BORGES
Eine Kurzgeschichte von V. Groß
An einem kalten, klaren Winternachmittag war es, dass ich auf einem meiner
einsamen Spaziergänge jenen seltsamen Mann traf, von dem ich bis heute nicht
weiß, wer er eigentlich gewesen ist, ja, ob er überhaupt wirklich
existiert hat.
In ein Buch vertieft ging ich gemächlich, doch zielstrebig, voraus durch den
noch kahlen Dezemberwald. Gelegentlich kamen mir andere Menschen entgegen,
Menschen, die ich entweder ansah, oder, wie in den meisten Fällen, unbeachtet
an mir vorüberziehen ließ, den Kopf gesenkt haltend, und lediglich im Moment
der unmittelbarsten räumlichen Annäherung ihre Wesenheit auf zumeist unangenehme
Art und Weise verspürend. Aus irgendeinem Grund mochte ich sie nicht, diese
Menschen, die paarweise, oder auch in trauter Familieneinheit, mitsamt ihren
Kinderwagen und ihren Hunden, durch den Wald spazierten, und dabei meinen Weg
kreuzten. Stets waren mir die Einsamen lieber gewesen, die Einsamen und die
Kinder, soweit diese nicht unmittelbar an erwachsene Begleiter gebunden waren,
nicht in ihrer unmittelbaren Nähe sich aufhielten, somit nicht ihrem direkten
Einflussbereich unterworfen waren. Diese Einsamen und Kinder waren es, die ich
demzufolge manchmal grüßte, an die ich also Worte und Aufmerksamkeit in irgendeiner
Form richtete.
Nebenbei:
Ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass Berichte, ganz solcherart wie
auch der Meinige, den sie augenblicklich in Händen halten, immer an solchen
Stellen von größter Interessantheit sind, an denen sie sich auf Worte wie
'irgendwann',
'irgendwo',
'irgendwie'
zurückziehen? Dies, so glaube ich zu wissen, sind nämlich genau jene Stellen, die uns aus irgendeinem Grund eine präzisere Erklärung oder Schilderung vorenthalten, die vom Berichtenden unerklärt vage belassen bleiben, ob mit Absicht, oder eher unbewusst, ist wohl nicht letztgültig zu erforschen.
Nun, sei es wie es sei, solcherart waren meine Gedanken, während ich an jenem Winternachmittag durch die Kühle des Waldes schritt.
Irgendwann (das Wort scheint mir in diesem Fall ein bewusst verwendeter Ausdruck für die
Zeitlosigkeit zu sein, wie sie im Moment des geschilderten Geschehens in meinem Empfinden
tatsächlich gegeben war), irgendwann gelangte ich an eine Kreuzung. Von meinem bisher
begangenen Weg zweigte ein anderer, steil ansteigender Weg nach links ab. Ich wählte
zum Weitergehen eben diesen abzweigenden Weg. Ich wählte ihn, weil ein ansteigender
Weg zumeist zu hochgelegenen Punkten hinführt, zu Erhebungen und Gipfeln, die einen
oftmals mit freiem, weitem Blick, und unverbrauchter, klarer Luft für die Mühen des
Aufstiegs belohnten. Während ich nun den gewählten Weg beging kam mir eines jener,
von mir mit beständigem Argwohn bedachten, Familiengrüppchen entgegen. Sie befanden
sich offensichtlich auf dem Weg nach unten. Entgegen meiner Gewohnheit sah ich den
Mann der Gruppe an, sah in seine Augen. Er hielt meinem Blick stand, sein Gesicht
blieb regungslos, das meinige löste sich auf in ein wohlwollendes Lächeln. Welchen
Eindruck mein Verhalten auf diesen mir unbekannten Mann gemacht, wie er es zu deuten
gewusst hat, ob, und wenn ja, welche Konsequenzen es in seinem Leben gehabt haben
mag, das werde ich wohl nie erfahren. Dieser meiner Gedanken betraf einen der Milliarden fremder Menschen und hatte entschieden wenig Sinn und überhaupt keine Substanz. Es handelte sich um einen jener Gedanken, die zu denken vielleicht gänzlich unnötig ist, einen jener Gedanken, die aus diesem Grund vielleicht überhaupt nicht gedacht werden sollten.
