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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Die Menschenfalle

Von Harald Sochor


Unvermittelt blieb Tom stehen und blickte verwundert um sich. Das nervöse Fiepen von Jacky, seinem Golden Retriever, der ihn seit fünf Jahren treu begleitete, hatte Tom aus seinen trüben Gedanken gerissen. Und so hatte es der junge Mann nicht gemerkt, dass er heute zum ersten Mal seit fünf Jahren vom üblichen Weg, den er täglich mit seinem Hund ging, abgewichen war. Normalerweise spazierten sie etwa eine Stunde lang auf der schmalen Teerstraße, die entlang von Hopfenfeldern, Pferdekoppeln und kleinen Wäldern in einem weiten Radius um das Dorf herum führte.
Bislang hatte Tom noch keinen Fuß in den großen Wald, der wie ein düsterer König auf dem höchsten Hügel thronte, gesetzt. Heute aber war er gedankenversunken vom üblichen Weg abgewichen und in einen Feldweg, der rechts abzweigte und in verschlungenen Kurven hinauf zum König der Hügel führte. Jacky war anfangs von diesem neuen Weg zurück geschreckt, wollte lieber seine Duftmarken auf dem gewohnten Pfad setzen. Doch diese Scheu hatte er in den Augenblicken, die Tom zur Orientierung gebraucht hatte, abgelegt, nun schnüffelte er neugierig den fremdartigen Gerüchen hinterher und setzte langsam eine Pfote vor die andere.
Und jetzt, wo er diesen Weg schon einmal eingeschlagen hatte, war auch Tom neugierig geworden. Er hatte keine Ahnung, warum er den Wald bisher gemieden hatte, denn eigentlich liebte er den Geruchscocktail von Pflanzen, Tieren und Pilzen, von Blüte und Verwesung, typischen Waldgeruch eben. Es handelte sich aber hier nicht um ein Wäldchen, wie man es zu Tausenden in Bayern finden konnte, schon allein die Kombination der Bäume kam Tom etwas außergewöhnlich vor. Hier stand keine Tannen- und Fichtenmonokultur, wie man sie für gewöhnlich fand. Mächtige Eichen bildeten am Rand eine Art Schutzwall für das Herz des Waldes. Dichtes Unterholz erschwerte dem neugierigen Eindringling zusätzlich den Zutritt. Hinter den Eichen sah Tom die weiße Rinde von Birken schimmern.
"Birken...", murmelte Tom nachdenklich. Irgendwann hatte er etwas über diese Bäume erfahren, das ihm nun wichtig schien. Doch dieses Wissen war so tief in einer Schublade seines Gehirns verborgen, dass er es auf die Schnelle nicht finden konnten. Tom und Jacky zögerten, irgendetwas war dort drinnen hinter den Bäumen. Etwas, das Tom vielleicht nicht sehen oder spüren wollte. Jacky winselte leise, trippelte unruhig mit den Pfoten hin und her - gerade so als sei er sich nicht sicher, ob eine Gefahr drohe oder nicht.
Tom machte dieser Ungewissheit ein Ende, indem er sich erneut in Bewegung setzte. Zumindest auf dieser Seite führte kein Weg in den Wald hinein. Vorsichtig bahnten sich Herr und Hund eine Schneise durch hohes Gras und Buschwerk. Es erschien Tom als wolle ihm der Wald nur widerwillig Zutritt gewähren. Zweige verstellten den Weg, Kletten klammerten sich an ihren Beinen fest als wollten sie die zwei zurückhalten. Tom verzog das Gesicht, als er einen Dorn spürte, der den dicken Jeansstoff durchdrungen hatte und sich in die Wade bohrte. Seine einzige Reaktion auf diesen Widerstand war, dass er jetzt erst recht die Geheimnisse dieses Waldes ergründen wollte.
