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Mensch

© Frank Moné


Dr. Keller starrte ins Nichts. Er saß vor seinem Schreibtisch, der überhäuft war mit Unmengen wissenschaftlicher Auswertungen. Seit über zwei Stunden nahm er kaum noch etwas um sich herum wahr. Zu ungeheuerlich war die Konsequenz, welche sich aus den Forschungsberichten ergab. Das musste er erst mal verkraften. Wirken lassen. Vielleicht hatte er irgendwas falsch berechnet, falsch interpretiert? Sollte er noch einmal alles überprüfen? Aber das hatte er die vergangenen zwei Monate schon gemacht. Wieder und wieder. Nein, gestand er sich ein, es gab keine Fehler. Er musste die Wahrheit so akzeptieren wie sie nun mal war.
Man hätte schon viel früher darauf kommen können, doch wer hätte je so etwas gedacht, je in diese Richtung gedacht?
Das Bild, das sich der Mensch von sich selbst gemacht hatte, musste neu gezeichnet werden. Völlig neu. Richtig gezeichnet werden. Aber war der Mensch dann überhaupt noch ein Mensch? Wenn nicht, was war er dann?
Sie waren eine Art wissenschaftliche Spezialeinheit, die sich mit dem Menschen und wie er funktionierte beschäftigte. Dort wo andere Wissenschaftler nicht weiter kamen, dort wo die Geheimnisse nicht gelüftet werden konnten, dort wurden sie eingesetzt. Ihnen standen Mittel zur Verfügung, auf die andere nicht zurückgreifen konnten. In finanzieller und auch in technischer Hinsicht. Und sie konnten die jeweiligen Koryphäen aus aller Welt rekrutieren.
Zurzeit bestand ihre Aufgabe darin, das menschliche Gehirn und alles was damit in Zusammenhang stand zu enträtseln. Sein Aufbau, seine Funktionsweise, eben alles was den Menschen zu einem denkenden, vorausschauenden Wesen machte und ihn von den anderen Lebensformen der Erde unterschied.
Und sie hatten viel herausgefunden. Einblicke erhalten, die anderen verwehrt geblieben waren. Zusammenhänge aufgedeckt, die ein Umdenken nötig machten. Und sie hatten noch Eines erfahren: Der Mensch dürfte gar nicht denken können. Er war dazu einfach nicht in der Lage. Aber er tat es dennoch. Oder war es gar nicht der Mensch, das Individuum, das dachte? Vielleicht wurde für ihn gedacht? Doch von wem? Oder besser, von was?
Irgendwann, in einer bestimmten fötalen Phase, geschah etwas Entscheidendes. Zunächst existierte in dem heranwachsenden Embryo eine amorphe Masse, die sich dann dreiteilte. Der größte Teil verblieb in der Mitte, am Schwerpunkt des sich ausbildenden Körpers. Der Magen. Ein kleinerer Teil wanderte zum später höchsten Punkt des Körpers, bildete das Gehirn, den empfindlichsten Teil, daher zu keinerlei Schmerzempfindung fähig. Umschlossen von der harten Schale des Schädels. Der kleinste Teil streckte sich, stellte die Verbindung zwischen den anderen Teilen her. Das Rückenmark. Geschützt durch Muskeln und die Wirbelsäule.
Es galt als sicher, dass schwache elektrische Ströme den menschlichen Körper durchfließen und auf diese Weise Informationen beförderten. Bald entdeckte man, dass photonische Impulse die Nervenbahnen bidirektional entlang eilten. Dann waren es atomkerngroße Botenstoffe, die dafür zuständig waren. All dies war richtig, diese Dinge existierten, aber, so hatten sie herausgefunden, sie transportierten keinerlei Information.
Nach und nach verwarfen sie alle bis dahin ins Auge gefassten Möglichkeiten des Informationsaustausches. Bis nur noch eine, so entsetzlich, so pervers, so unmöglich sie auch schien.
Sie hatten sie im Magen gewusst. Nicht erst seit heute. Schon vor langer Zeit. Und sie waren lebensnotwendig. Ohne sie würde der Mensch sterben. Aber dann hatte sein Wissenschaftsteam sie im Rückenmark nachgewiesen, dann im Hirn und letztendlich überall im Körper. Er war buchstäblich angefüllt mit ihnen. In Formen, die sie nicht für möglich gehalten hatten. Sie waren überall. Wurden von der menschlichen Mutter schon an die Ungeborenen weiter gegeben. Ohne Chance auf Entscheidung. Sie sind intelligent. Sie sind Invasoren. Parasiten. Sie nähren sich von unserem Körper und sie halten ihn am Leben. Zumindest eine Zeit lang. Sie geben unserem Körper Möglichkeiten, für die er nicht geschaffen ist. Die ihn auszehren und dann versagen lassen.
Sie sind nicht von dieser Welt. Sie kamen mit einem Kometen ins Paradies. Erst durch sie wurde die plötzlich auftretende Artenvielfalt auf unserem Planeten ausgelöst. Entartete das Tier Mensch zu einer vermeintlich höheren Spezies. Sie machen uns denken:
Bakterien.
Die Beweise sind eindeutig. Hundertfach geprüft. Unumstößlich.
Wir sind nur Gefäße. Wirte. Weideflächen. Nahrungslieferanten und Fortbewegungsmittel. Ohne eigenen Willen oder eigene Intelligenz.
Doch wenn es so ist, fragte sich Dr. Keller, wie kann ich dann solche Gedanken denken, solche Einsichten haben? Die Wahrheit erkennen?
Dr. Keller und sein gesamtes Team wurden tot aufgefunden. Die Todesursache konnte nicht ermittelt werden.



Eingereicht am 11. Juli 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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