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Acht Stunden der Vergangenheit

© Enrico Andreas Brodbeck


Ich fuhr mit meinem Wagen wie ein Verrückter zurück nach Hause. Wer meinen Gesichtsausdruck dabei gesehen hätte, wäre zu der Erkenntnis gelangt, in das Antlitz eines gehetzten Hasen zu schauen. Etwas unbeholfen absolvierte ich dort das sonst so sichere rangieren des Wagens in die Garage. Als ich danach in mein Haus gegangen war, ging ich direkt in den Wintergarten. Auf dem Weg dort hin, entnahm ich eine Flasche Magenbitter aus dem Kühlschrank. Er sollte ein Garant dafür sein, dass Erlebte in einen Schleier der Vernebelung zu hüllen. Natürlich war ich auch um meine Gesundheit bedacht und flößte mir einen Kurzen nach dem anderen ein. Bei dem neunten Pinchen hielt ich inne. Was um alles in der Welt war vor ein paar Stunden da draußen passiert? Vor meinem geistigen Auge ließ ich die zurückliegenden Tage noch einmal Revue passieren, um das Geschehene besser zu verstehen.
Angefangen hatte alles mit einer Leidenschaft, der ich wissbegierig frönte. Ich hatte nämlich ein besonderes fable für außergewöhnliche Ereignisse, die rational und mit klarem Menschenverstand nicht zu erklären waren. Darunter fiel unter anderem auch "Das Rätsel der Selbstentzündung von Menschen". Seit längerem hatte ich eine Theorie entwickelt, die einen Erklärungsansatz dafür lieferte, wie es zu diesen spektakulären und sonderbaren Ereignissen kommen konnte. Diese Theorie wollte ich unter allen Umständen einer erlesenen Riege von Forschern unterbreiten. Sicher, ich war keine Koryphäe auf diesem Gebiet, und es bestand somit die Gefahr, niemanden zu finden der sich meine Theorie anhörte beziehungsweise studierte. Also wählte ich erst einmal die einfachste Methode, um schnell an eine adäquate Liste über Gleichgesinnte zu kommen. In eine der renommiertesten Suchmaschinen des Internet, gab ich den Suchbegriff "Außergewöhnliche Vorkommnisse" ein. Wie viele Seiten insgesamt aufgerufen wurden weiß ich nicht mehr, aber auf der neunten Seite fand ich einen bemerkenswerten Eintrag, den ich auch sofort öffnete. Die Seite gestaltete sich auf den ersten Blick schlicht und nichtssagend, bis auf einen Link, der mich auf weitere Seiten lenkte. ---"Interessieren sie sich für das Außergewöhnliche; Suchen sie Antworten, dann klicken Sie hier?"---
Auf den folgenden Seiten, die sich durch weitere "Links" öffnen ließen, erhielt ich später einen Hinweis auf eine E-Mail- Adresse. Eigentlich, bin ich bei solchen Unternehmungen eher etwas skeptisch und lasse die Finger davon. In diesem Fall aber, überwog dann doch die Neugierde. Der anschließende Informationsaustausch gestaltete sich recht abwechslungsreich. Zuerst kam es zu einem Schlagabtausch, um den Wahrheitsgehalt unseres scheinbar anonymen Interessenpartners zu überprüfen, dann wurden interessante Literaturverweise ausgetauscht und zu guter Letzt erhielt ich einen Termin und eine Adresse, die ich aufsuchen könnte, wenn ich meine Forschungen ernsthaft betreiben würde. Was mich von vornherein verwunderte war die Tatsache, dass ich die Adresse kannte. Zum einen lag der angegebene Treffpunkt in meiner Stadt und zum Anderen kannte ich die Straße noch aus früheren Zeiten. Die Straße lag in einer alten Siedlung, die während des II: Weltkrieges am Rande der Stadt entstanden war. Die mehr oder weniger einfachen Baracken, wurden seiner Zeit für ausgebombte Familien errichtet, um ihnen übergangsweise eine Bleibe zu bieten. Meine Oma hatte das unsägliche Pech, längere Zeit in dieser Siedlung zu wohnen, bis sie lange nach Kriegsende eine neue Wohnung für sich und ihre drei Kinder fand.