Sobald sie den äußeren Schutzwall des Waldes und die ersten Eichen passiert, war das widerspenstige Buschwerk verschwunden. Tom und Jacky gingen über einen Teppich aus dichten Moosflechten und Blaubeersträuchern. Es erschien Tom als sei er in einer vollkommen fremden Welt gelandet, erst einige Schritte weiter erkannte ein weit entfernter Bereich seines Bewusstseins, was hier so unauffällig außergewöhnlich war: Weder die fernen Geräusche des dörflichen Lebens oder der Straße noch irgendein typischer Laut des Waldes war zu hören. Außer seinen eigenen Schritten und Jackies Hecheln hörte Tom absolut nichts als wären sie die einzigen beiden Lebewesen auf weiter Flur.
Er genoss dieses Gefühl des absoluten Alleinseins, frei von jeglichen Gedanken von jenseits des Waldes. Obwohl inzwischen nicht mehr als zehn, höchstens fünfzehn Minuten vergangen sein konnten, erschien es Tom wie eine Ewigkeit, bis er am Rande einer kreisrunden Lichtung stand. Der junge Mann blieb wie angewurzelt stehen, musste erst einmal den Anblick verarbeiten, der sich seinen Augen darbot: Obwohl die Witterung in den vergangenen Wochen alles andere als trocken gewesen war, bestand die Lichtung aus einer Mondlandschaft ausgedörrten Lehmbodens.
Inmitten der dürstenden Kraterlandschaft erhob sich eine majestätisch grüne Insel: Granitblöcke, dreizehn an der Zahl wie Tom wenig später heraus fand, waren inmitten der Lichtung kreisförmig aufgestellt, hier streckte sich das Grün so kraftvoll gen Sonne als hätte der Kreis alle Lebensenergie aus der näheren Umgebung in sich aufgenommen. Der Steinkreis wurde von kräftigen, uralten Birken gesäumt.
Langsam, fast andächtig näherte sich Tom dem Rund, Jacky folgte zögerlich und in alle Richtungen hin schnüffelnd. Es war offensichtlich, dass der Hund diesem Ort, der sich in die Umgebung etwa so natürlich einfügte wie ein Manager im Zweireiher auf einer Gothic-Party, ein gutes Maß an Misstrauen entgegen brachte. Das interessierte Tom im Moment allerdings nicht sonderlich. Seine Neugierde darauf, was sich in dem Kreis aus Felsen und Bäumen befinden mochte, war größer als das Vertrauen zu seinem treuen Begleiter.
Tom war neugierig, und so bekam er verschiedene Kleinigkeiten, die sein Hund registrierte, erst gar nicht mit. Beispielsweise, dass just in dem Moment, in dem er den steinernen Kreis betrat, feiner Nebel aus allen Poren des Erdbodens in die Luft rieselte. Der Golden Retriever fiepte panisch auf, wehrte sich mit aller Macht dagegen, an der Leine in den Kreis gezerrt zu werden, stemmte sich röchelnd mit allen vier Pfoten im brüchigen Erdboden fest, der Hund schaffte es schließlich, durch das Halsband zu schlüpfen. Er flüchtete sich in die Sicherheit des Waldes und beobachtete seinen Herrn, der das Verschwinden des Tieres anscheinend gar nicht bemerkt hatte. Tom schleifte die Leine achtlos hinter sich her, ging weiter und verschwand schließlich zwischen den Felsen.
Als Tom zwischen zwei Felsen hindurch getreten war, fühlte er sich endgültig von der Welt da draußen abgeschottet. Innerhalb des Kreises war ein perfektes, etwa fünf Meter durchmessendes Rund, der Boden war bedeckt von einem dichten Teppich aus Moosen, den Mittelpunkt bildete ein Granitbrocken, der etwa ein Viertel so hoch war wie die äußeren Begrenzungssteine, er reichte Tom also bis knapp zu den Schultern. Entweder dieser Felsen war hohl, oder es befand sich eine dichte Humusschicht auf ihm, denn seiner Krone entsprang eine Birke mit einem so mächtigen Stamm, dass sich ihr Alter wohl allenfalls in Jahrzehnten bemessen ließ.