Demzufolge unterbrach ich mein Sinnen in diese Richtung und setzte stattdessen, momentan gedankenlos, meinen Aufstieg auf dem von mir gewählten Weg fort. Längst hatte die Umgebung mich meinem Buch entrissen. Ich sah vom beständig höher führenden Weg nach rechts über kahle Wälder, Felsen, Erhebungen und Täler. Der Blick über die verlassene Landschaft, der ich ja durch den Aufstieg entkommen war, erhob mich in meinem Innersten, und brachte mich zwangsläufig, wie als eine Art ausgleichenden Rückschlages, dazu, den
Kopf zu heben um das noch ein Stück über mir gelegene Ziel des Aufstieges ins Auge zu fassen.
Nach einer weiteren Weile des Gehens erreichte ich den höchsten Punkt.
Ich trat hinaus auf ein grünes Plateau mit freiem Blick nach allen Seiten
sowie dem erhofften frischen, klaren Luftzug. Das Plateau war zweigeteilt.
Die eine Hälfte machte einen sauberen, ordentlichen Eindruck, während die
zweite Hälfte verwildert, schlammig und vergessen wirkte. Beide Hälften waren
getrennt mittels eines alten Drahtzauns, welcher an einer Stelle seines Verlaufs
ein großes Durchschlupfloch bot. Mitten auf dem von Menschenhand kurzgehaltenen
Grün des zugänglicheren Teils stand eine breite Holzhütte, umlagert von
zerbrochenen Flaschen und anderem Unrat, der mir auf den ersten Blick verborgen
geblieben war. Ich sah mich um, und konnte nirgends einen anderen vom Plateau
hinabführenden Weg erkennen als den, welchen ich soeben zum Aufstieg benutzt hatte.
Unwillkürlich fragte ich mich, woher jenes Familiengrüppchen gekommen war,
welches mir zuvor aufgefallen war. Ich entwarf und verwarf etliche Erklärungen,
darunter wahrhaft phantastische, wie etwa die Idee eines von mir erzeugten
Trugbildes oder die einer Geburt dieser Menschen gerade vor wenigen Augenblicken
hier auf dem Plateau und somit ihres soeben von mir miterlebten Abstiegs ins Leben.
Alles war möglich, nichts war unmöglich. Alles was gedacht werden konnte, konnte auch geschehen.
Letztendlich jedoch zog ich mich zurück auf eine rationale Erklärung: Wahrscheinlich hatten sie, wie ich auch, den abzweigenden Weg nach oben gewählt, und waren, als ich sie traf auf dem gleichen Weg zurück und wieder hinunter gegangen.
Ein Zweifel blieb.
Ich näherte mich nun der Hütte und betrat sie um Schutz zu finden vor der kalten Luft, die meine Hände schon beinahe gefühllos hatte werden lassen. Niemand war hier oben, davon hatte ich mich überzeugt, und ich war irgendwie glücklich über diese friedvolle Einsamkeit.
Nebenbei:Es scheint mir, dass dieses eben zuvor von mir verwendete 'irgendwie'
in diesem Zusammenhang mit dem Begriff des Glücks, wohl der Ausdruck einer
mangelhaften, nicht letztgültig zu treffenden Definition des Zustandes, den man
allgemeinhin als Glück bezeichnet, entspringt, oder ist es Ihnen möglich ruhigen
Gewissens von Glück zu sprechen, selbst in den Momenten in denen Sie es zu
empfinden glauben? Was bitte, so frage ich Sie, ist denn das Glück?
Ich nahm mein Buch aus einer Tasche meiner Kleidung, in der ich es zuvor hatte verschwinden lassen, und begann erneut zu lesen. Endlich war ich wieder vollkommen allein mit den Gedanken des Autors. Ich saß am höchsten Punkt des von mir gewählten Weges, auf einem freien Plateau, in der auf ihm zur Gastlichkeit errichteten Hütte, und las. Ich las Jorge Louis Borges "Fiktionen", daraus die erste Geschichte der Kunststücke: ‚Das unerbittliche Gedächtnis'.
Irgendwann (ich erinnere an dieser Stelle nochmals an die bereits zuvor
identifizierte Tatsache der Zeitlosigkeit) hatte ich meine Lektüre beendet,
und die Kälte kehrte zurück. Ich stand auf, steckte das Buch zurück in die
Tasche, und trat aus dem Halbdunkel der Hütte hinaus auf die Weite des Plateaus.
Nicht weit entfernt von mir kniete eine hagere Gestalt auf dem Boden.
