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Das Ding

Von Harald Sochor


BUMM! BUMM! BUMM! "Mach endlich diese Scheißtür auf, Mann! Ich weiß, dass du zu Hause bist. Bitte wach auf... Bitte mach auf... Bitte..." Es war diese flehende Stimme, die den betäubenden Schleier meines tiefen Schlafes schließlich vertrieb. Eine Stimme, die vor Angst so verzerrt war, dass ich sie keinem bekannten Gesicht zuordnen konnte. BUMM! BUMM! BUMM! Die Faust, die anscheinend zu dieser Stimme gehörte, trommelte ein Stakkato auf das massive Holz meiner Eingangstür. Jedenfalls schien es sich um ein ernstes Problem zu handeln, wenn jemand mitten in der Nacht vor meiner Tür stand und schrie als ginge es um Leben und Tod.
Während ich in der Dunkelheit über die Hindernisse meines Schlafzimmers und durch den Flur stolperte, fragte ich mich, wie lange der unverhoffte Besucher wohl schon an meine Tür hämmern mochte. Vermutlich schon eine ganze Weile. Ich war zu tief ins unbekannte Traumland eingetaucht, als dass mich das Trommeln der Faust gegen die Tür in diese Wirklichkeit hätte zurück holen können. Dieses Geräusch drang lediglich so weit zu mir vor, dass es mich aus einem unruhigen, angsterfüllten Traum riss. Einem Traum, in dem ich für eine ganze Weile nur ein ängstliches Bündel Mensch war, das zwischen zwei feindlichen Fronten in einer namenlosen Schlacht eines der großen Kriege unter Kanonendonner und Granantenhagel zitterte, weil jeder Atemzug schon der letzte sein konnte.
Als ich vorsichtig die Tür öffnete, sah ich, dass es sich vielleicht sogar noch um mehr als nur um Leben und Tod handeln mochte. Tom, leichenblass und am ganzen Körper zitternd, stürzte in den Flur, schlug die Tür hart ins Schloss. Taumelte und konnte sich mit letzter Kraft an der Wand abstützen.
"Hey, was ist los?" Fragte ich besorgt, legte die Hand auf seine Schulter, um den alten Freund zu beruhigen. Ich spürte, dass sein Puls raste, das Herz hämmerte, wie ein außer Kontrolle geratener Kolbenantrieb. Tom war vollkommen außer Puste, nicht in der Lage zu antworten. Ich fragte mich, wo er wohl jetzt wieder hinein geraten sein mochte. Er war wie ein Magnet, der Katastrophen, verursacht durch unerklärliche Phänomene aus der Twilight Zone, die es eigentlich gar nicht geben durfte, magisch anzog. Obwohl er noch schwieg und erst einmal japsend und keuchend versuchte, wieder zu Atem zu kommen, spürte ich, dass der Grund für seinen "Überfall" in dieser Richtung zu suchen war. Mit einem Mal war ich hellwach und neugierig, bisher hatte ich derartige Dinge immer erst erfahren, wenn sie schon längst vorbei waren. Ich dachte da nur an seine erste Erfahrung mit Gläserrücken, das in einem Fiasko geendet war, weil ein Mädchen aus der Runde in Trance gefallen war und ein derart übles Poltergeist-Phänomen heraufbeschworen hatte, dass alle Beteiligten anschließend eine Woche lang damit beschäftigt waren, die Wohnung wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen. Oder die Geschichte in dem alten, keltischen Hünengrab, wo er nur dank Jacky dem Tod von der Schippe gesprungen war.
"Es... es verfolgt mich!" Stammelte Tom schließlich. In seinen Augen schimmerte pure Panik. Ich spürte eiskalte Gänsehaut über meinen Körper kriechen, kämpfte aber die nun aufkeimende Angst erfolgreich nieder. Obwohl ich einen riesigen Schub Adrenalin durch meine Adern fließen spürte, war ich noch immer schlaftrunken. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder Tom hatte etwas eingeschmissen und war seit Stunden in einem Horrortrip gefangen oder etwas, aus welchem Grund auch immer, verfolgte ihn tatsächlich. In beiden Fällen sollte zumindest ich einen klaren Kopf bewahren.