Drei Wochen nach Erhalt dieser Adresse, machte ich mich auf dem Weg. ---"Hirschgraben Nr. 12".--- Es war am heutigen Samstag gegen 10:00 Uhr. Ich packte ein paar Sachbücher ins Auto, nahm noch Schreibblock und etwas zum Schreiben mit, und natürlich mein Handy. Man konnte ja nicht wissen, mit was für einem "Freak" man es zu tun bekam. Mit meinem Wagen brauchte ich gerade mal zehn Minuten, als ich den ehemaligen Siedlungsbereich erreichte. Mittlerweile waren die einstigen städtischen Grundstücke an zahlungskräftige Käufer aus allen Bereichen Deutschlands verkauft worden. Wenn man sich diese überladene Architektur näher betrachtete, konnte man sich kaum vorstellen, wie armselig diese Siedlung einmal dagestanden ist. Als ich von der Hauptstraße links in den "Hirschgraben" einbog, blitzte es plötzlich einmal kurz auf. Verdammte Scheiße! Ich war dermaßen darüber erregt, dass ich laut vor mich hinfluchte. Das es sich die Stadt nicht nehmen ließ auch an dieser Stelle einen "Starenkasten" aufzustellen, war nach meiner Meinung eine große Sauerei. Dabei war ich gar nicht so schnell gefahren. Ich schaute suchend in den Rückspiegel, konnte aber diesen blöden Kasten nicht ausfindig machen. In Gedanken schrieb ich schon einen derben Brief an das Ordnungsamt, als plötzlich jemand an die Scheibe meiner Fahrertür klopfte. Ich drückte auf einen Knopf und ein leises Surren begleitete den Vorgang des Öffnen der Scheibe.
"Man sind sie wahnsinnig", schrie mich ein älterer Herr an, "haben sie die Sirene nicht gehört, es ist Fliegeralarm, sie müssen unbedingt einen Bunker aufsuchen!"
Während ich noch über die Begriffe Sirene, Fliegeralarm und Bunker nachdachte, ging der ältere Herr staunend um meinen Wagen herum. Ich schaute nach vorne zum Ende der Straße und sah direkt auf den angrenzenden Bahndamm. Vielleicht hätte mir auffallen müssen, dass an den Gleisbetten keine Oberleitungsmasten standen, aber das aufgeregte Verhalten dieses Mannes irritierte mich so sehr, als das mir irgendetwas aufgefallen wäre.
"Hören sie", stammelte ich, als der Herr wieder neben der Fahrertüre stand, "ich suche eine Frau Maria Drees, Hirschgraben Nummer 12!"
"Ja, ja, junder Mann, da sind sie hier schon richtig", gab der Mann ungeduldig als Antwort, "aber ich glaube, sie wollen doch sicher zu der Mutter, Else Drees?" --- "Kommen sie, fahren sie mit ihrem neumodischen Gefährt lieber von dem Weg, denn wenn der Zirkus hier gleich losgeht, wird wieder einiges zu Bruch gehen und von ihrem Gefährt wird nichts mehr übrig bleiben!"
Der Mann ging hastig vor meinem Wagen her und lotste mich in eine Einfahrt, in der ein alter Schuppen stand. Mit ein paar Handgriffen hatte er die Tore geöffnet und ich fuhr vorsichtig hinein. Zur Sicherheit, schaute ich noch einmal auf meine Unterlagen. -"Maria Drees, Hirschgraben Nr. 12/ Tel: 02364/ 14325.- Ich nahm mein Handy zu Hand und wollte die gute Frau zur Vorsicht lieber noch einmal anrufen. Aber die verdammte Technik versagte mir den Dienst. Also stieg ich aus dem Wagen und ging zurück zur Straße, die zu meiner Verwunderung noch gar nicht richtig geteert war. Sollte unsere Stadt aus der Not heraus diesen Bereich über Jahrzehnte hinweg übersehen oder ausgespart haben? Als ich dann in Richtung Bahndamm schaute, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein "Erzengel", gezogen von einer Güterzugdampflokomotive der Baureihe 52, schob sich schwerfällig von Westen kommend an unseren Bereich vorbei. Das kraftvolle Stampfen der Dampfmaschine, hüllte die mit Eisenerz beladenen Güterwagons hinter sich mit schwarzem Rauch ein. Ich musste sogleich an die Nostalgiefahrten der "Deutschen- Bundesbahn" denken, konnte mich aber nicht daran erinnern, dass eine Sonderfahrt dieser Art angekündigt worden war, und noch weniger konnte ich mich an einen Querverweis in der Tageszeitung erinnern, der auf eine Sirenenübung hingedeutet hätte.