Ich war überrascht, hatte ich doch zuvor niemanden bemerkt, eine andre Anwesenheit
nicht im Mindesten verspürt. Eigentlich, so muss ich zugeben, war ich immer davon
überzeugt gewesen, dass die Gegenwart einer fremden Person in meiner näheren
Umgebung niemals von mir unbemerkt würde bleiben können. Der Mann, als welchen
ich ihn inzwischen erkannt hatte, schien mich noch nicht bemerkt zu haben. Er
kniete weiter auf dem Boden, ganz so als suche er etwas, den Kopf gebeugt, den
Blick im Gras gefangen. Ich ging auf ihn zu, vorsichtig, um ihn nicht zu
erschrecken. Wenige Meter vor seiner hingekauerten Erscheinung blieb ich stehen,
räusperte mich um seine Aufmerksamkeit zu erwecken, und sprach ihn an. Trotz
meines achtsamen Vorgehens zuckte er zusammen bevor er langsam den Kopf in meine
Richtung wandte und zu mir aufsah. In seinem Blick lag eine offensichtliche Neugier,
die aber frei war von anderen Gefühlsausdrücken, frei von Angst, Ärger oder Scham.
Ansonsten blieb er stumm und regungslos. Für einen Moment lang sang der Wind laut
hörbar über dem Plateau.
Das Gesicht des Alten war schmal, knöchern, sehnig, mit schmalen farblosen Lippen, einer
adlerschnabelartigen Nase, seine gefurchten Wangen trugen das Glitzern weißer
Bartstoppeln. Eine schwarze Baskenmütze saß fest auf seinem Schädelknochen. So sah er
mich an, lange, mit weiten starren Augen, hellgrauen Pupillen. Ich fragte ihn nach
seinem Tun, nicht ohne mich jedoch für meine Neugier zu entschuldigen und ihm
gleichzeitig anzubieten ihn umgehend alleine zu lassen falls er dies wünsche. Noch
immer sagte er nichts, doch er winkte mich zu sich hinunter. Offenbar wollte er
mir etwas zeigen, dort im Gras. Ich folgte seinem Wink und kniete mich neben
ihn auf den kalten Boden. Wie er, blickte ich nun in das wirre Grün aus Grashalmen,
kleinen Winterblumen, ohne freilich etwas außergewöhnliches erkennen zu können, das
zu einer befriedigenden Erklärung des absonderlichen Verhaltens des Alten ausgereicht
hätte. Während ich ihn zweifelnd von der Seite betrachtete, und nahe daran war
aufzustehen um ihn zu verlassen, da er in meinen Augen mehr und mehr den Eindruck
eines verwirrten Sonderlings zu erwecken begann, da begann er zu sprechen, mit
ruhiger Stimme, in der nur ab und zu ein aufgeregter Unterton mitzuschwingen schien,
vielleicht so, als halte er sich aus irgendeinem Grunde gewaltsam im Zaum.
Ich erfuhr von seiner Suche.
Einer Suche, die wohl in allen Augen außer den seinen keinen Sinn ergab, zumal wenn
man davon hörte, dass er dieser Suche sein ganzes Leben gewidmet hatte. Seit mehr
als fünf Jahrzehnten befand er sich auf dieser Suche, und sie hatte ihn, wie er selbst sagte, in nahezu sämtliche Teile der Welt geführt, auch die entlegensten. Er sah mich nicht an während er sprach und doch nahmen seine Worte mich gefangen, so dass ich weiter zuhörte ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Im verlauf seiner Rede entwickelte er Gedanken, Möglichkeiten, Visionen, Weisheit, wahre Phantasien, die ständig den Hauch des Geheimnisses mit sich trugen. In der ganzen Zeit während der er sprach überkam
mich das Gefühl, einer zusammenhängenden Geschichte unter der Oberfläche seiner Worte auf der Spur zu sein. Irgendeiner Lösung irgendeines Rätsels oder Geheimnisses von allumfassender Wahrheit, einer göttlichen Formel zur Erschaffung der Welt, vielleicht Gott selbst.
Sprach dieser seltsame Mann eigentlich noch mit mir, oder hatte er meine Anwesenheit
längst vergessen? Immer wieder kam er zurück auf das Thema der lebenslangen Suche,
die ihn gelehrt habe zu leben, und zu sterben. Seine Erzählung war voll von
unbegreiflichen Mysterien. So habe er gelernt die Gedanken anderer Menschen zu
lesen, habe Gott erfahren, habe in Kontakt treten können mit den Tieren, die
letzten praktizierenden Magier, unter ihnen den unsterblichen Merlin, kennen
gelernt, wisse um die Zukunft, sei in allen Epochen der Vergangenheit gewesen
und habe auch die furchtbaren Höllen mitsamt ihrer Dämonenschar bereist.