"Komm erst mal rein, alter Junge!", sagte ich, als Tom sich so weit gefangen hatte, dass er ohne Hilfe stehen konnte. Ich wollte das Licht anmachen, ließ es aber bleiben, nachdem Tom hysterisch kreischte: "Kein Licht! Das Ding verfolgt mich!" Ich konnte das mulmige Gefühl in meiner Magengegend nicht unterdrücken, wie es mir mit der aufkeimenden Angst gelungen war. Vor allem deshalb nicht, weil Tom sich strikt weigerte, im Wohnzimmer zu warten, bis ich eine Kanne starken Kaffee aufgesetzt hatte.
Schweigend stand Tom mitten in der Küche, er ließ die Tür nicht aus den Augen, gerade so als rechne er damit, dass jeden Moment das Ding, das ihn verfolgte, hereinstürmen könnte. Ich beobachtete ihn unauffällig, während ich im Dunkeln den Kaffee zubereitete. Tom zitterte, fast unmerklich, aber er zitterte am ganzen Körper, in den Augen flackerte Angst, Todesangst. Während der Kaffee durch den Filter sickerte stellte ich mich neben meinen alten Freund, legte einen Arm um seine Schulter, meine Augen folgten seiner Blickrichtung. Als könnten wir das Etwas, das er erwartete, mit unseren Blicken bannen.
"Also, was ist los?", fragte ich als wir endlich mit einer Tasse dampfendem Kaffee im Wohnzimmer saßen. Tom schien nicht recht zu wissen, wie er beginnen sollte. Jeder Muskel seines Körpers war ständig in Bewegung. Er benahm sich wie ein Speed-Junkie, der nach einem schlaflosen Wochenende noch eine Line in die Nase gejagt hatte, die eine Line, die seine Pumpe jetzt erst recht in den tiefroten Bereich brachte. "Na ja... du beschäftigst dich doch mit Weißer Magie und so ......", stammelte er mit angsterstickter Stimme. Ich nahm einen großen Schluck Kaffee, zündete eine Zigarette an, lehnte mich entspannt zurück und antwortete "Ja, könnte man so sagen." Tom beugte sich nach vorne. "Bitte beschütz mich vor dem Ding. Es verfolgt mich seit Stunden. Ich glaub, ich hab es abgeschüttelt, aber es wird die Spur wieder aufnehmen." Nun sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Ich konnte ihm aber beim besten Willen nicht folgen.
Urplötzlich sprang Tom wie von einer Tarantel gestochen auf und schrie: "Du glaubst mir nicht, oder? Du hältst mich für total durchgeknallt?" Mit einem Satz sprang er über den breiten Tisch aus Eiche massiv. Packte mich am Arm und zerrte mich von der Couch hoch. "Dann komm mit!" Tom zurrte mich zum Panoramafenster, das den Blick hinaus in eine ruhige Vollmondlandschaft führte. Ich hatte keine Ahnung, was er mir zeigen wollte. Schließlich streckte Tom den rechten Arm aus, meine Augen folgten seinem Finger. Und als ich das Ziel endlich fixiert hatte, spürte ich, dass alles Blut aus meinem Kopf schwand und die Knie unter mir absacken wollten. "Scheiße!" Murmelte ich "Heilige Scheiße, was hat das angerichtet?" Tom war mit seinem Transporter, Marke "Sprinter" gekommen. Also, genauer gesagt, mit dem, was von seinem Transporter noch übrig war. Das Vehikel sah aus als hätte ein Riese es mit einem Kaugummi verwechselt und wieder ausgespuckt, nachdem er ein paar Mal darauf herumgekaut hatte. Ich hätte nicht geglaubt, dass er mit diesem Wrack auch nur noch einen Meter weit gekommen wäre, wenn ich ihn nicht selbst auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen hätte.
"Das Ding das mich verfolgt, hat das angerichtet!", antwortete Tom trocken. "O. K. mein Freund, du hast ein gewaltiges Problem am Arsch!" Jetzt war ich es, der am ganzen Körper zitterte und kurz vor der Panik stand. Ich hoffte nur, dass ich ihm wirklich helfen konnte und dass der Haufen Mist, in dem er gerade steckte, nicht auch für mich ein paar Nummern zu groß war. "Wenn du noch mal auf die Toilette musst, dann geh jetzt, so lange ich meine Vorbereitungen treffe." Tom huschte aus dem Wohnzimmer, während ich hektisch sämtliche Utensilien zusammensuchte, die mir nützlich erschienen.