Unterdessen zehrte der alte Mann energisch an meine Jacke mit dem Hinweis, das wir schleunigst einen Luftschutzbunker aufsuchen müssten. Ich verstand eigentlich nur noch "Bahnhof", bis ich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch vernahm. Es hörte sich an, als wäre ein Schwarm Hornissen auf Jungfernflug, und würde unmittelbar an uns vorbeifliegen. Als ich in die Richtung schaute, aus der ich das Geräusch vernahm, sah ich am Himmel eine Vielzahl von Kondensstreifen, die wie von einem Rechen gezogen sich gleichmäßig abzeichneten. Ich stand wie paralysiert auf einer Stelle und konnte mich kaum bewegen. Wäre der Mann nicht so akribisch um mich bemüht gewesen und hätte er mich nicht mitgezerrt, ich wäre wahrscheinlich zu einer Salzsäule erstarrt. Wir bogen in einen kleinen Weg ein, den ich zuvor nie gesehen hatte und blickte direkt auf einen Spitzkegelbunker. Vor dem Eingang des Bunkers, starrte ich wieder gebannt zum Himmel und sah, dass sich eine Rotte von cirka 30 B-17 Bombern aus dem Verband gelöst hatte. Wahrscheinlich war ihr Angriffsziel die chemischen Werke, die in unmittelbarer Nähe zu unserer Stadt lagen. Vereinzelt sah ich kleinere einmotorige Maschinen, die ihre Angriffe wiederum gegen die ausscherende Rotte flog. Vermutlich war es deutsche Jagdflieger mit ihren ME- 109. Als die ersten Flakgeschütze im nahen Umfeld losdonnerten, war der Mann neben mir nicht mehr zu halten. "Man junger Mann, ihnen haben se wohl ins Gehirn geschissen, sich so für den Krieg zu begeistern, aber so wie sie aussehen und angezogen sind, scheinen sie nicht von dieser Welt zu sein." Kopfschüttelnd ging er mit ein paar verängstigten Bürgern, die aus dem näheren Umfeld herbei geeilt waren, in den Bunker.
Mich berührte das wenig, denn ich war mittlerweile davon überzeugt, das dies alles nur ein schlechter Albtraum sein konnte, aus dem ich irgendwann schweißgebadet aufwachen würde. Also dachte ich angestrengt über die Kriegsgeschichten meiner Mutter nach. Mir fiel eine Erzählung ein, die darüber berichtete, dass ein Bomber in der Nähe von unserer Stadt abgeschossen worden war und die Maschine auf den Sandbergen einer Baugrube, nahe des Stausees, herunter gekommen war. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als ich die ersten Fliegerbomben herunterstürzen hörte, war mir bewusst, dass dies kein Traum war. Dieser singende Pfeifton, der durch die Fallgeschwindigkeit hervorgerufen wurde, kündigte die verheerende Zerstörungskraft an, die sich in einigen Detonationen manifestierte.
In Richtung Bahndamm, nahm die Tragödie unterdessen ihren Lauf. Der Güterzug war zum Stehen gekommen und der Lokführer und sein Heizer hatten panisch ihren Arbeitsplatz verlassen, als ihr Bereich durch den einschlag einiger Bomben erschütterten wurde. Zum Glück stand ich hinter dem Bunker und konnte mich so vor den enormen Druckwellen und herumschwirrenden Bombensplitter schützen. Der ganze Anflug dauerte gerade mal 15 Minuten und hinterließ ein Feld der Verwüstung. Lok explodiert, Gleise gesprengt, und unentwegt das knattern von schweren Maschinengewehren aus den Fliegern und natürlich das Donnern der Flakgeschütze. Die Luft vibrierte förmlich und stank ekelig nach Sprengstoff und Verbrennungen. Ich stand hinter dem Bunker und konnte nicht fassen, was sich da in unmittelbarer Nähe abspielte. Die Erde bebte durch die enorme Wucht, die von Flakgeschützen ausging. Die Rotte von Bombern musste in diesem Moment ihr Zielgebiet erreicht haben, da die Geschützsalven der umliegenden Flak an Intensität zunahmen.
