Lust am Lesen
Lust am Schreiben
12 Uhr
Von M. Hardegger
Der Psychiater lehnte sich müde zurück und starrte der Decke entgegen. In
diesem Beruf lernte man wirklich die außergewöhnlichsten Leute kennen. Vor
ihm saß ein glatzköpfiger Millionär um die fünfzig und redete seit einer
Viertelstunde wirr durcheinander.
"Jetzt hören Sie mir doch einmal zu!", sagte der Verrückte, "Seit fünfzehn
Minuten versuche ich Ihnen beizubringen, dass ich meinen eigenen Tod vorausträume und Sie wollen nicht einmal wissen, was ich genau geträumt habe!"
"Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe. Ich bin kein Traumdeuter,
sondern Psychiater. Gehen Sie um die Ecke, da gibt es eine Hellseherin.
Vielleicht kann die Ihnen helfen."
Der Psychiater schaute auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis 12 Uhr. Mittagspause.
Dann musste der Verrückte gehen und das Honorar würde schön hoch sein, egal
ob er dem Verrückten helfen konnte. Also riss er sich zusammen und murrte:
"Aber egal, erzählen Sie, wenn es Ihnen gut tut, Mister Jenkins!"
"Na endlich, ich dachte schon, ich hätte das Geld aus dem Fenster geworfen...
Wie gesagt, seit rund einem Monat träume ich in jeder Nacht diesen einen
Traum."
"Dann beschreiben Sie doch diesen Traum", sagte der Psychiater gelangweilt.
"Das will ich ja gerade. Also gut. Alles geschieht an einem Bahnhof. Ich
bin mir ziemlich sicher, dass es der Zürcher Hauptbahnhof ist. Ich war schon
ein paar mal dort. Aus dem Blickwinkel, in dem ich meinen Traum jeweils
erlebe, sehe ich einen Kiosk, einige Leute eilen durch und ich sehe eine
große Bahnhofsuhr - sie zeigt exakt 12 Uhr. Dann komme ich plötzlich links
hinter einer Säule hervor. Mitten in der Halle bleibe ich stehen und starre
nach oben. Dann schlage ich die Arme über meinem Kopf zusammen und breche
tot zusammen."
"Das ist alles?"
"Das ist alles."
"Wissen Sie wieso Sie stehen bleiben?"
"Keine Ahnung. Ich starre einfach nach oben, ich weiß nicht genau wohin."
"Wo sagten Sie, dass all dies geschieht?"
"Im Hauptbahnhof Zürich."
"Zürich? Ist das in Europa?"
"In der Schweiz, ja."
"Gehen Sie einfach nicht hin!"
"Aber meine halbe Familie lebt dort!"
"Gehen Sie trotzdem nicht hin."
"Ich muss aber."
"Nun... Dann kann ich Ihnen wohl nicht weiter helfen. Aber ich glaube nicht,
dass Sie wirklich Angst haben müssen. Versuchen Sie einfach nicht daran
zu denken und dann wird der Traum schon wieder verschwinden, keine Sorge."
"Da haben Sie mir ja viel geholfen, das war das Geld ja wirklich wert!"
Jenkins warf dem Psychiater einen unfreundlichen Blick zu und verließ schnellen
Schrittes das Büro. Den Ruf des Psychiaters, dass er ihm die Rechnung zuschicken
würde, überhörte der Glatzköpfige.
Normalerweise wäre Jenkins zu Fuß nach Hause gegangen. Er wohnte nur etwa
einen Kilometer weiter durch die Häuserschlucht New Yorks. Doch heute regnete
es in Strömen und es war kalt, deshalb rief er ein Taxi herbei und ließ
sich nach Hause fahren. Dort angekommen betrat er den Lift, fuhr hinauf
in den 22. Stock, schritt den Flur hinunter und öffnete die Türe zu seiner
Wohnung. Sie war dunkel und verlassen. Ganz still.
Jenkins kam sich einsam vor. Seit seine Frau ihn vor einem halben Jahr verlassen
hatte, lebte er alleine in der geräumigen Wohnung, aber ohne sie und die
Kinder fühlte er sich stets einsam und unwohl. Er suchte nach einer neuen,
kleineren Heimat, vielleicht auch auf dem Land. Per Internet könnte er auch
weiter für sein Unternehmen im Stadtzentrum arbeiten und er fühlte, dass
ihm ein wenig Ruhe gut tun würde.
Das Telefon klingelte.
Jenkins ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Er hörte die piepsige
Stimme seiner Sekretärin, die ohne Begrüßung loszuplappern begann.
"Ich habe hier einen ganzen Berg Arbeit für Sie, Mister Jenkins, Sie sollten
wirklich öfters ins Büro kommen, aber da ist noch etwas anderes, wichtigeres.
Ihre Schwester... Sie hat angerufen. Es geht nicht mehr lange."
"Wie lange?", fragte Jenkins.
