. Weg von den Menschen hier. Vielleicht auch von ihm.
Er wusste, dass sie die Hoffnung aufgegeben hatte. Sie traute niemandem mehr. Sie liebte niemandem mehr. Nicht mal sich selbst. Und ihn? Und mich, das fragte er sich in diesen Minuten unglaublich oft. Er wusste es nicht, er hoffte es, dass es stimmte, wenn sie es sagte. Dass sie es nicht nur so sagte, um ihn nicht zu verletzen. Denn er liebte sie über alles. Nach allem, was er für sie getan hatte.
Es gab bei ihnen zu Hause keinen einzigen Spiegel mehr. Sie hatte alle zerschlagen, um sich selber nicht mehr sehen zu müssen. Denn ihr eigenes Spiegelbild erinnerte sie an die Vergangenheit. Und die konnte sie nicht ertragen.
Und das war der Grund, weshalb sie den Brief geschrieben hatte, den er jetzt in den zitternden Händen hielt. Deshalb hatte sie sich im Bad eingeschlossen. Deshalb wollte sie nicht mehr.
Er las den Brief zum vierten Mal. Sie schrieb, dass sie ihn liebte. Immer wieder, dass sie ihn liebte. Doch wie konnte er es glauben, wenn sie das Leben nicht mal ertrug, wenn er bei ihr war?? Sie schrieb auch von ihrem Vater, seinem Alkoholproblem, dem Selbstmord ihrer Mutter und dass sie zehn Jahre lang nichts von den Schreien ihrer minderjährigen Tochter im Schlafzimmer gehört haben soll. Von dem Augenblick, als sie ihn zum ersten Mal sah. Vor fast genau drei Jahren. Sie lag auf einem Krankenhausbett, nach
einer schlimmen Nacht; ihr Vater war betrunkener als sonst und auch brutaler. Er war ihr Pfleger, betreute sie, tröstete ihre Tränen, was er noch oft tun würde. Sie schrieb, wie er sie bei sich aufnahm, nachdem ihr Vater in Untersuchungshaft gegeben wurde, nach dem Selbstmord ihrer Mutter. Sie schrieb, dass es nicht seine Schuld war. Und dann wieder, dass sie ihn liebe.
Plötzlich merkte er, dass er weinte. Dass er seit fast drei Jahren zum ersten Mal richtig weinte. Es war bitter, aber tat dennoch gut. Sonst war es immer sie gewesen, die geweint hatte. Sie hatte oft geweint. Meistens nachts, allein, heimlich, eingesperrt im Bad.
Er wollte ihr helfen, schleppte sie zu Psychologen, die ihre Depressionen heilen sollten. Er war es, der sie ermutigte trotz allem ihren Realschulabschluss zu machen. Er war es, der sie zum ersten Mal auf den Friedhof zu ihrer Mutter begleitete. Es hatte so ausgesehen, dass es ihr, langsam, Tag für Tag, besser ging.
Doch als vor zwei Wochen nach langem Warten endlich die Gerichtsverhandlung war, war sie zusammengebrochen. Seitdem schlief sie kaum. Trinken und Essen empfand sie nur noch als Last. Sie blieb zu Hause und noch öfters fand er die Badezimmertür abgeschlossen vor. Sie sprach kaum. Und dann, Ende Dezember, an seinem letzten Arbeitstag vor den Weihnachtsferien fand er sie auf dem Bett. Blass. Blutgetränkt. Er schüttelt sich, als er daran zurückdenkt. Er weiß, er hätte sie niemals allein lassen dürfen. Er hätte sie
irgendwo zur Behandlung einweisen lassen sollen. Aber sie wollte nicht. Und er liebte sie nun mal.
Er würde es sich nie verzeihen können. Er weint noch immer, als er sich über sie beugt und sie anfleht aufzuwachen. Er streichelt ihre Haare, die Haut in ihrem Gesicht. Küsst ihre Augen. "Bitte, bitte wach auf!" Und als hätte sie es gehört, macht sie die Augen auf und blickt ihn an "Es tut mir leid.", flüstert sie und schließt die Augen. Das Zucken in ihrer Hand hört auf. Ihr Kopf sackt zur Seite. Das Lächeln erstirbt auf ihren Lippen.
Wie ein Engel.