Wie in Trance, als ob er von einem fremden Willen gesteuert wäre, kletterte Tom auf den Felsen, ins Zentrum des Kreises. Dort, unter der Birke, wartete ein weiches Bett aus Moos auf ihn, dessen Einladung er nur zu bereitwillig folgte. Dort liegend zog er seinen Tabakbeutel aus der rechten Hosentasche, drehte drei Zigaretten. Der junge Mann genoss es, an diesem lauen Sommertag an diesem einsamen Ort liegen zu können und sich über nichts den Kopf zerbrechen zu müssen, die Gedanken einfach treiben lassen zu können. Mit geschlossenen Augen hier zu liegen, zu rauchen und nicht denken müssen, war im Moment das höchste der Gefühle.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er gebraucht hatte, um die drei Zigaretten zu rauchen, Tom hatte jegliches Zeitgefühl verloren, seitdem er sich innerhalb des Steinkreises befand. Er hätte nicht sagen können was, aber dieser Ort hatte etwas Magisches für ihn. Er war wie ein Magnet, der sein passendes Gegenstück gefunden hatte, das er nie mehr loslassen wollte. Irgendwann schlug der junge Mann die Augen wieder auf, und was er sah, war wie ein angenehmer Trip oder einer jener seltener Träume, in denen der Schläfer das Gefühl hatte, wach zu sein, obwohl er wusste, dass das gerade Erlebte viel zu bizarr war, um wirklich real zu sein: Es sah so aus als hätte ein Riese die Steine und alles um sie herum genommen und achtlos woanders hin geworfen.
Tom befand sich in einem weit entfernten Nebelland. Unscheinbar, wie aus dem Nichts schlichen sich andere Geräusche in Toms Bewusstsein. Anmutige Geräusche, die ihm erst auffielen, als sie so laut waren, dass ihre Quelle fast schon greifbar nahe waren: Das regelmäßige Knacksen von Zweigen, die unter dem Gewicht von schweren Körpern barsten, musikalisch untermalter allgegenwärtiger sakraler Singsang, der das klare Denken einlullte wie dichte Schwaden von Weihrauch.
Ein paar Lidschläge, nachdem die fremdartigen Laute, die in das Nebelland gehörten wie ein Fisch ins Wasser, in Toms Bewusstsein gedrungen waren, war die Quelle der Geräusche scheinbar näher als einen Steinwurf gerückt. Tom konnte nicht einordnen, von welchen Instrumenten die Töne kamen, sie waren auf seltsame Weise unbekannt, irgendwie altertümlich, ebenso wie die Gesänge, die anscheinend in einer sehr alten Sprache gesungen wurden. Schließlich sah er den Ursprung dieser Geräuschkulisse: Langhaarige Gestalten in langen, weißen Gewändern verschmolzen hinter den Nebelschwaden mit den kreisförmig angeordneten Felsen. Sie schlugen altertümliche Schlaginstrumente, sangen, bewegten sich zum einlullenden Rhythmus der Musik wie in Trance. Es konnten nur wenige Augenblicke vergangen sein, dem Eindringling in diese Welt schien es wie eine Ewigkeit, spürte er, dass sich der Schlag der Trommeln änderte. Nur sehr, sehr langsam, so wie sich der Pulsschlag fast unmerklich mit nur wenigen Schlägen pro Minute steigerte, wenn man vom langsamen Gehen in schnelles Gehen, in leichten Trab und schließlich in einen leichten Dauerlauf fiel.
Andere Geräusche, ein Zerren, Stöhnen und Wimmern, rissen den jungen Mann so weit aus seiner Traumwelt, dass er aufstehen und sein Lager verlassen wollte - er spürte ein seltsames Kribbeln unter dem Solarplexus, die Art von Kribbeln, die er spürte, wenn er im Begriff war, in eine gefährliche Situation zu rutschen. Widerwillig versuchte er seinen Tagtraum abzuschütteln und aufzustehen. Es ging nicht! Tom konnte nicht einmal seine Finger oder Zehen bewegen. Er spürte dumpfe Taubheit in allen Extremitäten als hätte ein unsichtbarer Chirurg seine geistige Abwesenheit genutzt, um sämtliche Nervenverbindungen zu kappen. Der Mann fühlte sich reduziert auf seinen unbeweglichen Torso, der dem, was nun kommen mochte, hilflos ausgeliefert war.