Als Tom wieder kam, hatte ich bereits in der Mitte des Raumes einen Räucherkelch aufgestellt, Kohlen, Räucherwerk zum Beschwören von Schutzgeistern, Kerzen und alles, was ich an Literatur über Magie finden konnte, lagen um den Kelch herum verstreut. Was mir im Moment noch fehlte, war ein Stück Kreide und mein geweihter Dolch, beides fand ich nach langer Suche endlich in einer Schublade, in der ich es nie vermutet hätte.
"Setz dich und halt den Mund!" Forderte ich geistesabwesend, während ich überlegte, welchen Schutz ich um uns herum legen sollte. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für einen Schutzkreis von Alister Crowley. Ein Teil meines Verstandes konzentrierte sich mit aller Kraft auf die notwendigen Formeln, während ich die entsprechenden Siegel und Pentagramme in den Kreis zeichnete, der uns beide einschloss. Ein anderer Teil meines Geistes betete zu allen mir bekannten Göttern, dass das, was ich gerade machte, auch tatsächlich funktionierte. Denn Geisterbeschwörungen und weißmagische Riten zu praktizieren war das eine, tatsächlich einen Dämon abwehren zu müssen stand jedoch auf einem anderen Blatt. Nachdem der Schutzkreis vollendet war, zündete ich vier Kerzen, jede davon war einem anderen Element geweiht an, und bat um den Schutz der Elementargeister.
Nachdem im Kelch eine Kräutermischung knisterte und wohltuenden Rauch verströmte, forderte ich Tom auf, mir jetzt die komplette Geschichte zu erzählen. "Na ja, heute Nachmittag ist mir zufällig Ralph über den Weg gelaufen, wir sind dann spontan nach Passau gefahren und haben die Stadt ein wenig unsicher gemacht", begann er zu erzählen. Mittlerweile hatte sich Tom wieder gefangen und fühlte sich im Gegensatz zu mir anscheinend so sicher wie ein Kleinkind auf dem Schoß seiner Mutter. Am späten Nachmittag waren Tom und Ralph noch auf zwei oder drei Bier zu einem Baggersee gefahren.
Als wir auf dem Weg zu Ralph waren, bat er mich in einem einsamen Waldstück, für eine Pinkelpause anzuhalten. Ich parkte in einem Feldweg, Ralph sprang aus dem Auto und verschwand zwischen den Bäumen, um sein Geschäft zu verrichten. Mit Riesenschritten rannte er zum Auto zurück, riss die Tür auf und brüllte GIB GAS, ALTER! LOS GIB GAS! Sein Gesicht war von einem Ausdruck gezeichnet, den ich an ihm noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte Angst! Todesangst! Während ich vorsichtig die wenigen Meter zur Straße zurück setzte, erzählte er, warum er solche Angst hatte: Während Ralph die Blase erleichterte, hörte er ein seltsames Geräusch. Er beschrieb es als eine Mischung aus dem Knurren einer Großkatze und dem Muhen einer Kuh. Er hatte dieses Geräusch fünfmal gehört. Derjenige, der das Geräusch von sich gegeben hatte, schien sehr, sehr wütend zu sein. Denn was Ralph als nächstes hörte war das Bersten von Zweigen, als ob sich ein sehr schwerer Körper mit Höchstgeschwindigkeit gewaltsam eine Schneise durch das dichte Unterholz schlug. Aus der selben Richtung kam das Rascheln von Zweigen und Blättern und ängstliche Schreie von kleineren Tieren und Vögeln, die von diesem wütenden Etwas aufgeschreckt worden waren und versuchten, ihm schnellstmöglich aus dem Weg zu gehen. Und das alles in einem Zeitraum von wenigen Sekunden, Alter! Und als Ralph mir das sagte, hatte ich auch Angst. Eine Scheißangst, Mann! Erst recht, weil es etliche wüste Geschichten über diesen Wald gibt. Ich versuchte mir einzureden, dass Ralph irgendwann im Lauf des Tages einen Trip eingeschmissen hatte und jetzt wegen eines Geräusches, das er falsch interpretiert hatte, einen Horrorfilm schob. Doch genau in dem Moment als wir die Straße erreicht hatten, hörte ich exakt das Geräusch, das Ralph beschrieben hatte. Ich drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch, aber anscheinend war es schon zu spät. Ich beschleunigte mit quietschenden Reifen, und genau jetzt prallte irgendetwas Schweres auf das Dach. Etwas verdammt schweres, Mann. Es prallte mit einer derartigen Wucht auf das Auto, dass wir fast von der Straße geschleudert wurden. Und jetzt war das Ding erst so richtig zornig. Es schrie mit einer Lautstärke, dass ich fast taub wurde. Und es trommelte mit Pfoten, Fäusten, Krallen, Beinen, oder was immer das Ding haben mochte, auf das Dach ein. Wie ein halb verhungerter Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel, der gerade eine Konservendose gefunden hatte und sie ums Verrecken nicht aufbekam. Ich raste wie ein Henker und konnte dieses Scheißding einfach nicht abschütteln. Kannst du dir vorstellen, was für ein Gefühl das war, Mann? Kannst du das?
Ich schüttelte den Kopf, nach einer kurzen Atempause sprach Tom weiter.
Nach fünf Kilometern haben wir das Ding endlich abgeschüttelt. Ralph hat sich nicht einmal mehr von mir verabschiedet, als ich das Auto vor seiner Bude abgestellt hatte. Er rannte ins Haus und ich schätze, er hat seine Bude noch nie zuvor so gut verschlossen wie heute Abend. Aber ich glaube nicht, dass ihm das allzu viel genutzt hat. Ich blieb jedenfalls erst einmal stehen. Nach diesem Schreck brauchte ich erst einmal ein paar Minuten Ruhe und eine Zigarette.
Gleichzeitig hörte ich Tom zu und murmelte einige Beschwörungsformeln. Ich spürte eisige Gänsehaut über meinen Rücken kriechen und ahnte irgendwie schon, was Tom als nächstes erzählen würde und was uns in den nächsten Minuten oder Stunden erwarten würde. Hoffentlich nichts, doch ich glaubte nicht daran. Wenn ich während eines Rituals Angst hatte, dann war mit der Situation nicht zu spaßen. Ich wollte vorbereitet sein und hatte das Gefühl, dass wir schon viel zu viel Zeit verloren hatten. Ich wusste, dass von nun an jede Sekunde zählen konnte.
Als ich den Zündschlüssel umdrehte und selbst nach Hause fahren wollte, sah ich etwas im Rückspiegel. Erst war es nur ein schwarzer Schatten, der sich rasend schnell näherte. Wie erstarrt starrte ich mit heruntergeklapptem Unterkiefer in den Rückspiegel. Was ich sah, konnte einfach nicht sein: Irgendwie hatte es dieses Ding anscheinend geschafft, uns zu folgen. Das konnte nicht sein - das durfte einfach nicht sein. Ich war davon überzeugt, dass ich einer Halluzination zum Opfer gefallen war. Der Schatten jetzt bis auf wenige hundert Meter herangekommen. Ich sah in schwarzem Wabern eine dämonische Fratze schimmern. Dann schrie es. Eiskaltes Grauen packte mich. Es war der selbe Schrei wie vorhin. Mann, du kannst dir ja vorstellen, dass ich mit Vollgas verschwunden bin. Anscheinend hatte es das Ding aber nicht auf mich abgesehen, vielleicht hatte es mich auch gar nicht gesehen. Was ich durch den Rückspiegel beobachtet hatte, war aber noch viel unheimlicher, als wenn es mich verfolgt hätte. Nein, Mann, das Ding lief nicht hinter dem Auto her, sondern sprang direkt in das Haus hinein. Mit einem gewaltigen Sprung federte der Schatten von der Straße und sprang durch die Mauer in Ralphs Wohnung. Das verdammte Scheißding drang einfach in die massive Hauswand hinein. Sobald der Schatten in der Wand verschwunden war, fiel ein blutroter Lichtschauer durch die geschlossenen Rollos. Ich bin mir nicht sicher, aber es kam mir vor als hörte ich jetzt nicht nur das Brüllen des Monsters. Ralph schrie seine Todesangst hinaus. Ich bin nicht sicher, ob ich seinen Schrei gehört habe, aber ich bin sicher, dass er geschrien hat. Im selben Moment spürte ich, dass eine eisige Klaue in meinen Brustkorb griff und mein Herz umklammerte. Ich drückte das Gaspedal tief durch und fuhr ziellos durch die Nacht.