"Der Arzt sagt... höchstens eine Woche."
"Oh, mein Gott."
"Ich hätte Sie sofort informiert, aber Sie waren nicht da. Ich habe schon
einmal wegen einem Flug nachgeschaut."
"Ja, danke, so schnell wie möglich. Ich will auf keinen Fall zu spät kommen."
"Das habe ich mir gedacht. Ich habe zwei Flüge herausgesucht."
"Um welche Zeit?"
"Der erste fliegt schon in der Nacht ab und ist um 10 Uhr in Zürich Airport,
von dort können sie per Zug in die Stadt, spätestens um 12 wären Sie im
Spital. Der zweite wäre morgen um 17 Uhr in Kloten."
Unweigerlich kam ihm wieder der Traum in den Sinn. Er erinnerte sich noch
genau an den Tag, als er ihn zum ersten Mal hatte. Es war, als er zum ersten
Mal von der Krankheit seiner Patentochter gehört hatte und seither ahnte
er, dass er bald einmal in Zürich sein und mit seinem Aberglauben konfrontiert
werden würde. 12 Uhr, er erinnerte sich wieder.
"Oh, ich glaube, der zweite wird auch genügen."
"Zu Befehl. Ach ja, haben Sie endlich eine neue Wohnung?"
"Nein, noch nicht. Ich habe keine Zeit. Aber gehen Sie jetzt nach Hause
und genießen Sie einen freien Nachmittag, ich komme heute nicht mehr ins
Büro, ich bin müde."
"Ich verstehe. Dann bis nachher. Keine Sorge, ich regle alles wegen nächster
Woche."
"Ja, danke vielmals."
Er wusste genau, wie viel er seiner Sekretärin zu verdanken hatte.
Am nächsten Morgen musste Jenkins schon sehr früh aufstehen. Trotzdem erwachte
er noch Stunden bevor der Wecker klingelte. Er hatte wieder geträumt.
Durch die nächtlichen Straßen fuhr er zum Flughafen. Eine zeitlang hatte
er Angst, dass das Flugzeug Verspätung haben könnte, schließlich gab es
auch ein 12 Uhr in der Nacht. Zumindest für die Bahnhofsuhren. Aber das
Flugzeug hatte keine Verspätung, im Gegenteil, so pünktlich war er selten
gestartet.
Der Flug selbst verlief planmäßig und ohne jegliche Zwischenfälle. Um 17:02
Uhr landete die Maschine weich im verregneten Flughafen Kloten. Jenkins
überlegte noch kurz, ob er nicht ein Taxi nehmen sollte, doch er ließ es
bleiben. Es war nicht 12 Uhr und bis es 24 Uhr sein würde, wäre er längst
bei seiner Schwester.
Gemütlich, aber doch ein wenig unruhig, bummelte er durch die Läden und Geschäfte
des Flughafens, kaufte sich eine Zeitung und telefonierte noch kurz mit
seiner Sekretärin, die aber nicht im Büro war. Also rief er seine Schwester
an, um ihr zu sagen, dass er bald bei ihr vorbei kommen würde. Sie wohnte
mitten in Zürich und arbeitete in einem Kleidergeschäft. Wie Jenkins war
sie schon lange geschieden und hatte auch zwei Kinder, aber nicht wie er
Söhne, sondern zwei Töchter. Die ältere war jetzt wohl schon fast zwanzig,
die jüngere, die nun an Krebs erkrankt war, wurde in zwei Monaten fünfzehn.
Beides hübsche Mädchen, freundlich und fröhlich, doch die Scheidung ihrer
Mutter hatte die beiden sehr verändert. Und jetzt auch noch das. Es waren
schwierige Zeiten.
Um 1756 Uhr fuhr der Zug aus Kloten ab. Er holperte unruhig aus dem unterirdischen
Bahnhof in Richtung Hauptbahnhof Zürich. Eine knappe halbe Stunde später
stieg Jenkins mitten in der Stadt wieder aus. Er war schon einige Male hier
gewesen, seine Mutter kam aus Zürich und früher hatten er mit seiner Frau
oft Ferien in der Schweiz gemacht, doch das war länger her. Seit dieser
Zeit hatte er nur noch ein paar Mal für ein oder zwei Tage seine Schwester
und die Mädchen besucht. Das letzte Mal an Weihnachten vor zwei Jahren.
Er schaute auf die Uhr. Es war 18:29 Uhr. Noch lange nicht 24 Uhr. Trotzdem,
er musste an den Traum denken: Er ging durch die große Halle, sah auf und
erschrak. Wieso nur erschrak er so?
Jenkins fror ein wenig. Ein starker Wind wehte in dem Bahnhof, es regnete,
wie in New York.
Seine Schwester hatte gesagt, dass sie ihn um 1845 Uhr vor dem Bahnhof abholen
würde. Er hatte ihr nichts von dem Traum erzählt. Sie hätte nur gelacht.
