Ein Niemand
Eine Kurzgeschichte von Sandra Wilke
Das Bersten der Holzscheite in dem prasselnden Feuer des Kamins schreckte sie aus ihrem Schlaf. Mit angezogenen Beinen und eingewickelt in eine wärmende Wolldecke, saß sie auf dem gemütlichen Sofa der Holzhütte und hatte Mühe, ihre Gedanken so kurz nach dem Erwachen zu ordnen. In ihrem Kopf hämmerte ein unbekannter Schmerz und als sie ihre Schläfen massierte, wunderte sie sich, wie bleischwer ihre Glieder waren. Selbst das Toben des Schneesturms, der die Berghütte in fester Umarmung zu halten schien, drang irgendwie
dumpf an ihr Ohr.
Mühsam rappelte sie sich auf und ging leicht wankend ins Bad. Das Gesicht im Spiegel war ihr fast fremd, so voller Erschöpfung und mit verquollenen Augen, als hätte sie stundenlang geweint. Ich bekomme eine Grippe, dachte sie, ausgerechnet jetzt. Sie hielt einen Waschlappen unter kaltes Wasser, nahm ihn mit zurück auf das Sofa und legte ihn sich aufs Gesicht. Die Kühle tat gut und holte sie etwas aus ihrer Benommenheit heraus. Wie lange sie wohl geschlafen hatte?
Als es lautstark an der Tür klopfte, zuckte sie erschrocken zusammen. Dann breitete sich ein sanftes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Er ist gekommen, endlich, dachte sie und Vicky ging zur Tür.
Es war ihr egal, wie sie aussah, er hatte zu ihr gefunden und nur das zählte. Vicky strich sich kurz mit den Fingern durch das lange Haar, riss in freudiger Erwartung die Tür auf und erstarrte. Der Mann, der vor ihr stand, war nicht Tom. Der eisige Wind, der zur Tür hereinwehte, hätte nicht kälter sein können, als das Gefühl, was sich augenblicklich in ihr ausbreitete. Vicky war enttäuscht, gekränkt, ja, aber sie wunderte sich nicht über den Fremden, der praktisch aus dem Nichts der weiß bedeckten Landschaft
aufgetaucht war. Sie hatte keine Angst.
"ER hat Sie geschickt, nicht wahr?", stellte Vicky resigniert fest. Sie drehte sich um, ging zum Sofa zurück und überließ es dem Fremden, die Tür zu schließen und somit die Wärme des Hütteninneren wieder herzustellen.
Vicky sah über ihre Schulter und musterte den Mann, der ziellos und stumm in der Mitte des Raumes stand. Jung war er, ungefähr Ende Zwanzig, genau wie sie. Er schien unbeschadet durch das Schneegestöber gekommen zu sein, sein Haar war nicht einmal mit Schneeflocken bedeckt, geschweige denn feucht. Sie wollte ihm anbieten, seine Jacke abzulegen, als sie bemerkte, dass er lediglich einen warmen Strickpullover trug. Etwas ungewöhnlich bei diesen Minustemperaturen.
Vicky spürte, wie eine neue Welle des Schmerzes ihren Kopf durchflutete und sich wie ein Schleier auf ihre Gedanken legte. Diese verdammte Grippe.
Vicky machte eine einladende Handbewegung. "Setzen Sie sich zu mir ans Feuer und wärmen Sie sich auf", sagte sie.
Sie hätte wütend sein, dem Fremden vielleicht eine Szene machen müssen, doch sie fühlte sich nur leer. Eine leere Hülle, abgestumpft, ohne jedes Gefühl.
Der Mann näherte sich dem Sofa und setzte sich neben Vicky.
"Wie ist Ihr Name?", fragte sie, eher aus Verlegenheit und dem Gefühl heraus, einfach etwas sagen zu müssen. Sicher wusste der Fremde bereits alles über sie, die Verschmähte, die dumme Gans, die Klette.
"Ich bin niemand", sagte der Fremde und Vicky war überrascht, wie leise und melodisch seine Stimme klang. Andererseits war es genau die Stimme, die man von einem Mann mit seinen feinen, fast femininen Gesichtszügen einfach erwartete.
