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Die Bekanntschaft
Von Christian Herrmann
Michael gab Yvonne einen flüchtigen Kuss auf die Wange. "Gute Nacht", stammelte er verlegen, drehte sich abrupt um und ließ die attraktive junge Frau im Eingang ihres Appartements stehen.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle gingen dem jungen Antiquitätenhändler viele Gedanken durch den Kopf. Vor wenigen Monaten noch war er ein verbitterter Gegner der neuen Medien gewesen. Er liebte das Nostalgische und hatte kein Verständnis für seine hektischen Mitmenschen, die scheinbar ohne Auto, Handy und Internet nicht mehr lebensfähig waren.
Der Bus kam und Michael stieg ein. Er hatte nie ein eigenes Auto gebraucht. Fast alle Gänge des täglichen Lebens erledigte er zu Fuß oder mit Rad. Weitere Strecken wurden eben mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt. Ein Handy war für ihn uninteressant. Bisher konnte er alle wichtigen Telefonate von seinem alten Wählscheibentelefon erledigen. Falls er doch mal unterwegs dringend anrufen musste, gab es ja schließlich immer noch die guten alten öffentlichen Fernsprechapparate.
Trotz seiner altmodischen Einstellung hatte sich Michael von einem Kunden zu einem PC mit Internetanschluss überreden lassen.
Der Mann war Fachverkäufer in einem Großhandel für Unterhaltungselektronik und hatte eine Vorliebe für antiquarische Bücher. Er kam schon seit Jahren in Michaels kleines Geschäft und hatte schon öfters versucht, ihn von der Notwendigkeit eines Computers zu überzeugen.
Der kleine Laden lief seit einiger Zeit nicht mehr so gut und Michael hatte seinem Kunden gegenüber einige Male darüber geklagt. So nutze dieser diese Situation um entsprechend zu argumentieren, dass Michael den Verkauf seiner Antiquitäten über das Internet erheblich verbessern könnte.
Mit diesen und noch ein paar anderen überzeugenden Argumenten hatte der redegewandte Mann ihn schließlich dazu gebracht, einen PC und einen Internetanschluss gleich dazu bei seinem Großhandel zu erwerben.
Michael hatte sich überraschend schnell mit der Neuerung zurechtgefunden und mittlerweile bot er seine Ware erfolgreich auf verschieden Internetseiten an.
Aber das Internet bot dem einsamen jungen Mann noch mehr ungeahnte Möglichkeiten.
Der Bus fuhr etwas zu hart durch ein Schlagloch und riss Michael für einen Moment aus seinen Gedanken. Er blickte nach draußen in die Dunkelheit. Außer den entfernten Lichtern vereinzelter Häuser war nichts zu erkennen. Der Bus hatte die Stadt verlassen und war auf die Landstraße gebogen, die zu Michaels Wohnort führte. Von hier aus würde es noch ca. 20 Minuten bis nach Hause dauern dachte er und schaute auf seine Armbanduhr.
Wenn er nach Hause kam, hatte er sicher schon eine Mail von Yvonne in seinem Posteingang.
Er hatte das Mädchen in einem Single-Chat kennen gelernt. Schon nach kurzer Zeit kam heraus, dass die beiden nur wenige Kilometer auseinander wohnten und so dauerte es auch nicht lange, bis man sich verabredete. Michael hätte es nie für möglich gehalten, dass er so leicht ein neues Opfer finden würde. Alleine dafür war er seinem Stammkunden sehr dankbar.
Es war jetzt so einfach für ihn über das Internet neue Frauen kennen zu lernen, die er bestialisch abschlachten konnte.
Alleine der Gedanke an die Schreie und das Blut seiner Opfer löste eine heftige Erektion bei ihm aus. Erschreckt sah er sich im Bus um. Hoffentlich hatte keiner der anderen Fahrgäste die Beule in seiner Hose bemerkt. Aber dann rief er sich ins Gedächtnis, dass er bis auf eine alte Frau in den hinteren Sitzreihen alleine war.
Als er endlich zu Hause war, schloss Michael seinen Laden auf und ging die Treppe hinauf in seine kleine Wohnung, die über dem Geschäft lag. Der junge Mann hatte den Laden vor 5 Jahren von seinem Vater geerbt und bisher sorgsam weitergeführt. Seine Mutter hatte Michael nie gesehen. Sie war kurz nach seiner Geburt mit einem anderen Mann durchgebrannt und hatte seinen Vater mit dem Baby sitzen lassen.
Obwohl er sie nie kennen gelernt hatte, empfand er abgrundtiefen Hass für die Frau, die ihn auf die Welt gebracht hatte. Vielleicht war dieser Konflikt der Auslöser für die Morde, er hatte sich nie ernsthaft darüber Gedanken gemacht.
Wie vermutet, hatte Yvonne ihm ein paar nette Zeilen geschrieben. Sie bedankte sich für das Essen, den schönen Abend und natürlich für den Kuss. Sie wünsche ihm noch eine gute Nacht und fügte hinzu, dass sie sich auf ein baldiges Wiedersehen freuen würde.
Michael klickte lächelnd die Mail zu. Er konnte es kaum abwarten sich wieder mit ihr zu verabreden, obwohl er seit dem letzten Treffen mit Yvonne plötzlich Hemmungen hatte seinen Plan auszuführen. Mit ihr war es anders als bei den anderen Schlampen, die nichts Besseres als den Tod verdient hatten! Michael konnte es sich nicht erklären, aber er fühlte sich irgendwie mit der jungen Frau verbunden. Das erste Mal hatte der Psychopath das Gefühl etwas Verbotenes zu tun.
