Der rote Hahn
© Anatufila
Krächzen und Kreischen drangen in sein Bewusstsein. Die seltsamen Töne veranlassten Rick aus dem Bett zu springen. Rasenden Herzens stand er im Pyjama auf dem Teppichboden, starrte auf das Schränkchen. Sein noch schlaftrunkenes Denken weigerte sich zu akzeptieren, was auf poliertem Holz flügelschlagend um Gleichgewicht rang. Wie kam ein Hahn in den fünften Stock eines mitten in der Stadt befindlichen Appartements? Rick schüttelte den Kopf. Er suchte den Wecker, fand ihn nicht. Wahrscheinlich hatte das Vieh ihn
umgeworfen. Zielsicher zog er die Armbanduhr unter dem Kram auf seinem Tisch hervor. Viertel nach sechs. Das war zu früh. In der Firma wurde er nicht vor zehn erwartet.
Rick strich sich über das Gesicht, sah, dass der Hahn friedlich war. Eine günstige Gelegenheit im Bad zu verschwinden. Einen Moment dachte er an Drogen. Er selber lehnte das Zeug ab, ebenso Jörg, der einzige, den er gestern Abend gesehen hatte. Als er ins Zimmer zurückkam, stand der Hahn noch immer da, riss den Kopf in die Höhe und kämpfte mit den Krallen um Halt. Er bereitete sein Frühstück in der Kochnische, ohne den Vogel aus den Augen zu verlieren. Rick warf ein paar Cornflakes in Richtung Hahn. Er beobachtete
ihn, während er vom viel zu heißen Kaffee trank. Der Hahn schaute mit schrägem Blick abwechselnd ihn und das ungewohnte Futter an.
Allmählich schob er den Kopf auf die Cornflakes zu, um dann ruckartig mit scharfem Schnabel auf sein Frühstück einzuhacken.
Er hatte keine Lust, das Vieh zum Tierheim zu fahren, doch dieser rote, spillerige Vogel tat ihm leid. Er beschloss, ihn zum Park in die Nähe der Voliere zu bringen. Behutsam bewegte er sich zum Schrank, zog ein leichtes Tuch hervor, schlich sich an den Vogel heran. Ein schneller Wurf, ein Griff, der Hahn war unter dem Stoff gefangen. Das Tier mitsamt Decke in der Armbeuge haltend, angelte er nach der Sporttasche. Er kippte den Inhalt aus, setzte den Hahn hinein, zog den Reißverschluss zu.
Es bedeutete nur einen kleinen Umweg durch den Park zu gehen. Am See, nah bei der Voliere, setzte er sich auf eine Bank. Für einen Moment genoss er die Idylle am frühen Morgen. Er öffnete den Reißverschluss, stupste, bis der Vogel sich aus der Decke herauszappelte. Mit einem Satz hüpfte der schließlich auf die Rückenlehne der Bank und blickte stolz und zufrieden umher.
Die Straße erfasste Rick mit Hupen, Sirenen und aller Unruhe einer chaotischen Großstadt. Den Kollegen, die sein frühes Auftauchen erstaunte, erklärte er nichts. Nachmittags schlenderte er früher als sonst nach hause.
Als er in seine Straße einbog, war kein Fortkommen mehr. Ungewöhnlich viele Menschen standen herum. THW, Polizei, mehrere Feuerwehrzüge blockierten den Fahrdamm. Alles sah befremdlich aus. Er wühlte sich voran, wollte nichts mit Katastrophen zu tun haben. Anstelle eines Hauses ragten einzelne Mauern mit haften gebliebenen Streifen von Böden und Decken auf. Es war schrecklich, Bilder an Wänden zu sehen, wo keine Zimmer mehr waren.
Erst spät registrierte er, dass es auch ihn betraf. Dieses Trümmerfeld war bis heute sein Haus. Aus dicken Schläuchen wurde Wasser über Gesteinsbrocken gesprüht. Leichte Rauch- und Staubfahnen stiegen auf. Er sah entgeistert auf eingestürzte Mauern und Dreck. Er duckte sich unter dem flatternden Absperrungsband hindurch, stieg mit zwei Schritten auf den Haufen, ergriff den Wecker, den er als einzigen, heilgebliebenen Gegenstand seiner Habe entdeckt hatte. Eine Stimme gellte. Eine Polizistin eilte auf ihn zu,
griff ihn am Arm, führte ihn weg. Ein weiterer Polizist mischte sich ein. Wie in Trance ließ Rick sich von ihnen in die Gaststätte begleiten. Man befragt ihn, während er rauchverschmierte, altmodische Lampen und Tische bestaunte.
Nachbarn nahm er wahr, sah ihre Betroffenheit ohne zu verstehen. Jemand brachte Tee.
Jörg fand ihn, schweigsam, unbeweglich, den Wecker noch immer an die Brust gedrückt, die Sporttasche unter den Arm geklemmt. Später, bei Jörgs Familie, taute er langsam auf. Man wollte ihn mit dem Ereignis konfrontieren. So erfuhr Rick aus der Abendschau, dass das Haus morgens um acht Uhr zwanzig nach einer heftigen Explosion eingestürzt war. Er weinte, den Blick auf den Fernseher gerichtet. Unbewusst streichelte er das Deckglas des Weckers, den er noch immer nicht loslassen wollte. Er hatte ihn mit acht Jahren
bekommen.
Auf dem Ziffernblatt stolzierte ein roter Hahn.