Sie lachte gequält auf. Wie viele "Niemands" waren in den letzten vier Jahren, seit sie Tom kannte, schon zu ihr gekommen. Den Niemand, der seinen Wagen steuerte, kannte sie am besten. Nicht, dass es je zu einem vertraulichen Gespräch oder aufmunternden Worten gekommen wäre. Niemand hatte nur Toms Anweisungen ausgeführt und seine Ausflüchte überbracht, mehr nicht. Vielleicht war da manchmal eine Mischung aus Spott und Mitleid in Niemands Gesichtsausdruck zu sehen gewesen, aber vielleicht bildete sie
sich das auch nur ein. Niemand hatte sie immer gefahren, wohin sie wollte, aber öfter noch, wohin sie nicht wollte - nach Hause. Zurück aus dem Restaurant, in dem sie vergeblich auf Tom gewartet hatte. Zurück aus der Oper, wo die Premiere ohne Tom, den ewig Beschäftigten, stattgefunden hatte. Zurück vom Flughafen, wo Niemand ihr kurz vor dem Check-in mitteilte, dass wichtige Geschäfte (oder seine Frau) Toms Anwesenheit verlangten.
Der Fremde saß ohne eine Regung seines Gesichts oder Körpers neben ihr und schaute sie an.
"Niemand also", sagte Vicky, zog die Beine an und kuschelte sich samt Wolldecke an die Sofalehne. "Wo ist denn Ihr Platz in der Niemand-Hierarchie? Sie sehen noch sehr jung aus und da wir uns bisher nicht kennen gelernt haben, muss Tom Sie wohl ganz neu rekrutiert haben."
Der junge Mann lächelte. Das schönste Lächeln, das Vicky je bei einem Mann gesehen hatte. Ehrlicherweise musste sie sich eingestehen, dass ihr aber auch die Vergleichsmöglichkeiten fehlten. Wann, seit sie Tom kannte, hatte sie andere Männer überhaupt eines Blickes gewürdigt, oder sich mit ihnen in einer Situation befunden, die solch ein Lächeln hätte hervorrufen können?
"Ich bin nur einer von vielen, ein kleines Rad im großen Getriebe, wie man so schön sagt. Aber gerade die kleinen Räder halten alles am Laufen und ich habe meine Aufgabe." Der Fremde lächelte noch immer und sah sie an, als würde er auf etwas warten.
Na, prima, dachte Vicky. Ein Niemand, der seine Erfüllung in einem Botengang für Tom sieht und sich darüber freut, wie ein kleines Kind, das ein Bonbon geschenkt bekommt.
"Was ist es diesmal?", versuchte Vicky den Grund seines Besuches auf den Punkt zu bringen.
"Er wird nicht kommen", sagte der Fremde.
Ein bitteres Lachen kam aus ihrer Kehle. "Was Sie nicht sagen. Ihr Erscheinen lässt wohl kaum einen anderen Schluss zu."
Vicky legte beide Hände vor ihre schmerzenden, geschwollenen Augen und genoss den kurzen Moment der Dunkelheit.
"Es ist seine Frau, nicht wahr?" Vicky ließ ihre Hände kraftlos in den Schoss fallen und schaute dem Mann direkt in die Augen.
"Keine besondere Nachricht, keine Entschuldigung, kein Trostpflaster in Form eines kleinen Schmuckstücks?", fragte Vicky spöttisch. Sie schaute auf die Hände des Fremden, als erwarte sie, darin ein Geschenk zu finden, nun, wo sie dem Mann bereits das passende Stichwort geliefert hatte.
Ihr Gegenüber zuckte nur mit den Schultern.
"Sie müssen stark sein", sagte er sanft, aber eindringlich.
"Stark?" Vickys Stimme schwoll an. "Ich weiß nicht, was Tom Ihnen über mich erzählt hat, aber ‚stark' ist mein zweiter Vorname, seit ich mit ihm zusammen bin. Ich war immer stark genug, in Gegenwart anderer meine Tränen zurückzuhalten, wenn er mich Miss Steller nannte, mir kurz und knapp seine Aufträge erteilte, ohne mir auch nur einmal flüchtig zuzulächeln. Ich war auch stark, wenn ich nachts in seinen Armen lag, er mir seine Liebe beteuerte und mich zum hundertsten Mal bat, Geduld zu haben. Erzählen
Sie mir nichts von Stärke."