"Was ist los mit mir?" "Ich will hier raus!" "Scheiße!" "Beweg dich, du verdammter Arm!" Bevor Tom einen Gedanken auch nur erfassen konnte, jagte auch schon der nächste durch seinen Kopf. Er warf den Kopf hin und her. Die wogenden Nebel lichteten sich ein wenig. Die zwölf Gestalten vor den Felsen waren nun nicht mehr so verschwommen. Es handelte sich um menschliche Statuen, die ihn musterten. Zwölf glühende, rote Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Sie bannten ihn mit ihrem Blick und spielten gleichzeitig unbeeindruckt ihre Melodie weiter. BUMM BUMM BUMM BUMM Die Trommler hatten ihren Taktschlag mittlerweile zu rasender Geschwindigkeit erhöht. Wie ein Herz, das mit letzter Kraft versuchte, ausreichend Blut durch den Körper zu pumpen, kurz bevor es endgültig kollabierte.
Tom spürte eine Flutwelle an Adrenalin durch seinen Körper schwemmen. Vergeblich. Selbst das körpereigene Aufputschmittel schaffte es nicht, die Taubheit von den Gliedmaßen zu nehmen. Als hätte ein Bondage-Künstler ihn mit unsichtbaren Seilen zur absoluten Bewegungsunfähigkeit verdammt. Nur wenig später, die Trommler hatten es geschafft, ihr bereits unvorstellbar schnelles Tempo noch weiter zu steigern, brach die Musik schlagartig ab. Urplötzlich herrschte schlagartig absolute Stille. So plötzlich, dass sie fast schmerzte. Die Augen der Gestalten wandten sich von Tom ab, richteten sich auf die beiden Felsen, zwischen denen sie selbst hervor gekommen waren. Sie erwarteten etwas oder jemanden.
Die plötzliche Stille lastete wie ein riesiger Fels auf Toms Brust. Die Lähmung schien jetzt auch seine Atemmuskulatur erfasst zu haben. Jeder kostbare Atemzug kostete ihn Überwindung und vor allem so viel Kraft, dass Tom jedes Mal, wenn er seinen Brustkorb zum Einatmen zwang, schwarze Schleier vor seinen Augen aufsteigen sah. Irgendwo dort draußen befand sich etwas, vor dem die Gestalten Ehrfurcht, vielleicht sogar Angst, hatten. Bevor Tom es sah oder hörte, kündigte es sich mit einem eiskalten Lufthauch an, der langsam über den ausgestreckten Torso kroch und auf seinem Weg unter der Kleidung eine tiefe Schneise von Gänsehaut hinterließ. Diese seltsame Kälte kroch unter die Kleidung, durch die Haut hindurch und blieb tief in seinem Körper sitzen. Erst endlose Minuten später - Tom fühlte sich inzwischen wie das tiefgekühlte Studienobjekt überirdischer Besucher - hörte er Zweige unter dem Gewicht von einem oder mehreren Körpern bersten. Die Geräusche krochen näher, und in der Zwischenzeit kostete jeder Atemzug den jungen Mann mehr Überwindung. Bis sich der Brustkorb so weit gehoben hatte, dass frische Luft in die Lungen eindringen konnte, erschien ihm mittlerweile nicht mehr sehr viel aufwendiger als einen tonnenschweren Felsbrocken einen Berg hinauf zu rollen. Vor seinen Augen tanzten schwarze Schleier einen Totentanz.
Plötzlich wurden diese Schleier von gleißendem Licht durchdrungen als ob just in diesem Moment, als Tom mit dem alten Leben noch nicht einmal abgeschlossen hatte, bereits die Sonne des neuen Lebens auf ging: Eine hochgewachsene Frau mit langen, blonden Haaren, die in eine weiße Kutte, die ihr bis hinunter zu den Fußknöcheln reichte, gekleidet war, durchschritt feierlich die Pforte zwischen den beiden Felsen. Und augenblicklich sanken die Musikanten ehrfürchtig auf die Knie, senkten den Kopf und vermieden es im Gegensatz zu Tom, den Blick auf diese Erscheinung zu richten. Der Gast an diesem Ort war gebannt von der überirdischen Schönheit dieser Gestalt, und mit ihrem Erscheinen innerhalb des Kreises schien alle Last, die selbst die einfachsten vegetativen Tätigkeiten erforderten, von ihm genommen zu sein.
