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Hund mein Bruder

Eine Kurzgeschichte von Eva Markert


Hund war schon immer bei ihm gewesen - oder so schien es ihm zumindest. Inzwischen war es wohl über zwanzig Jahre her, dass sie sich gefunden hatten. Und er glaubte fest daran: auch heute, auch jetzt würde Hund ihn nicht im Stich lassen.
Hund saß immer neben seinem Bett, wenn er morgens aufwachte. Er lag ihm zu Füßen, wenn er frühstückte. Danach machten sie gemeinsam einen Morgenspaziergang. Inzwischen konnte er Hund sogar mit zur Arbeit nehmen, wo das Tier ihm ebenfalls nicht von der Seite wich. Bei der langen Runde durch den Wald, die sie vor dem Abendbrot machten, ging Hund im Gegensatz zu früher immer bei Fuß. Und wenn er nachts aus tiefem Schlaf hochschrak, sah er das rötlich-gelbe Feuer in Hunds Augen neben seinem Bett glühen und konnte beruhigt wieder einschlafen.
Hund verstand alles, was man ihm erzählte. Er wusste immer, wie man sich gerade fühlte. War sein Herr ruhig und entspannt, saß Hund zufrieden neben ihm. War er zornig, tänzelte Hund nervös um ihn herum. Und fühlte er sich wieder einmal deprimiert, ohne Aussicht, ohne Hoffnung, dann stupste Hund ihn aufmunternd mit der Schnauze an oder leckte ihm die Hand.
Nur weil Hund ständig um ihn herum war, fühlte er sich sicher. Hund spürte immer, wann sein Herr bedroht wurde. Dann knurrte er leise grollend und fletschte sein grellweißes Gebiss. Niemand wagte deshalb, ihnen beiden zu nahe zu kommen. Niemand wagte, ihn anzusprechen oder in sein Haus einzudringen.
Überhaupt konnte Hund jedwede Gefahr erahnen und bellte immer kurz auf, um ihn zu warnen. Wie oft hatte er seinen Herrn zum Beispiel schon davor bewahrt, überfahren zu werden, wenn der wieder einmal gedankenverloren und ohne auf den Verkehr zu achten auf die Straße treten wollte!
Wie er nun so still dastand, dachte er zurück an alles, was er mit Hund erlebt hatte. Hund war ein Bruder für ihn. Nein, eigentlich noch mehr. Noch viel mehr. Hund war nämlich dafür verantwortlich, dass er überhaupt noch lebte.
Es war noch gar nicht so lange her, dass Hund sein Bruder ihm zum ersten Mal das Leben gerettet hatte. Vielleicht war er wirklich zu leichtsinnig gewesen. Oder war es am Ende gar Hunds Schuld? Jedenfalls war das Ruderboot wirklich ein bisschen zu klein und zu leicht für ihn und seinen riesigen Hund.
Es war ein herrlicher Sommertag, warm und sonnig, aber in seinem Inneren war es wieder einmal trübe, nur trübe. Mitten auf den See waren sie hinausgerudert. Endlos schien die Wasserfläche. Das Ufer war nicht mehr zu erkennen. Ganz allein waren sie dort. Nur ein paar schrille Vögel kreisten über ihren Köpfen.
Hund schaute den Vögeln nach, und dabei geriet das Boot ins Schwanken. Plötzlich kippte es um, und sie fielen ins Wasser.
Die flüssige Eiseskälte, in die er so jäh eintauchte, nahm ihm den Atem. Die Wasserdecke schloss sich über seinem Kopf. Er sank. Er wollte sich fallen lassen, wollte sich aufgeben, aber seine Arme ruderten wie von selbst. Keuchend kam er an die Oberfläche und begann gegen seinen Willen zu schwimmen. Er war ein ungeübter Schwimmer, und das Ufer war weit. Bald würden seine Kräfte ihn verlassen. Aber Hund half ihm. Hund zog ihn, schob, stützte ihn. Hund hielt ihn und machte ihm Mut, und so war es ihm tatsächlich gelungen, das Ufer zu erreichen.
Er seufzte und blickte nach unten. Gedankenverloren tätschelte Hunds mächtigen Schädel.
Auch gestern, als er wieder einmal abends durch den Herbstwald streifte, war Hund zum Glück bei ihm. Dämmerung sickerte schon durch die Zweige der Bäume, und obwohl Hund sein Bruder einen massigen Körper hatte, verwischte sich sein graues struppiges Fell mit dem verschwimmenden Licht.
Am anderen Ende des Weges sah er plötzlich einen schwarzen Punkt auftauchen, der rasch größer wurde. Es war ein Mensch. Hund knurrte kurz und lief voraus, schneller, immer schneller.
Hund lief und lief, und er versuchte zu folgen. Ein feuchter Film überzog seinen Körper. Er wusste nicht, ob es Schweiß war oder die feuchte Kühle des Herbstabends. Sein heißer Atem hing wie ein leichtes Schleiertuch vor seinem Mund.
Er hörte Hund wieder knurren, diesmal anhaltend und böse. Eine große, kräftige Frau war jetzt nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Hund zeigte ihr seine Reißzähne. Sein Atem ging hechelnd.
Die Frau hob ihre Hand wie zum Gruß. Aber da blitzte irgendetwas silbrig auf. Waren es Ringe? Nein! Es war ein Messer! Sie hatte ein langes Messer auf ihn gerichtet! Sie wollte töten! Ihn und Hund!
"Fass!", rief er Hund zu, und im selben Augenblick stürzte sich Hund auf die Mörderin. Er sprang sie mit einem mächtigen Satz an. Sie schrie. Sie versuchte zu fliehen. Sie wollte sich wehren, aber Hund schüttelte sie wie eine Stoffpuppe, seine Zähne gruben sich in ihr Fleisch, und dann half er Hund und nahm ihr das Messer weg, und dann war das Blut der Frau plötzlich überall.
Erst als sie tot vor ihnen lag, erkannte er, dass es eine Nachbarin war. Die Nachbarin von gegenüber, die immer so über Hund und über das Schild an seiner Haustür gelacht hatte. Dort hatte er nämlich ein Warnschild aufgehängt: "Vorsicht! Bissiger Hund!"
Eingehüllt in Dunkelheit eilte er mit Hund nach Hause. Es war Zeit fürs Abendbrot. Und Hund sollte heute zur Belohnung etwas ganz Besonderes bekommen!