Während Tom erzählte, spürte ich, dass sich Gänsehaut immer weiter auf meinem Rücken ausbreitete. Obwohl die Heizung lief und im Wohnzimmer eine Temperatur von mindestens 20 Grad herrschte, spürte ich einen eisigen Lufthauch als mein alter Kumpel mit Tränen in den Augen sagte: "Bitte hilf mir raus aus diesem Alptraum!"
Ich legte meine Hand auf seinen Arm. Wollte Tom beruhigen, damit er nicht wieder in Panik geriet, und sagte in betont ruhigem Tonfall: "Im Moment können wir nichts tun außer abwarten, ob irgendetwas geschieht?" Und dass ihm nichts geschehen würde, solange er sich innerhalb des Schutzkreises befand. Tom zitterte, es fiel ihm sichtlich schwer, die Lippen so zu formen, dass er die Worte aussprechen konnte, die er formulieren wollte. "Glaubst du, das Ding verfolgt mich?" Die Stimme zitterte. Ich schüttelte langsam den Kopf, wusste aber genau, dass mich meine Augen Lügen straften.
Wir saßen schweigend im Schutzkreis. Ich legte verschiedene Räucherwaren nach und dachte darüber nach, mit wem - oder besser gesagt - womit sich Tom wohl diesmal angelegt hatte. Meine Gedanken liefen allerdings ins Leere, ich hatte keine Ahnung, was auf seine Beschreibung zutreffen könnte. Hätte ich nur den Namen des Schattens gekannt, wäre es mir wesentlich leichter gefallen, mich auf die Begegnung vorzubereiten. Denn dass sich das Ding an Toms Fersen geheftet hatte, dessen war ich mir vollkommen sicher. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es hier auftauchen würde.
Draußen tasteten sich bereits die ersten Sonnenstrahlen zaghaft durch die Nacht, und schon seit Stunden saßen wir innerhalb unseres Schutzkreises, ohne dass sich etwas gezeigt hätte. Ein Heranschleichen von irgendwelchen dämonischen Kräften hatte ich ebenfalls noch nicht gespürt, und mittlerweile war ich fast geneigt, Toms Erzählung dem übermäßigen Konsum von halluzigenoiden Substanzen zurückzuführen. Was allerdings auch daran liegen mochte, dass mittlerweile bleierne Müdigkeit durch meine Glieder kroch, nachdem ich in den vergangenen Nächten nicht allzu viel geschlafen hatte.
Ich hatte keine Ahnung, ob das, was ich gemacht hatte, Tom in irgendeiner Art und Weise helfen konnte, aber ich wollte ihn nicht nach Hause schicken, ohne wirklich alles gemacht zu haben, was in meinen bescheidenen Fähigkeiten lag. Die vergangenen Stunden hatten wir damit zugebracht, uns vor etwas zu schützen, das uns zweifellos mit der Gewalt einer Naturkatastrophe heimsuchen würde. Beide hatten wir inzwischen das Warten satt. Ich fasste Tom bei den Händen, schloss die Augen und streckte meine latent vorhandenen magischen Fühler aus. Falls ein Ding wie Tom es beschrieben hatte, hinter ihm her war, und tatsächlich das geschehen war, was er mir geschildert hatte, dann konnte sich dieses Ding nur an die Aura von Ralph und Tom geheftet haben. Dann spürte es aber vielleicht auch den Schutzkreis und hielt sich zurück. Ich wollte Gewissheit haben, ob tatsächlich etwas vorhanden war oder nicht.