Noch hatten die Sirenen nicht aufgeheult, um den Fliegeralarm zu beenden, als mich ein ungewöhnliches Geräusch herumfahren ließ. Ein angeschossener Bomber verlor schnell an Höhe, und ich konnte sehen, wie der Pilot in der Kanzel krampfhaft versuchte die Maschine halbwegs auf Horizont zu halten. Als die Maschine, im Abstand von gerade 20 Metern zu den Baumgipfeln, über mich hinweg schoss, konnte ich das Seiten- MG und den Bordschützen erkennen, der blutüberströmt aus der Öffnung hing und mich mit seinem starren Blick ansah. Es durchzuckte mich wie ein Blitz, als sich unsere Blicke trafen, denn ich hatte das Gefühl, in die Tiefen Abgründe meiner eigenen Seele zu schauen. Im Bruchteil von Sekunden offenbarte sich mir die ganze Palette früherer Aktivitäten, die an unterschiedlichen Orten der Geschichte stattgefunden hatten. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, als würde ich dort in der Maschine sein und mit dem Tode ringen. Alle Verwundungen, die der Mann sich im Laufe des Gefechtes zugezogen hatte, konnte ich an meinem ganzen Körper spüren und es hatte den Anschein, als wäre dieser Mann dort oben für einen Moment von aller Pein erlöst. Erleichterung zeigte sich auf seinem Antlitz und die Zeit schien inne zu halten. Erst als ich mich vor großen Schmerzen krümmte und auf die Knie fiel, riss der Faden ab und die Zeit setzte ihren Takt unentwegt fort. Ab dem Moment hatte der Mann seinen Todeskampf überstanden und fiel aus der Maschine zu Boden.
Ich war gar nicht darauf erpicht, mir diesen Mann genauer anzusehen, sondern suchte etwas verstört den Weg zu diesem verdammten Schuppen, in dem mein Wagen stand. Mein Atem ging schwer und mein Puls raste, als ich mit Mühe die Tore des Schuppens öffnete. Trotz der vielen MG- Salven, die auch in diese Richtung abgefeuert worden waren, war mein Wagen "Gott- sei- Dank" unversehrt geblieben. So schnell ich nur konnte, wollte ich diesen Ort des Schreckens verlassen. Die Reifen meines Wagens drehten lange durch, bis sie endlich am Boden hafteten und der Wagen Fahrt auf nahm. In Höhe der Hauptstraße, musste ich nach Rechts abbiegen, um wieder in die Stadt zu gelangen. Fast auf der gleichen Höhe wie bei der Hinfahrt, blitzte es plötzlich wieder. Aus meinem Radio ertönten bekannte Melodien und die Digitaluhr zeigte 18:00Uhr an. Egal was den Blitz auch ausgelöst hatte, ich hoffte inständig, dass der Spuk damit ein Ende hatte. Und obwohl ich wenig später wieder vertrautes Gefilde um mich herum sah, konnte ich die Furcht von dem erlebten nicht aus meinem Gesichtsausdruck verbannen.
Mittlerweile hatte ich 40 Pinchen mit Magenbitter intus. Nach und nach vernebelte der Alkohol die Erinnerung an das erlebte, und es regte sich nunmehr der begründete Verdacht, dass der darauffolgende Kater weitaus schlimmere Spuren hinterlassen würde. Was immer auch dieses sonderbare Spektakel hervorgerufen hatte, meine Neugierde für das "Unerklärliche" hatte neuen Nährboden gefunden. Verschwommen nahm ich noch war, dass meine Frau in der Türe stand und mich vorwurfsvoll anschaute. Egal, wenn meine Frau vor ein paar Stunden das gleiche Geschehen durchlebt hätte, dann ....



Eingereicht am 25. November 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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