Er seufzte wieder und tat einen kleinen Schritt nach vorn. Wer hätte das gedacht heute morgen! Verwundert schüttelte er den Kopf. Der Tag hatte begonnen wie immer mit Hund seinem Bruder an seiner Seite.
Und dann waren sie auf dem Weg zur Arbeit dieser anderen Frau begegnet. Er hatte gleich geahnt, dass es nicht gut gehen würde, hatte nur grüßen und rasch vorbeigehen wollen, aber die Frau blieb stehen und reichte ihm die Hand. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig als ebenfalls stehen zu bleiben.
"Sitz!", befahl er Hund, und Hund gehorchte, wie immer. Er knurrte die Frau kurz an.
"Ich hätte wieder einen Welpen für Sie", sagte die Frau mit lauter Stimme. "Ein ganz gesundes, munteres Tier. Es ist genau dieselbe Rasse wie Ihr alter Hund und auch ein Rüde."
"Ich will keinen Welpen!", antwortete er ungehalten. "Und außerdem würde es meinem Hund auch gar nicht gefallen! Nicht wahr, Hund?" wandte er sich an Hund seinen Bruder und klopfte seinen Rücken.
"So hören Sie doch endlich damit auf!" rief die Frau beschwörend. "Sie wissen genau: Ihr Hund ist tot! Sie mussten ihn einschläfern lassen damals. Es ist schon mindestens fünf Jahre her!"
"Hund ist nicht tot!", rief er erregt. "Ja, sehen Sie denn nicht? Hier sitzt er doch! Hier, direkt neben mir!"
Hund knurrte jetzt lauter. In seinen Augen glomm ein böses Licht. Er riss seinen blutroten Rachen weit auf.
"Komm!" zischte er Hund zu und ließ die Frau stehen. Schnell gingen sie weiter. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn sie das nicht getan hätten!
Danach war er nicht zur Arbeit gegangen. Er konnte nicht. Heute nicht. Nie mehr.
Unverwandt blickte er vom Dach in die Tiefe. Unten wimmelte es. Ein kleiner Schritt trennte ihn nur noch vom Abgrund. Er musste ihn jetzt tun. Einfach einen Schritt tun. Aber es war schwer, sehr schwer! Schwerer als er gedacht hatte.
Da spürte er eine Bewegung hinter sich. Hund sein Bruder rieb seinen Kopf an seinem Oberschenkel. Dann rammte er ihm plötzlich seine Schnauze in die Kniekehlen. Seine Beine knickten ein, und er fiel.



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