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Russisch Roulette
Von Dirk Christofczik
50000 Euro, 5 Kammern, 5 Minuten Angst! Das ist alles, worum es geht! Auf dem ovalen Spieltisch liegt die Waffe, schwarz, der Geruch von Waffenöl brennt mir in der Nase. Das flackernde Licht aus der Lampe mit dem grünen Schirm blendet mich. Ich zittere innerlich, aber ich lass es mir nicht anmerken. Augenpaare starren mich an und warten darauf, dass ich mit dem Kopf nicke. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzumachen. 50000 Euro Schulden, mit einem Schlag getilgt! Fünf Kammern, fünf Minuten Angst! Nina und
die Kinder, so viel Geld, ich muss es einfach machen! Das bin ich ihnen schuldig! 5 Kammern, 5 Minuten Angst! Ich nicke dem dicken Kerl mit dem Muscle-Shirt und den tätowierten Armen zu.
"Ich mache es!", höre ich mich leise flüstern. Ich schaue auf den Mann, der mir gegenüber am anderen des Tisches sitzt: mein Mitspieler! Er schwitzt und schaut aus seinen glasigen Augen als wäre er betäubt. Vielleicht ist er das auch, vielleicht sollte ich es auch sein. Der Dicke spricht mich wieder an und fragt, ob ich mit der Waffe umgehen kann. Wieder nicke ich mit meinem Kopf, der wie eine zentnerschwere Abbruchbirne drückt. Der Dicke greift in die Tasche seiner viel zu engen Lederweste und kramt
eine Patrone hervor. Er legt sie auf den Tisch, golden blitzend, grazil und hässlich zugleich! Ich schaue dem Dicken zu, blicke dann auf mein Gegenüber, der seine Augen starr auf das grüne Tuch richtet. Ich höre ein Rattern, so als würde jemand einen Stock zwischen Fahrradspeichen stecken. Der Dicke hat den Revolver in der Hand und dreht mit den Händen die aufgeklappte Trommel wie ein Hamster sein Laufrad. Zum ersten Mal spüre ich dieses warme Gefühl in meinem Bauch, keine angenehme Wärme sondern eine stechende,
die langsam meinen Körper hinaufwandert. Nicht schnell, nein ganz langsam kriechend, damit sie jede Faser in mir verbrennen kann. Mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht steckt der Dicke die Patrone in eine der Kammern. In der Ecke sitzt ein Dobermann, still wie ein Porzellanhund, aber allzeit bereit, sein Herrchen zu verteidigen. Ein Indianer mit vollem Kopfschmuck! Auf dem Unterarm des Dicken prangt der Kopf eines Apachen, schlecht gestochen, aber gestochen scharf blickt er aus seinen schmalen Augen. Es ist
Geronimo, ja das ist Geronimo! Dann zucken die Muskeln unter der Haut des Unterarms, und die Trommel fliegt zurück in den Revolver, wo sie mit einem dumpfen KLACK einrastet. Für einen Moment sieht es so aus, als würde Geronimo mir zublinzeln, oder hat er mich ausgelacht? Es ist egal! Der Dicke dreht noch einmal die Trommel, dann legt er die Waffe zurück auf den Tisch, genau in der Mitte der Platte.
"Kopf oder Zahl?", grunzt er und lässt seinen Blick zwischen mir und meinem Mitspieler wandern, dabei jongliert er einen alten Silberdollar zwischen seinen Fingern.
"Zahl!", murmelt mein Gegenüber, ich schweige. Die Münze wirbelt wie in Zeitlupe durch die Luft, dreht sich ein paar Mal um die eigene Achse, dann fällt sie träge zurück auf den Tisch. Zahl! Die Hitze hat meinen Kopf erreicht, ich glühe, ich muss beginnen. Der Dobermann knurrt leise vor sich hin.