Obwohl ich mich dank der kurzen Nacht und der stundenlangen Konzentration auf das Schutzritual leidlich ausgelaugt fühlte, gelang es mir relativ rasch, in eine mentale Verbindung zu Tom zu treten. Ich spürte, dass die Todesangst, die er wenige Stunden zuvor gespürt hatte, wie dichter Smog auf seinem Geist lastete, alle anderen Empfindungen erstickte. Und sehr weit weg spürte ich noch etwas anderes. Etwas, das man als eine Art Schicksal betrachten mochte. Etwas, das unweigerlich eintreten musste, das jedoch in keinerlei Verbindung zu seiner Angst stand. Das Einzige, das ich im Moment für Tom tun konnte, war den Schatten, der seinen Geist verdunkelte, zumindest teilweise von ihm zu nehmen.
Am ganzen Körper zitternd zog ich mich wieder in mich selbst zurück. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich diese schreckliche Angst so tief in mir vergraben hatte, dass ich die Kraft fand, meinen Körper wieder vollkommen zu kontrollieren, das Zittern zu unterdrücken. Ich schlug die Augen auf und sagte: "Wir sollten abbrechen. Ich kann beim besten Willen keine negativen Kräfte orten!" Tom wollte protestieren, doch ich erstickte seinen Widerspruch mit einem einleuchtenden Argument. "Wir können nicht für den Rest unseres Lebens in diesem Kreis bleiben. Wir können aber gern heute Abend noch ein anderes Ritual versuchen. Ich werde mich bis dahin ein wenig schlau machen. Vielleicht kann ich das Ding dahin zurück schicken, wo es herausgekrochen ist."
Ich hatte in Toms Geist gelesen, gesehen wie tief sich die Angst eingegraben hatte und war überzeugt, dass am vergangenen Abend etwas geschehen sein musste, das sich nicht allzu sehr von dem unterschied, was Tom mir erzählt hatte. "O.K.", seine Stimme klang jetzt etwas gefestigter. Nach kurzem Zögern fragte er: "Hast du was dagegen, wenn ich heute bei dir bleibe!" Ich schüttelte den Kopf, legte die Hand beruhigend auf seine Schulter.
Nur wenige Minuten später, ich hob den magischen Schutz auf und dankte den Geistern für ihren Schutz. Tom war zur Toilette gegangen, um seine Blase zu erleichtern, da hatte ich plötzlich das Gefühl, dass sich etwas näherte. Wie eine riesige dunkle schwarze Wolke. Als erstes spürte ich einen kalten Lufthauch, der sich durch die geschlossene, gläserne Balkontür im ganzen Raum ausbreitete.
Mit entsetzt geweiteten Augen folgte ich dem seltsamen Schauspiel, das sich meinen Blicken darbot. Vor der Tür manifestierte sich schließlich eine mehr als mannshohe Wolke wie aus dem Nichts. Dünne, schwarze Luftfäden sickerten in der kalten Luftströmung durch die Glasscheibe hindurch. Verdichteten sich langsam in dem Ausmaß, in dem die Gestalt vor der Balkontür schrumpfte. Ich beobachtete dieses Bild, das sich gerade vor meinen Augen abspielte, mit jener ungläubiger, spannungsgeladenen Distanz, mit der ich das selbe Geschehen in einem Horrorfilm vom Kinosessel aus verfolgt hätte. Keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich konnte nur hier stehen bleiben und zuschauen. Das Ding schien da draußen gelauert zu haben wie eine geduldige Raubkatze, die nur darauf gewartet hatte, dass ihr Opfer unvorsichtig wurde. Es hatte den Zeitpunkt abgewartet, bis einer von uns beiden unvorsichtig wurde und den Schutzkreis verließ. Oder bis wir eben das Ritual beendet hatten, weil wir dachten, dass uns eine Kreatur der Finsternis im gleißenden Licht des Tages nicht gefährlich werden konnte. Wenn dem so war, dann hatten wir dieses Katz-und-Maus-Spiel schon verloren, bevor es überhaupt begonnen hatte. Tom und mir standen allenfalls Stunden zur Verfügung, in denen wir uns schützen konnten, dem Jäger blieben Äonen, um seine Beute zu stellen. Ich spürte meine Finger nach dem geweihten Dolch tasten. Die silberne Waffe war so ziemlich der einzige Schutz, der uns blieb. Ein neuer Schutzzauber würde zu lange dauern. Bis ich die erforderlichen Gebete gesprochen und den Kreis auch spirituell wieder aufgebaut hatte, konnte uns das Monster fünfmal verspeist haben, wenn es nur wollte.