Obwohl Tom sie wie festgenagelt an starrte, konnte er ihr Aussehen nicht erfassen. Jedes Mal, wenn er glaubte, einen Fixpunkt ausgemacht zu haben, verschwamm sie in gleißendem Licht, das seinen Ursprung direkt in ihrem Brustkorb zu haben schien. Er sah, dass die Frau etwas oder jemanden an einem Seil hinter sich her führte, worum es sich handelte, war jedoch ebenfalls von diesem unirdischen Licht überschattet. Sie ging - nein sie schwebte - direkt auf Tom zu, und mit jedem Schritt, den sie machte, wirkte das Licht ein klein wenig heller als zuvor. Und je näher sie kam, um so verschwommener wirkte ihr Gesicht. In diesen Augenblicken als sich jene überirdische Frau dem jungen Mann näherte, hatte die Zeit jegliche Bedeutung für ihn verloren, Äonen mochten vergangen sein während sie die wenigen Meter zurück legte.
Tom versuchte nur, die Schleier, die ihr Gesicht umgaben, zu durchdringen, bekam nur mit einer fernen Region seines Denkens mit, was seine Augen aus den Winkeln heraus verfolgten: Die Gestalten, die zuvor noch reglos an den Felsen gestanden hatten, näherten sich in respektvollem Abstand zu jener Frau ebenfalls. Auch ihre Gesichter waren von seltsamen Nebelschleiern, die wie ein Planet um sein Zentralgestirn um ihre Köpfe herum zu kreisen schienen. Egal. Tom ignorierte diese Gestalten ebenso, wie er auch den eisigen Klumpen, der sich von seinem Solarplexus ausgehend, im gesamten Körper ausbreitete, nicht beachtete.
Die Frau stand jetzt so nahe, dass Tom ihren warmen Atem zu spüren glaubte. Er hätte nur den Arm ausstrecken müssen und hätte sie berühren können. Nur eine einzige Berührung und er hätte gewusst, dass er nicht der Gefangene eines bizarren Traumes war. Doch der junge Mann lag noch immer wie gefesselt auf dem Felsen, konnte kein Glied bewegen. Er blieb liegen und beobachtete, was sich seinen Augen dar bot. Die Priesterin, Göttin oder was auch immer diese seltsame Frau auch sein mochte, beschrieb mit ihrem rechten Arm einen Halbkreis in der Luft, führte das lose Ende des Seiles direkt zu ihm hin. Das andere Ende des Seiles war zu einer Schlaufe geknüpft, die um den Hals einer jungen Frau lag. Sie war die einzige, die nicht von diesen mysteriösen Nebelschwaden eingehüllt war. Ihr Gesicht war hell, fast alabasterweiß, die langen, hellblonden Haare waren zu einem Zopf geflochten, der nach hinten fiel und ihr fast bis zu den Hüften reichte.
Als die beiden Frauen in etwa auf gleicher Höhe standen, legte die Priesterin oder was auch immer sie sein mochte, ihren Arm um die etwas kleinere, zierliche Frau. Diese Geste sah zunächst zärtlich aus, entpuppte sich schließlich aber genau als das Gegenteil: Abrupt versetzte sie der jüngeren Frau einen Stoß auf die Schulter, so dass diese vorwärts stolperte und fast gegen den Felsen geprallt wäre, wenn sie sich nicht im buchstäblich letzten Moment noch mit den Händen abgefangen hätte. Zum ersten Mal seit dem Erscheinen der Gestalten erhob sich eine Stimme außerhalb des monotonen Singsangs. Die Frau sprach oder schrie irgendetwas, was einem tierischen Laut wesentlich näher klang als einem menschlichen Wort. Tom hörte dieses kehlige Grummeln und augenblicklich richteten sich die kleinen Härchen an den Armen und Beinen ängstlich auf. Ebenso augenblicklich begann die junge Frau damit, zu ihm hoch zu klettern. Es dauerte nur wenige Lidschläge, bis Tom das Plateau mit der jungen Frau teilte, die ihm mit ihrem kristallblauen Blick direkt in die Augen starrte, aber ihn nicht zu bemerken schien. Auf allen Vieren näherte sie sich seinem Torso immer näher, wobei ihr weißes Kleid so tiefe Einblicke gewährte, dass es einerlei war, ob sie es noch trug oder nicht und die Jeans in Toms Schritt mit jeder zaghaften Bewegung, die sie machte, stetig und schmerzhaft enger wurde.