Nach einem weiteren Blick auf die Uhr schritt er das Bahnsteig hinunter.
Überall Leute, hektisch eilende Geschäftsmänner, lachende Kinder, rufende
Mütter, gepäckbeladene Reisende, ein altes Paar mit einem Hund, zwei rauchende
Jugendliche. Von irgendwoher tönten die Klänge der Instrumente einiger Straßenmusikanten, ein Kleinkind weinte. Aus dem Lautsprecher wurden die neuesten Abfahrtszeiten
gemeldet. Hunde bellten sich an, laut diskutierten zwei Studentinnen. Immer
mehr Menschen eilten zu den Zügen, irgendwo quietschten die Bremsen einer
Lok.
Jenkins blieb stehen. Er wischte mit einer raschen Handbewegung den Schweiß
von der Stirn und atmete tief durch. Als er wieder aufsah, stand er vor
der Halle. Er zitterte am ganzen Leib. Der Kiosk, die Plakate, die Leute,
alles war wie im Traum, nur - er vergewisserte sich mit einem Blick auf
die Armbanduhr - es war nicht 12 Uhr und auch nicht 24 Uhr.
Er stand lange einfach nur da, dachte an den Traum, an die Angst und schließlich
an das kleine Mädchen, das im Krankenhaus den Tod erwartete. Sie wusste
es genau, sie wusste, dass sie sterben würde. Für sie gab es keine Unsicherheit
mehr, nur die Hoffnung auf ein Wunder. Er hatte schon Angst wegen eines
Traums. Welche Furcht musste dieses Kind haben?
Langsam setzte er einen ersten Fuß in die Halle, dann setzte er den anderen
davor, atmete tief durch, beschleunigte, plötzlich fühlte er sich sicher.
Ihm würde nichts geschehen.
Am nächsten Tag schien in New York nach einer verregneten Woche endlich
wieder einmal die Sonne. Der Psychiater, der zwei Tage zuvor Mister Jenkins
beraten hatte, schlug in seinem Büro eine Zeitung auf. Er blätterte gelangweilt
darin herum. Börsenkurse sinken... Ja, ja, diplomatische Krise... spannend,
Präsident hat Grippe... Hochinteressant...
Dann fiel im plötzlich ein vergleichsweise kleiner Artikel auf.
"Bekannter Geschäftsmann Martin Jenkins verstorben", stand groß vor dem
kurzen Text. Plötzlich erinnerte sich der Psychiater wieder an Jenkins und
die Rechnung über 500 Dollar, die er eben erst abgeschickt hatte. Rasch
las er den Artikel durch: "Der New Yorker Geschäftsführer und Millionär
erlitt gestern um 18:37 Uhr MEZ überraschend einen Herzinfarkt. Martin Jenkins
befand sich zu diesem Zeitpunkt im Hauptbahnhof von Zürich in der Schweiz
und war auf dem Weg zu seiner Nichte, als er plötzlich zusammenbrach. Einige
Passanten schilderten später, dass er vor dem Zusammenbruch mitten in der
Haupthalle erstarrte und dann die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Die
Polizei versicherte, dass ein Mord ausgeschlossen werden kann."
Danach stand noch einiges über die Taten und Leistungen von Martin Jenkins,
doch das interessierte den Psychiater wenig. Der Verrückte war tatsächlich
nur einen Tag nach dem Besuch bei ihm zu dem Ort geflogen, vor dem er sich
so gefürchtet hatte und dann trat auch noch genau das ein, was er geträumt
hatte. Ein merkwürdiger Fall. Wieso nur war dieser Jenkins so schockiert?
Was ließ ihn erstarren?
Doch dann erinnerte sich der Psychiater an etwas, das ihm Jenkins bei seinem
Besuch erzählt hatte. Die Uhr. Er sagte, es müsse 12 Uhr sein, aber es war
nicht 12 Uhr gewesen, sondern 18:37 Uhr. Es gab also nur drei Möglichkeiten.
Entweder war alles purer Zufall, er hielt die psychische Belastung nicht
aus oder eine der beiden Geschichten, also der Artikel oder der Traum, stimmte
nicht.
Der Psychiater schaute sich das Bild vom Todesort an. Es war eine große
Halle, genau wie Jenkins sie geschildert hatte, auch ein Kiosk war zu sehen.
Überall standen Leute herum, Ambulanz, Polizei und einige Gaffer, doch sonst
stimmte alles mit der Beschreibung Jenkins' überein, nur dass es nicht 12
Uhr war.
Die Uhr! Es fiel dem Psychiater plötzlich auf. Sie war nur klein auf dem
Bild, im Hintergrund zu erkennen, doch jetzt wurde ihm alles klar.
Ein Schild hing da, klein, schwer erkennbar: Defekt. Beide Zeiger waren
senkrecht nach oben gerichtet. 12 Uhr.