Der Fremde sah sie nur an und nickte.
"Stärke braucht Nahrung", sagte er mit Nachdruck.
"Ich habe schrecklichen Durst", Vicky tastete mit einer Hand an ihren Hals. Da der Mann keinerlei Anstalten machte, ihr netterweise etwas zu trinken zu holen, warf sie die Decke von sich und ging selbst in die Küche. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank, drehte den Wasserhahn an der Spüle auf und wunderte sich, dass sie das kalte Metall der Armatur kaum spürte. Ich muss Fieber haben, dachte Vicky und setzte das volle Glas Wasser an ihre Lippen. Gierig trank sie es in einem Zug aus, stellte das Glas einfach
auf die Ablage und ging zum Kamin zurück.
Der Fremde hatte seine Position augenscheinlich nicht verändert. Sobald sich Vicky gesetzt hatte, ruhten seine Augen wieder auf ihr.
"Lassen Sie uns ein Stück spazieren gehen", schlug er plötzlich vor.
"Sind Sie verrückt?" Vicky schaute ihn verwundert an. "Bei dem Sturm bringen mich keine zehn Pferde nach draußen, außerdem fühle ich mich müde und schlapp."
Der Fremde erhob sich vom Sofa, ging ein paar Schritte durch den Raum und machte eine ausschweifende Handbewegung.
"Haben Sie nicht bemerkt, dass der Sturm sich längst gelegt hat? Kein Pfeifen des Windes mehr, kein Knarren im Holzgebälk, kein Rumoren in den Wasserleitungen. Kommen Sie schon."
Vicky erfasste erst jetzt die eingetretene Stille und staunte über die Aufmerksamkeit des jungen Mannes, von dem sie glaubte, er habe sich die ganze Zeit nur auf sie konzentriert. Sie selbst hatte weder die Geräusche noch deren Verschwinden bewusst wahrgenommen. Bei ihrem Zustand wunderte sie das allerdings überhaupt nicht.
Der Fremde stand bereits an der Tür, als würde er keinerlei Widerspruch dulden.
Vicky raffte sich auf, zog ihre Winterjacke und die dicken Stiefel an und ging ebenfalls zur Tür, welche ihr überraschender Besucher sodann öffnete. In Erwartung des beißenden Windes, hielt Vicky beim Verlassen der Hütte den Kopf gesenkt. Doch draußen herrschte eine Stille, die fast unwirklich war. Der Sturm hatte sich tatsächlich gelegt und die abertausend dicken Schneeflocken fielen lautlos zu Boden. Die Schneedecke war eine einzige, glattpolierte Platte ohne jeglichen Makel. Es musste heftig geschneit haben,
seit der Fremde angekommen war, denn es waren keinerlei Spuren seiner Ankunft im Schnee zu sehen.
"Mir geht es wirklich nicht gut", setzte Vicky erneut an, doch der Mann führte sie die Stufen der Eingangstreppe hinunter und in die Weite des Schnees hinein.
"Wer sind Sie, Vicky?", fragte er unvermittelt und sie meinte, ehrliches Interesse in seiner Stimme zu hören, wenngleich ihr die Fragestellung seltsam erschien.
Sie wusste nicht warum, aber dieser Mann flößte ihr Vertrauen ein, gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, obwohl er ihr völlig fremd war. Seine ruhige Art tat ihr gut.
So fing Vicky an, zu erzählen. Von der Zeit des Kennenlernens mit Tom, ihrem Leben als Angestellte und Geliebte eines verheirateten, wohlhabenden Mannes, dem sie ihr Dasein die letzten vier Jahre gewidmet hatte. Sie sprach von all den enttäuschenden Momenten ihrer Liebe, den Versprechungen Toms, seine Frau zu verlassen und dass es dazu in all der Zeit ihres Zusammenseins bisher nie gekommen war. Und, wie die Anwesenheit des Fremden zeigte, wohl auch in Zukunft nicht kommen würde.