Der Dicke tritt an den Tisch, schaut mich an, grinst und schiebt mir dabei den Revolver rüber. Mir wird schlecht, die Decke dreht sich, ich denke an Nina, die Kinder, werde ich sie wiedersehen? Ich überlege zu fliehen, doch ich kann nicht fliehen, ich muss abdrücken! Glück? Soll ich mir Glück wünschen, oder soll ich beten? Ich glaube, es spielt keine Rolle, also lass ich beides. Das Gesicht des Dicken wird langsam ungeduldig, unmissverständlich deutete er auf die Waffe. Mein Gegenüber starrt immer noch auf den
Tisch. Ob er auch Familie hat? Frau, Kinder oder eine Mutter, die auf ihn wartet. Er sieht jünger aus als ich, aber es interessiert mich nicht wirklich. Ich denke in diesem Moment nur noch an mich! Ich befehle meiner Hand, den Revolver zu nehmen, doch sie antwortete nicht, sie rebelliert gegen den Wahnsinn, doch ihre stiller Protest ist sinnlos. Schließlich zwinge ich meine Finger, die Waffe zu umschließen, und mit der Hilfe meiner Muskeln, die sich steif wie eine Stange Eisen gemacht haben, hebe ich sie hoch
und führe den Lauf an meine Stirn. Das Eisen drückt kalt an meiner Schläfe, dabei trifft es auf die Hitze, die meinen Körper überflutet hat. Mit dem Daumen spanne ich den Hahn des Revolvers, es geht schwerer als ich gedacht habe, aber ich höre, wie sich die Trommel im Revolver dreht. Kann man es hören, ob eine Kammer leer oder geladen ist? Ich werde es hören, so oder so! Ich habe Angst, mir in die Hose zu machen. Ich sterbe vielleicht hier und jetzt in dieser alten Kaschemme, und ich habe Angst, mir in die Hose
zu machen. Ich schaue noch einmal auf mein Gegenüber, keine Reaktion. Der Dobermann in der Ecke hechelt leise, der Dicke steht am Rand des Tisches, ich sehe aus den Augenwinkeln die Speckfalte, die unter seinem T-Shirt hervorquillt.
5 Kammern! Ich drücke ab! Flop! Leer!
Ich hechele, ich stöhne und lege die Waffe so schnell wie möglich auf den Tisch zurück. Ein Kloß quetscht sich durch meinen Hals die Speiseröhre hinunter. Ich spüre die Wärme zwischen meinen Beinen, eine andere Wärme, die kribbelnd an meinen Beinen herabwandert; also doch in die Hosen gemacht. Ich zittere am ganzen Körper, mein Hemd klebt nass geschwitzt am Rücken fest, und ich bin froh, dass ich sitze. Ich könnte quer über den Tisch erbrechen, aber ich lebe, noch! Ich schaue rüber auf die andere Seite des Tisches.
Mein Mitspieler hat die Augen kurz geschlossen, endlich ein Funken der Regung, es ist Verzweiflung, das kann ich spüren. Der Dicke nimmt die Waffe und bringt sie rüber und legt sie vor dem nächsten Todeskandidaten ab. Der zögert nicht so lang wie ich, nimmt die Waffe, schaut mich bitter an, so als wüsste er was kommt, dann drückt er ab. Ich realisiere den ohrenbetäubenden Knall, doch bringe ihn seltsamerweise nicht mit der Waffe in Verbindung, sondern blicke suchend durch den Raum. Ich sehe den roten Fleck auf
der vergilbten Wand, ich stutze einen Moment, dann fällt mein Blick auf meinen Mitspieler. Er scheint zu grinsen, aus seinem halb geöffneten Mund blecken die vergilbten Zähne, dann fällt seine Kopf wie ein Gewicht krachend auf den Tisch. Erst jetzt sehe ich das riesige Loch an seiner Schläfe. Dickes, rotes Blut läuft aus der Wunde und verbreitet sich auf dem grünen Filz, verteilt sich zwischen den aufgedruckten Zahlen und bildet eine kleine Lache auf der schwarzen 5. "Rien ne va plus!", brüllt der Dicke
und kichert, ein grässliches Kichern, laut und hohl. Ich kann meinen Blick nicht von dem Toten abwenden, ich bin erstarrt auf meinem Holzstuhl! Ich sollte doch erleichtert sein, es ist vorbei, doch ich spüre, dass ich nie wieder erleichtert sein werde. Ich will raus, raus aus dieser Hölle, ja das muss die Hölle sein. Ich stehe mühsam auf und erwarte in mich zusammenzusacken, aber meine Beine tragen mich, sie wollen mich tragen. Der Stuhl kippt um, ich laufe los, vorbei an dem Dobermann, der mich mit feindseligen
Augen fixiert, der Dicke beachtet mich nicht mehr. Ich renne Treppen hoch, die scheinbar unendlich lang sind, doch dann sehe ich eine Tür. Ich trete sie auf und stürme durch einen Raum, direkt auf die nächste Tür zu. Dann bin ich draußen, an der Luft. Ich sauge den Sauerstoff, wie ein Ertrinkender ein, keuche, halte mich an einer Laterne fest und erbreche endlich in den Rinnstein. Spucke hängt in Fäden an meinem Kinn herab, ich wische mir mit dem Handrücken den Mund sauber. Ich denke an Nina, an die Kinder, an
meine Mutter! Ich lebe, nicht mehr und nicht weniger! Ich lebe, ja ich lebe!