Danke Gerhard
Von Rudi Jagusch
Es war bereits spät am Abend, ich war damals noch jung und ohne Ziele, als
ich immer noch in meiner Festkleidung und mit gepuderter Perücke aus dem
Gürzenich kam und dem Bahnhof zu strebte. Die Stadt schlief heute nicht.
Überall schunkelten die Jecken mit den Häusern am Alter Markt um die Wette.
Hier ,Alaaf' dort ,gebüzt', ich liebe diese Zeit im Ausnahmezustand.
Als ich gerade die Domplatte überqueren wollte, fiel mir ein Mann auf. Er
stand losgelöst von dem ganzen Trubel etwas Abseits und blickte zu den
Domspitzen hinauf. Ich verlangsamte meine Schritte und hielt schließlich an. Ich kann heute nicht mehr sagen, warum dieser Mann unter den ganzen
Kostümierten meine Aufmerksamkeit erregte. Vielleicht war es die
Verkleidung, die, so muss ich zugeben, äußerst originalgetreu geschnitten
war. Er glich einem reichen Bürger aus dem Mittelalter. Mit der linken Hand
hielt er ein Brett in seiner Armbeuge, in dem ein Fässchen eingelassen war.
Mit einer Feder in der rechten Hand beschriftete er ab und zu ein Blatt
Papier, welches auf dem Brett feststeckte. Unterbrochen wurde die
Schreibarbeit immer dann, wenn er seinen aufgestellten Daumen ausstreckte,
dabei ein Auge zusammenkniff und den Dom fixierte.
Ich vergaß meine Zugverbindung und näherte mich dem Mann zögernd. Nach
kurzer Zeit musste er mich aus den Augenwinkeln heraus bemerkt haben,
blickte mich erfreut an und winkte mich zu sich. Er verwickelte mich sofort
in ein Gespräch, welches mit Abstand betrachtet schon ein wenig seltsam war.
Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob wir überhaupt gesprochen haben. Ja,
eigentlich haben wir nur unsere Gedanken ausgetauscht. Möglicherweise spielt
mir hier aber auch mein Gedächtnis einen Streich. Wie auch immer. Der Mann
fragte mich: "Wunderbares Bauwerk! Eine Meisterleistung! Ich wusste immer, dass wir es schaffen werden! Danke lieber Herr dort oben im Himmel, dass ich dies sehen
darf. Wissen Sie, er hat mir nämlich diese Bitte erfüllt, weil ich letztens
jemand erfolgreich vor dem Tode retten konnte. Schutzengel, Sie verstehen
schon. Seit wann ist der Dom denn fertig?"
,Komischer Kauz', dachte ich, zuckte mit den Schultern und antwortete
ehrlicherweise: "Das weiß ich auch nicht so genau, aber es ist noch nicht lange her, da haben wir hier in Köln die einhundertjährige Fertigstellung gefeiert. War
vor zwei oder drei Jahren, hmm, 1981 oder auch schon 1980."
Der Mann schaute mich nun verwundert an.
"Sie wollen doch nicht sagen, dass sie über siebenhundert Jahre gebraucht
haben, um mein Bauwerk zu vollenden."
Ich runzelte die Stirn. ,Sein Bauwerk' Was meinte er denn damit? So langsam
wurde mir der Mann unheimlich. Hatte er zuviel getrunken? Doch ich roch
keine Fahne. Vermutlich ein Verwirrter. Ich nahm mir vor, irgendwie das
Gespräch so weiter zu führen, dass ich an seinen Namen und Adresse herankam.
Ich wollte nicht Schuld daran sein, wenn er irgendwo heute Nacht in der
frostigen Kälte erfror. Lieber vorher die Polizei informieren.
"Nun, in der Tat wurde lange Zeit der Dombau unterbrochen. Das lernt hier in
Köln jedes Kind. Aber warum ist dies für Sie so überraschend, Herr..
Entschuldigen Sie bitte, ich habe eben Ihren Namen nicht verstanden?"
Mein Aushorchen war zwar etwas plump eingeleitet aber durchaus erfolgreich.
"Nennen Sie mich doch einfach Meister Gerhard. Sie haben recht, es ist heute
nicht mehr wichtig. Schauen Sie doch einmal hinauf. Diese Verziehrungen, die
Figuren, die Strebpfeiler, die Fenster, einfach überwältigend. So habe ich
mir meinen Dom vorgestellt."
Ich folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger und tatsächlich stellte ich
fest, dass dies nicht nur eine große Kirche war. Minutenlang ließ ich meinen
Blick über den Dom wandern. Die Umwelt hatte ich ausgeblendet. Ich war in
einem Zauber gefangen, aus dem mich erst ein Rütteln an den Schultern wieder
in die Wirklichkeit zurück holte.
Ein großer Hunne stand vor mir und fragte: "Alles in Ordnung, Kumpel?"
Ich nickte. Suchend blickte ich mich um.
"Haben Sie den Mann gesehen, der eben noch neben mir stand? Er hatte ein
mittelalterliches Kostüm an."
Der Hunne nippte an seiner Dose Bier und antwortete: "Ich beobachte Sie ja nun schon eine ganze Weile. Ich stand drüben beim
,Früh', als Sie hier stehen blieben. Ist ja nichts Auffälliges, wenn sich
jemand den Dom anschaut. Aber nachdem Sie sich minutenlang nicht rührten,
habe ich gedacht, na ja, den hat der Schlag getroffen oder so was in der
Art. Aber ein Mann war die ganze Zeit nicht in Ihrer Nähe."
Ich dankte dem Hunnen etwas abwesend für seine Aufmerksamkeit und setzte
meinen Weg zum Hauptbahnhof fort.
Gut zwanzig Jahre später denke ich noch oft über diese Begegnung mit Meister
Gerhard nach. Sie war - zumindest für mich- real, da bin ich mir sicher.
Heute bin ich ein erfolgreicher Architekt. Meister Gerhard hatte mir damals
meine verborgenen Interessen klar gemacht. Er wahr sozusagen meine
Inspiration.
Ich lehne mich zurück und rufe ihm zu: ,Danke' Vielleicht ist er ja gerade in meiner Nähe als Schutzengel unterwegs.