"Wissen Sie", sagte Vicky, "Sie sind nicht der erste ‚Niemand', den ich hier in Toms Berghütte kennen lerne. Seit drei Jahren verspricht er, einen Teil der Weihnachtsfeiertage mit mir zu verbringen. Trotz seiner Beteuerungen hat er mich immer wieder versetzt." Etwas beschämt wandte sich Vicky ab und sah zu Boden.
Trotz der Strecke, die sie bereits von der Hütte aus zurückgelegt hatten, schien die Außenlampe der Veranda noch genügend Licht für sie beide zu spenden. Oder war es das unglaubliche Weiß des Schnees, was diesen matt leuchtenden Schimmer um sie herum erzeugte?
Der Fremde hatte die ganze Zeit über aufmerksam ihren Worten gelauscht und geschwiegen. Er verlangsamte seinen Schritt, blieb dann ganz stehen und atmete tief die kalte, frische Luft ein, als wollte er den nächtlichen Frieden komplett in sich aufsaugen.
"Sie haben meine Frage nicht ganz beantwortet", sagte er ernst.
Irritiert wandte Vicky ihm ihr Gesicht zu. "Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Nachdem, was ich Ihnen gerade erzählt habe, wissen Sie mehr über mich, als die meisten Menschen."
Nachsichtig, als hätte er es mit einem kleinen Kind zu tun, legte er seine Hände auf ihre Schultern und schüttelte sie sanft.
"Ich wollte wissen wer SIE sind. Nicht die Frau an der Seite dieses Mannes, die in seinem Dunstkreis ausharrt und auf die Brotkrumen hofft, die vom Tisch für sie abfallen. Wer ist Vicky Steller, was sind ihre Träume? Können Sie mir darauf eine Antwort geben, ohne auch nur einmal den Namen Ihres Geliebten zu erwähnen?"
Vicky starrte den Fremden an und ohne es zu wollen, liefen ihr Tränen übers Gesicht. Sie wusste, worauf er hinaus wollte. Natürlich hatte es eine Vicky vor Tom gegeben. Eine lebenslustige Frau, voller Selbstvertrauen und mit dem üblichen, aber doch auch seligmachenden Wunsch nach einem Heim, einer Familie.
"Sie wollen wissen, ob Tom es wert ist, dass ich mich so behandeln lasse?" Vicky lächelte müde. "Sie würden einen prima Psychologen abgeben."
Auch wenn der Spaziergang und das Gespräch mit dem Mann den Nebel um ihre Gedanken etwas gelichtet hatte, fühlte sie sich körperlich matter denn je.
"Sind Sie es nicht wert, respektiert zu werden?", stellte der Fremde die Gegenfrage.
"Hingabe ist etwas wundervolles", sinnierte er, "wenn sie nicht zur Selbstaufgabe führt."
Vicky wurde das Gespräch langsam zu tiefsinnig und anstrengend. "Lassen Sie uns umkehren", sagte sie, doch der Fremde hielt sie zurück.
"Denken Sie nach, Vicky, wie viel sind Sie sich selbst wert", fragte er mit einer aufkommenden Strenge, die so gar nicht zu seinem sanften Äußeren passen wollte.
"Wir haben nicht mehr viel Zeit", setzte er hinzu.
Vicky nahm seine Hand in die ihre.
"Es tat gut, sich mit Ihnen zu unterhalten und ich bin dankbar, dass Sie mir zugehört haben. Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, doch im Grunde geht nichts davon Sie wirklich etwas an." Sie ließ seine Hand los, wandte sich der Hütte zu und stiefelte los. "Und was die Zeit angeht", rief sie ihm im Gehen über ihre Schulter zu, "wenn es Tom schon gleichgültig ist, dass ich hier auf ihn warte, wird er wohl kaum etwas dagegen haben, wenn ich noch etwas hier bleibe."
"Sie können nicht zurück, ohne zu wissen, was Sie wirklich wollen, welche Bedeutung Ihr Leben für Sie hat", rief der Fremde ihr hinterher.