Dann endlich war sie so nahe, dass er schon ihren Atem zu spüren glaubte. Ihre Fingerkuppen - Finger so eiskalt als wären sie gerade aus einem Gletscher getaucht worden - berührten ihn just an dem kleinen Fetzen Haut, der zwischen der hoch gerutschten Hose und dem Bündchen der Socke bloß lag, und ein Stromschlag, der weit über die Erotik des Augenblickes hinaus ging, zuckte durch Toms Körper. Die Frau kroch unbeeindruckt weiter als hätte sie nicht gerade das lebendige Hindernis ertastet. Sie glitt langsam an ihm hoch, und während ihrer langsamen Wanderung schrieen urplötzlich alle Warnglocken in Toms Hinterkopf lautstark. Irgendetwas stimmte hier nicht, irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Als Tom die Frau zum ersten Mal gesehen hatte, glaubte er in ihr die Wärme eines Sonnenuntergangs im Hochsommer zu sehen. Zu spüren war davon überhaupt nichts. An Stelle der halbnackten Frau hätte ebenso gut ein Fisch aus dem Tiefkühlfach über seinen Körper kriechen können. Von dem Körper, der den seinen mittlerweile halb bedeckte, ging nicht einmal der Hauch von Wärme aus. Und jetzt setzte auch wieder diese Musik ein. Trommeln und Schellen wurden in dem selben rasenden Takt geschlagen, bei dem sie vorhin so abrupt geschwiegen hatten. Jetzt war nicht nur die Stimme der Priestergöttin zu hören, sondern scheinbar die Stimmen von allen Gestalten, die den Felsen, auf dem Tom lag, umkreist hatten. Tom spürte wie sich der eisige Block unter seinem Solarplexus weiter und immer weiter in seinem Körper ausbreitete. PANIK! Er wollte weg hier. Weg von diesem Ort, so weit ihn die Füße trugen. Er rutschte hin und her, konnte diese verdammte Taubheit einfach nicht aus seinen Gliedern verjagen.
Tom wand sich hin und her, während die Frau auf allen Vieren unerbittlich langsam weiter kroch. Wenn er sich das Szenario betrachtete, sollte sie eigentlich das Opfer sein, doch angesichts der Tatsache, dass er unbeweglich auf dem Felsen lag, fühlte sich eher Tom wie das Opfer in einem Spiel, dessen Regeln er nicht begriff. Die junge Frau öffnete Augen und Lippen. Der Blick aus ihren verklärten Augen, die in weite Fernen gerichtet waren, sagte ihm, dass sie sich offensichtlich in einer Art Trance befand. Als er die weißen Zähne zwischen den bleichroten Lippen aufblitzen sah, fühlte sich Tom an eine geschmeidige Raubkatze erinnert, die in wenigen Augenblicke die Fänge in das weiche Fleisch des Opfers schlagen würde. Er versuchte zu schreien, doch aus der Kehle entwich lediglich ein gutturaler Laut, der in seinen Ohren nicht recht viel anders klang als die Sprache der vermummten Gestalten.