Er ging ins Bad, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und verdrängte diesen unangenehmen Gedanken. Er würde die Sache durchziehen, wie schon unzählige Male zuvor in seinem erbärmlichen Leben!
Am Wochenende war es wieder soweit. Yvonne und Michael hatten sich wieder verabredet. Per Email hatten sie sich auf einen Kinoabend geeinigt. Nach der Vorstellung gingen sie zum Italiener wo Michael schon am Vortag einen Tisch reserviert hatte. Er war sich sicher, dass es heute passieren würde und hatte vorgesorgt. In der Innentasche seines Sakkos befand sich ein Dolch aus dem 16. Jahrhundert mit dem er schon so manche Beute erlegt hatte. Yvonne wirkte an diesem Abend ein wenig angespannt. Doch mit jedem Glas
Rotwein, das Michael bestellte, wurde sie lockerer. Der Alkohol würde es ihm leichter machen, sie zu überreden sie später noch in ihre Wohnung begleiten zu dürfen. Nach dem Essen unterhielten sie sich noch eine Weile. Michael konnte dem Gespräch nur schwer folgen. Er spürte das kühle Metall der Klinge durch die Jacke an seiner Brust. Der Dolch schien zu pulsieren. Bilder seiner verstümmelten Opfer tanzten durch seinen Kopf. Und dann war es wieder da. Dieses Gefühl der Verbundenheit, der Gemeinsamkeit. Kalter
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.
"Michael, ist dir nicht gut?" Erst jetzt merkte er, dass Yvonne ihn schon eine Weile anstarrte. Er tupfte sich den Schweiß ab und ging auf die Toilette um sich das Gesicht kalt abzuwaschen, dabei betrachtete er sich im Spiegel. Er konnte es nicht tun. Das erste Mal seit Jahren hatte er ein schlechtes Gewissen bei seinem Vorhaben. Schnell trocknete er sich das Gesicht ab und ging wieder zurück an den Tisch.
Yvonne hatte seine Abwesenheit genutzt um inzwischen zu zahlen. Michael war das gar nicht recht. Bisher hatte er den Frauen immer das Essen spendiert, eine Henkersmahlzeit gewissermaßen, das gehörte zu seinem Ritual. An diesem Abend schien ja ohnehin nichts planmäßig zu laufen, also würde das auch nichts mehr ändern.
Sie verließen das Lokal, Yvonne hakte sich bei ihm unter und sie machten einen Spaziergang. Erst an der frischen Luft merkte auch Michael die Wirkung des Rotweins. Normalerweise trank er nicht so viel Alkohol bei seinen Verabredungen. Er musste schließlich einen klaren Kopf behalten, wenn er sein grausiges Handwerk ausführte. Mit leicht schwankendem Gang schlenderten die beiden über den Gehsteig und Yvonne kuschelte sich an seine Schulter. Dieses Gefühl der körperlichen Nähe verunsicherte und erfreute Michael
zugleich. Noch nie hatte er sich in Anwesenheit einer Frau so wohl gefühlt wie an diesem Abend. Der Dolch und sein grausiges Vorhaben rückten immer weiter in die Ferne.
Irgendwie war er dieser Frau verfallen und er beschloss, sich diesem Rausch hinzugeben.
Wie automatisch steuerten die beiden schließlich auf Yvonnes Wohnung zu. Und so standen sie nun im Eingang, hielten sich an den Händen und schauten sich verliebt in die Augen.
Verlegen nickte Michael als Yvonne ihn fragte, ob er noch mit reinkommen würde.
Ihre kleine Wohnung war sehr liebevoll eingerichtet. Die Wände waren in warmen Erdtönen gestrichen und alle Möbel farblich aufeinander abgestimmt. Sofort fühlte Michael sich wohl.
Sie setzen sich auf eine gemütliche Ledercouch. Yvonne öffnete eine Flasche Rotwein und sie stießen auf den Abend an. Als sie sich schließlich leidenschaftlich küssten, hatte Michael den Dolch völlig vergessen. Yvonne entschuldigte sich, stand auf und ging ins Bad. Voller Erwartung saß Michael auf der Couch und sah sich im Zimmer um. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch mit dem Computer, der in der hinteren Ecke des Zimmers stand. Er stand auf, um sich den PC genauer anzusehen. Neben der Tastatur lag ein Notizbuch.
Neugierig nahm er es in die Hand und blätterte es auf. "Tagebuch" stand auf der ersten Seite.
Zuerst wollte er das Buch wieder zuklappen und beiseite legen, aber die Neugier siegte.
Michael blätterte es von hinten durch und hoffte etwas über Yvonnes Gefühle zu ihm zu finden. Nach einigen unbeschriebenen Seiten fand er schließlich die letzte Eintragung.
Mit weit aufgerissenen Augen las er die Worte auf dem Papier "Liebes Tagebuch, ich hätte nie gedacht, dass ich über das Internet so leicht meine Opfer finden würde…. am Samstag ist es soweit….." Mit einem Aufschrei ließ Michael das Buch fallen, als sich eine kalte Messerklinge in sein Rückgrat bohrte.