Schließlich habe er zuletzt die steinernen Stufen und das steinerne Mauerwerk an
ihrem Ende gesehen. Immer unglaublicher, immer phantastischer und somit
gleichsam unverständlicher gerieten seine Schilderungen, und doch glaubte ich ihm. Sein Wesen, seine Erscheinung und Ausstrahlung schienen seine Worte zu bestätigen. Er sei alle Menschen, und doch sei er zutiefst einsam und allein. Er habe unaussprechliche Höhe gewonnen und noch immer dauere sein Fall an. Er sei Mitglied der weltbestimmenden Gemeinschaften, welche im Verborgenen die Geschicke der Menschheit lenke seit Tausenden von Jahren. Er sei PHÖNIX und Träger des Kreuzes. Er habe Unsterblichkeit erlangt
und sei doch lange schon tot, er sei vollkommenes Licht gewesen und durch das Universum gereist, er kenne die Farben aller Planeten. Er habe das Spiel gespielt bis es ihm überdrüssig geworden, und er von seinem Bruder in die Zuschauerreihen berufen worden war. Er habe den Lebenskreislauf des Schmetterlings durchlaufen, sei verlorengegangen und gefunden worden, immer und immer wieder, er wisse alles und nichts. Jetzt müsse er Buße tun, müsse Reue zeigen, letztendlich sei er verdammt, sei er gezwungen gewesen sich
selbst zu verfluchen.
Ein Taumel erfasste mich, wie in einem Strudel wirbelten meine Gedanken umher, ohne Hoffnung auf einen festen Punkt. Der alte Mann stand auf, sein Sprechen war zu einer Litanei, einem rhythmischen Sprechgesang geworden. Ich konnte ihn nicht mehr verstehen, Worte fremder, mir unbekannter, Sprachen mischten sich in sein Lied. Ich wusste mit einemmal, dass er alle Sprachen dieser Welt zugleich sprach und sie vermengte in einem Gebet an das Nichts.
Er ging und ließ mich alleine zurück.
Die magische Melodie seiner Litanei aber durchwogte weiter meinen Körper und ihre unvergessliche Sinnlosigkeit machte auch mich für den Rest meines Lebens zu einem Verdammten. Ich verfolgte mit meinen Augen seine dunkle Gestalt wie sie allmählich aus meinem Blickfeld verschwand. Jetzt sah er aus wie ein ganz gewöhnlicher Spaziergänger, einer jener Einsamen, die niemanden interessieren, deren Einsamkeit einen im Grunde erschreckt. Ein alltäglicher Mann, alt, der sein Leben gelebt, seine Aufgabe erfüllt, seinen
Kampf bestanden hatte, der nun die verdiente Ruhe des Alters genoss, in langen Spaziergängen in alltäglichen Wäldern alltäglicher Winternachmittage. Ganz so sah er wohl aus für alle, die ihm begegneten auf ihrem Weg. Für die Familiengrüppchen mit Kinderwagen, für die verliebten Paare mit Hunden, wohl auch für die Einsamen und die Kinder. Niemand schenkte ihm Beachtung länger als einen Augenblick, er war der Mann, den man vergaß, kaum dass er einem aus dem Blick entschwunden war.
Habe ich erwähnt was das Objekt seiner lebenslangen Suche war?
Er war auf der Suche nach der Unbedeutsamkeit eines fünfblättrigen Klees. Seit mehr als fünfzig Jahren in allen Teilen dieser Welt, so wie an diesem Dezembertag auf diesem Plateau, war er auf der Suche nach einer kleinen unscheinbaren Pflanze, einer Mutation, einer Laune der Natur, von der er sich, wie er sagte, wenn er sie einmal in Händen halten durfte, das Ende versprach.
Alles ist möglich.
Noch immer saß ich regungslos am Boden.
Er war aufgestanden und war gegangen, langsam kehrte mein Blick, der lange in Gegenstandslosigkeit verloren gewesen war, zurück in die Welt greifbarer Dinge, wie das schärfer werden der Konturen einer Landschaft, die man durch die Linse eines Fernglases hindurch ins Auge fasst.
Dann sah ich den fünfblättrigen Klee unmittelbar vor mir.