Die junge Frau hatte inzwischen seine Brust erreicht, verharrte einen Augenblick, bäumte sich schließlich wie von einem unsichtbaren Peitschenhieb getroffen auf. Öffnete den Mund zu einem Schrei, der ihr jedoch im Halse stecken zu bleiben schien. Tom sah ihre Halsschlagadern weit hervor treten. Seine Augen wanderten weiter nach oben, und was er dort sah, vertrieb wenigstens die Lähmung, die seine Stimmbänder geplagt hatte. Die blonde Frau hatte lange, spitze Eckzähne, die Farbe ihrer Augen hatte sich von kristallblau in blutiges Rot verwandelt. Und sie stieß einen lauten Schrei aus, den Schrei einer Kreatur, die den Tiefen der Hölle entstiegen war und ihre wehrlose Beute in wenigen Lidschlägen zerfetzte. Tom mobilisierte seine letzten Kraftreserven und schrie seine Todesangst in die Welt hinaus - wohl wissend, dass dieser Schrei unnütz verhallen würde, weil kein Retter aus dem Nichts auftauchen würde.
Die Zähne stürzten auf ihn hinab wie ein Falke, der sein Beutetier erspäht hatte. Tom schloss die Augen, er wollte seinem Todesengel nicht ins Angesicht blicken müssen, wimmerte. Nur Sekundenbruchteile, bevor er den Kuss des Todes erwartete, hörte er entsetzte Schreie, donnerndes Knurren und ein Handgemenge. Gleichzeitig schienen sich die Fesseln um seine Glieder zu lockern, dafür drückte nun das Gewicht der Frau in den Magen und presste ihn zu Boden. Tom erwartete sein Ende, wollte nicht wissen, was um ihn herum vorging und hielt die Augen geschlossen.
Plötzlich war das Gewicht der Frau verschwunden und etwas zerrte mit aller Macht an seinem Hosenbein, schaffte es allerdings nur mühevoll, ihn zentimeterweise zu bewegen. Tom hatte keine Kraft mehr sich dagegen zu wehren, der Felsen unter ihm schien alle Energie aus dem Körper gesogen zu haben. Jedenfalls konnte es keine der vermummten Gestalten sein, die ihn von diesem Felsen holen wollte, worum es sich handelte, wollte Tom allerdings auch nicht so genau wissen. Nach einer halben Ewigkeit hatte er endlich den Rand des kleinen Plateaus erreicht, rutschte hinab und torkelte auf tauben Beinen ein paar Schritte nach vorne, bevor er stolperte und erneut gezogen wurde.
Hinter sich hörte er Schreie, spürte Finger nach den Beinen tasten, entkam ihnen aber stets im letzten Moment. Erst nach einer weiteren Ewigkeit schien er die Taubheit aus seinen Gliedern vertrieben zu haben. Er hörte ein Bellen und wagte es nun, die Augen zu öffnen. Mittlerweile herrschte tiefschwarze, wolkenverhangene Nacht, nur von hinten erhellte ein schwacher Schein die Szenerie. Vor ihm Sprang Jacky aufgeregt schwanzwedelnd auf und ab und bellte. Als der Hund registrierte, dass sein Herrchen aus diesem Albtraum aufgewacht zu sein schien, sprang er auf ihn zu, lief dann ein paar Schritte vorwärts. Weg von den Felsen.
Tom wagte einen Blick über die Schulter. Im Inneren des Kreises herrschte noch immer das trübe Dämmerlicht des nahenden Sonnenuntergangs. Verwischende Schemen wollten nach ihm greifen, konnten den Felsenkreis allerdings nicht verlassen. Süße Stimmen lockten, wollten ihn nicht gehen lassen. Vielleicht hätte sich Tom auch wieder umgedreht und wäre zurück gegangen, wäre da nicht Jacky gewesen, dessen Bellen die Stimmen übertönte und nach seinem Herrchen schrie. Taumelnd ging Tom hinter seinem Hund her, stolperte auf dem trockenen Erdreich, über wurzeln und verletzte sich mehrfach an Zweigen, die aus dem Nichts erschienen. Es schien ihm als wolle ihn der Wald am gehen hindern. Doch der Hund hatte den Zauber des Augenblicks gebrochen und trieb den jungen Mann an, doch endlich mit ihm nach Hause zu gehen.



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