Das Todesurteil
Eine Kurzgeschichte von Harm Zimmering
Todesangst erfüllt sie, greift mit eisigkalter Faust nach ihrem Herzen. Dunkle Tage liegen hinter ihr, voller Seelenqual und tiefster Verzweiflung. Mutterseelenallein ist sie auf einmal, geplagt von finsteren Gedanken. Tieftraurig ist sie, zu Tode betrübt. Eines ist ihr klar: Niemand kann ihr jetzt noch helfen. Ihre Lebensuhr ist unwiderruflich abgelaufen.
So steht sie dort, die alte Eiche. Auf unserem kleinen Marktplatz, dicht vor einer Reihe windschiefer, reetgedeckter Häuser, deren Anblick den Eindruck erwecken, als suchten sie Schutz hinter den riesigen Zweigen dieses urwüchsigen Baumes. Gegenüber der alten Eiche lädt ein uriges Wirtshaus seit Generationen Einheimische und Touristen ein: "Zur Wiederkehr".
Bevor man ihm zu Leibe rückt, schwelgt der alte Baum noch einmal in Erinnerungen: Vor rund dreihundert Jahren hat man ihn an diesen Ort gepflanzt. Was ist inzwischen alles geschehen! Viele schlechte Jahre überstand er unversehrt. Und welch schöne Zeiten durfte er erleben! Sonnenstrahlen und Regenwolken zogen jahrhundertelang über die alte Eiche hinweg.
Sie sah Kinder aufwachsen, die sie in ihr Herz schloss, wenn diese lachend und jauchzend um ihren gewaltigen Stamm herumtobten. Wie oft wehte helles Läuten der nahen Kirchenglocken durch ihre mächtige Krone, wenn ein junges Paar den Bund fürs Leben schloss - oder wieder mal ein Erdenbürger diese Welt verlassen musste. Sturm und Unwetter haben der alten Eiche nichts anhaben können. Doch jetzt soll sie, dieser scheinbar unverwüstliche Haudegen, für alle Zeiten weichen.
Unser Gemeinderat beschloss es jüngst. "Es mangelt hier an Parkflächen", stellte der Bürgermeister fest. Man brauche endlich mehr Raum. Stellplatz für die vielen Blechkarossen. Seit Jahren nörgeln auch unsere Kaufleute. Ständig werde nur palavert und diskutiert. Kurzfristige Entscheidungen seien jetzt gefragt und deren zügige Umsetzung. Schließlich stünde die betagte Eiche neuen Parkflächen im Weg und solle endlich von der Bildfläche verschwinden.
Natürlich setzten sich zahlreiche Parkplatzgegner und engagierte Naturschützer für den Erhalt des alten Baumes ein. Doch sie sind in der Minderheit, können den Ratsbeschluss nicht kippen. "Unverbesserliche Querulanten" werden sie geschimpft. "Neunmalkluge" seien sie, "versponnene Besserwisser", die jeden Fortschritt hemmen wollten. Nein, jetzt endlich müsse gehandelt werden!
Und es wurde gehandelt. Der Tag ist gekommen. Von weitem sind dumpfes Poltern und quietschende Räder metallener Schubkarren zu hören. Sieben Mitarbeiter unserer Gemeinde traben zum Marktplatz, schleppen Äxte und Sägen mit sich, Hämmer und Riemen, Keile und Tauwerk. Unheilvolles Klirren eiserner Werkzeuge begleitet jeden ihrer Schritte. Gemächlich schreitet das Hinrichtungskommando auf die alte Eiche zu. Im Gänsemarsch, andächtig scheinbar - fast wie bei einem Totenzug.
Der Baum starrt ihnen entgegen. Gepeinigt von grausamer Angst, vor blankem Entsetzen gelähmt. Jetzt also ist es soweit!
Szenen seines langen Lebens, das länger als dreihundert Jahre währte, sausen im Zeitraffer an ihm vorüber. Er sieht Soldaten neben sich ruhen, in beiden Weltkriegen. Lebendige Bilder vergnügter Menschen auf Kirmes und Schützenfesten huschen an ihm vorbei, von jubelnden Kindern in bunten Karussells. Wie gerne hat er ihnen zugesehen! Auch sieht der alte Baum noch einmal die riesigen, glutroten Flammen des verheerenden Feuers im zweiten Weltkrieg, das alles fraß, was ihm in die Quere kam und das halbe Dorf in Schutt
und Asche legte. Und er sieht noch einmal den großen Menschenauflauf, der staunend den seltsamen Wagen bewunderte, der einst durch unser Dorf knatterte - ohne Pferdegespann, wie von Geisterhand bewegt. Eine Sensation damals: Es war die Geburtsstunde des Automobils.
Die Arbeiter sind bei der alten Eiche angekommen. Eine Pause wird nicht eingelegt. Zeit ist schließlich Geld. Ihr Vorarbeiter greift nach einer frisch geschärften, überdimensionalen Axt. Dann schlägt er zu. Kraftvoll. Rhythmisch. Gnadenlos.
Wie gleißendes Feuer fährt ein grausamer Schmerz in den mächtigen Baum, schießt in ihm hoch bis in die gewaltige Krone.
Ihr Peiniger aber schlägt unbarmherzig weiter auf die alte Eiche ein. Keuchend. Stöhnend. Schweißüberströmt. Unsagbare Schmerzen plagen den wunden Baum. Er leidet Höllenqualen, will seine ganze unendliche Pein laut hinausschreien. Und doch er ist dieser qualvollen Barbarei entsetzlich hilflos ausgeliefert.
Am Stamm des Todgeweihten entsteht eine Kerbe. Schwer verwundet zittert der dreihundertjährige Veteran seinem Ende entgegen.
Jetzt setzt eine Kettensäge die Tortur fort. Genau in die Kerbe setzt man sie an. Grässlich gellend schreit die Kette auf, staucht hin und wieder - um nach wenigen Tropfen Öl ihre grausame Marter fortzusetzen. Wieder kreischt sie auf, frisst sich lärmend in das geschundene Holz hinein. Tief. Gierig. Unbarmherzig.
Welch unsagbaren Schmerz muss dieser alte Baum erleiden! Klebriger Saft rinnt immer stärker seinen Stamm hinunter. - Die einst so stolze Eiche weint.
Allmählich gerät sie ins Schwanken. Als ob sie nachdenken will, in welche Richtung sie wohl fallen soll. Ein letztes Mal blickt der gequälte Baum über unseren kleinen Marktplatz, auf das alte Gasthaus gegenüber. "Zur Wiederkehr" steht dort.
"Nein", haucht er mit sterbender Stimme, "ich nicht. Ich kehre niemals wieder".
Ein heftiges Zittern seiner majestätischen Krone kündigt das Ende an. Dem alten Baum wird schwarz vor Augen. Noch einige Male schwankt er hin und her. Als er krachend auf das Pflaster aufschlägt, ist er tot.
Vier Jahre sind inzwischen vergangen. Ein Parkplatz aber, für "vermehrtes Kundenaufkommen", ist dort bis heute nicht entstanden.