"Tom..." hörte ich meine Stimme rufen. "Tom, wir haben ein Problem!" Er murmelte eine Antwort aus dem Bad, raunte schließlich "komme schon!" Von den sich nähernden Schritten unbeeindruckt, sickerte das Monster weiter durch die Glasscheibe. Ich wollte mich auf dieses Ding stürzen, mit meinem Dolch seinen Luftleib aufschlitzen. War gelähmt. Mein Verstand weigerte sich zu glauben, dass sich das, was seine Augen gerade sahen, tatsächlich in dieser Realität ereignete.
In dem Augenblick, in dem Tom auf der Schwelle des Wohnzimmers erschien, schwebten auch die letzten dünnen Wolkenfäden durch die geschlossene Tür und vollendeten die Gestalt, deren Leib beständig in Bewegung war und seine Erscheinung mit jeder Sekunde änderte. Eine kleinere, kugelförmige Wolke erwuchs aus dem Haupttorso. An der Stelle, an der man die Augen vermutet hätte, waren zwei kleine Löcher, so tief schwarz wie eine sternenlose Nacht. Von der selben Farbe war der Mund, der so grässlich verzerrt war als schreie er alle Qualen, die er seit Anbeginn der Zeit in den Tiefen des Fegefeuers verspürt hatte, stumm in die Welt hinaus.
Sowohl Tom als auch das Ding standen wie angewurzelt, als sie einander erblickten. Doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel durchfuhr ein rascher Bewegungsimpuls die Wolke. Wie eine Raubkatze schnellte sie vorwärts und erfasste meinen Freund. Dünne Wolkenfäden schlossen sich um seinen Körper, drangen in die Poren seiner Haut. So, als wollte das Ding seinen Körper mit Millionen von Sonden bis in jede Faser hinein erkunden. Tom sackte zusammen, wurde jedoch auf seltsame Weise von der Wolke ergriffen und fest gehalten. Er hatte den Kopf weit nach hinten gelegt, starrte mit geistlosem Blick auf die Zimmerdecke. Die Zunge baumelte aus einem weit offenen Mund, und auch in diese Öffnung war ein Teil der Wolke gekrochen. Toms willenloser Körper folgte jeder Bewegung, die die Wolke vorgab, wie ein willenloser Zombie. In seinem Gesicht spiegelte sich so etwas wie ein glückliches Lächeln. Die Jagd war beendet.
NICHT, WENN ICH ES VERHINDERN KONNTE! Dieser Gedanke durchfuhr mein Gehirn wie ein Blitz vor düsteren Wolken. Ich war wieder der Herr über meine Glieder, und bevor mich logisches Denken stoppen konnte, hechtete ich automatisch nach vorne und fuhr mit dem Dolch an der Stelle, an der bei einem Säugetier vermutlich ein lebenswichtiges Organ gewesen wäre, durch die Wolke. Zischend verwandelte sich der Rauch an den Stellen, an der er vom geweihten Silber getroffen wurde, wieder zu Nichts. Mit meiner Waffe fetzte ich wieder und immer wieder tiefe Wunden in die Wolke, die das ohne jegliche Gegenwehr mit sich geschehen ließ.
Mit einem lauten Brüllen, das haargenau so klang wie Tom es beschrieben hatte, verschwanden die letzten Wolkenfetzen. Tom stürzte. Sackte auf den Boden, wo er für einen langen, erschöpften Schlaf liegen blieb. Ich beseitigte die Spuren des Rituals. Ich fühlte mich ausgezehrt. Hatte nur noch die Kraft, auf die Couch zu kriechen, um ebenfalls ein paar Stunden lang zu schlummern. Den Dolch ließ ich allerdings nicht aus der Hand. Ich hatte so ein Gefühl, als sei dies nicht meine letzte Begegnung mit diesem Ding gewesen.



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