Vicky wartete, bis er sie eingeholt hatte.
"Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie viel zu ernst für Ihr Alter sind?", gelang es Vicky zu scherzen. "Wenn Tom wissen will, ob ich ihm Schwierigkeiten machen oder zu seiner Frau gehen werde, so können Sie ihn beruhigen. Ich habe nichts dergleichen vor." Sie trat auf der Stelle, weil eine plötzliche Kälte sich den Weg durch ihren gesamten Körper zu suchen begann.
"Ich meine nicht ihre Heimreise, sondern die Rückkehr ins Haus", sagte der Mann leise und Vicky hatte Mühe, ihn zu verstehen. Der Wind schien einen Teil seiner Stärke wiedergefunden zu haben und fegte den Schnee um ihre Füße wie feinen Staub hin und her. Und obwohl sie der Hütte schon wieder recht nahe gekommen waren, hatte der Lichtschimmer, den sie zuvor als anheimelnd empfunden hatte, viel von seiner Kraft verloren.
Der Fremde stand neben ihr im Schnee, wie ein Fels in der Brandung. Er schien weder die Kälte noch das Zerren des Windes zu spüren, sah die junge Frau nur mit einem seltsam traurigen Gesichtsausdruck an.
"Sie haben nichts verstanden, oder?"
Vicky hatte nicht mehr die Energie, diese Diskussion weiterzuführen. Ihre Grippe schien dem Höhepunkt entgegen zu steuern, so schlecht wie sie sich fühlte.
"Hören Sie", sagte Vicky entnervt, "ich bin einfach nicht in der Verfassung für Ihre Rätsel und das Einzige, was ich im Moment will, ist ins Haus zurückzukehren." Sie sah den Fremden auffordernd an und er folgte ihr durch den Schnee bis zur Eingangstreppe der Hütte.
Vicky ging die paar Stufen hinauf zur Tür, drehte sich dann um und sagte eine Spur freundlicher: "Sie können gerne mit hineinkommen und die Nacht auf dem Sofa verbringen."
Der Fremde zögerte einen kurzen Augenblick. "Ich kann nicht hier bleiben und Sie... Sie sollten heute nicht mit mir kommen."
"Werde ich Sie wiedersehen?", fragte Vicky und spürte seltsamerweise so etwas wie Vorfreude.
Da war es wieder, dieses unfassbare, einnehmende Lächeln auf seinem Gesicht.
"Irgendwann bestimmt", sagte er, "doch jetzt muss ich gehen. Versprechen Sie mir, nachzudenken?"
Vicky musste trotz ihres Zustandes lachen. "Versprochen, was immer Sie auch meinen", und öffnete die Tür der Hütte.
Im ersten Moment kam ihr das Innere des Raumes seltsam verschwommen vor. Vicky ging, ohne die Tür zu schließen, auf das Sofa zu und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung. Anfangs fiel es ihr schwer, die Situation zu begreifen, obwohl sie jeden Gegenstand und jedes Geräusch in Sekundenschnelle wahrnahm.
Dann glitt ihr Blick über die fast leere Brandyflasche auf dem kleinen Beistelltisch, über das Glas, dessen Stiel sie vor kurzem noch so verzweifelt umklammert hatte, bis hin zu dem Röhrchen Schlaftabletten. Auf dem Sofa lag, eingehüllt in eine Decke eine Gestalt, von einer verschwommenen Aura umgeben.
Verzweifelt blickte sie sich um zur Tür, doch der Fremde war verschwunden. Nichts, außer ihren Selbstzweifeln zeugte davon, dass er je da gewesen war.
Ich verstehe, wollte Vicky schreien, doch kein Laut kam aus ihrer Kehle. Sie hörte noch eine Stimme aus dem Telefonhörer, der an seiner Schnur von der Wand baumelte und aus der Ferne Sirenengeheul, welches von der Schneelandschaft fast verschluckt wurde. Dann umfing sie die Schwärze wie ein Mantel.
In einem Nichts aus Dunkelheit spürte sie ihren eigenen Herzschlag, weit entfernt, aber noch nicht verloren. Denk nach, Vicky, denk nach.