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Die Kammer

© Frank Moné


Prof. Dr. Kehar saß im Kontrollraum und starrte auf die Monitore. Er war allein in dem großen Gebäudekomplex. Ihm und seinem physikalischen Mitarbeiterstab war vor einiger Zeit der große Durchbruch gelungen. In einem kleinen Ringbeschleuniger hatten sie bestimmte Atomteilchen aufeinander geschossen, um nachzuweisen, dass dadurch neue Teilchen entstanden, die man bislang nur vermutet hatte. Nun, sie waren erfolgreich und übergeordnete Stellen hatten die Mittel bewilligt um einen wesentlich größeren Beschleuniger zu bauen und die Experimente fortzusetzen. Bis auf ihn waren alle anderen bereits umgezogen und richteten sich häuslich in der neuen Anlage ein. Für ihn war das nichts mehr. Mit seinen 68 Jahren fühlte er sich zu müde um noch ein Mal ein neues Projekt anzufangen. Hier, in der alten Anlage, befanden sich noch immer die gesammelten Daten. Diese mussten in die neue Anlage transferiert werden und er hatte sich angeboten dies zu tun, bevor er in seinen wohlverdienten Ruhestand ging. Seufzend strich er sich durch seinen dichten, weißen Vollbart und legte die Füße auf den Tisch. Eine bequeme Position. Er schloss die Augen und döste ein wenig vor sich hin. Mit Thomas zum Fischen gehen, mit Steven und Mahatma Golf spielen, laue Sommerabende mit guten französischen Rotweinen und Käse ... Ein Piepsen holte ihn aus seinen Träumen zurück und ein Monitor, der bislang dunkel geblieben war, flackerte und baute ein Bild auf. Stöhnend richtete sich der gebürtige Inder auf und strich sich mit den Fingern durch sein volles, schon vor langer Zeit ergrautes Haupthaar. Der Bildschirm zeigte eine Reihe von Werten, die, mit der Hauptkammer verbundene Sensoren, hierher übermittelten. In der Hauptkammer des Beschleunigers hatten sich die neuen, fremden Teilchen manifestiert und dort waren sie auch heute noch. Nicht wie die vorherigen virtuellen Teilchen, die nach einigen Nano- oder Millisekunden wieder verschwanden. Nein, diese hatten sich stabilisiert und da die Kammer weiter mit Strom versorgt wurde, existierten sie weiter und liefen auch weiterhin Daten. Aber jetzt hatte sich etwas verändert. Abrupt verändert. In der Energieverteilung der Teilchen. Sein, mit vielen kleinen Falten durchzogenes, Gesicht zeigte einen Ausdruck von Überraschung. Wie konnte das sein? Er musste runter zur Kammer, dort konnte er die computergesteuerten Sensoren direkt abfragen. Direkt an der Kammer schaltete Kehar den riesigen, vier Meter hohen und sechs Meter breiten Hauptschirm ein, leitete die Datenströme um und ließ den Hauptrechner eine Darstellung interpretieren, so wie es in der Kammer wohl tatsächlich aussah. Eine direkte Beobachtung war leider unmöglich. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Tatsächlich, es hatte relativ große, kugelförmige Energieballungen gegeben, welche von weiteren, wesentlich kleineren, mit irrsinniger Geschwindigkeit umkreist wurden. Ohne die Computeranimation unmöglich zu beobachten. Auf den Oberflächen der Kugeln erschienen Fluktuationen, sich ständig verändernd. Und winzige Blitze schienen hin und her zu zucken. Kehar riss die Augen auf, zuckte erschrocken zurück, denn urplötzlich explodierte das Energieniveau, strebte radial von einem Punkt weg, auf die Innenseite der ebenfalls kugelförmigen Kammer zu. Würde die Kammer halten? Doch bevor die Energien die Kammer sprengen konnten, wurden sie langsamer, scheinbar umgebogen und rasten auf einen nicht messbaren Punkt innerhalb der Kammer zu. Wurden verschlungen oder absorbiert oder was auch immer. Kehar sank schwer atmend auf einen Stuhl. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und nur langsam beruhigte sich das Stakkato hinter seinen Rippen. Doch sein ängstlicher Blick zum Monitor zeigte ihm ein friedliches Bild vom Innern der Kammer.
Kehar saß, den Kopf auf die Hände gestützt, vor den Kontrollen. Seit Tagen hatte sich im Innern der Kammer nichts verändert. Nach den ersten turbulenten Ereignissen tat sich jetzt rein gar nichts. Halt! Das stimmte so nicht. Es tat sich nichts, was er beobachten konnte, bzw. was die Messwertaufnehmer aufzeichnen konnten. So war es richtig. Er überdachte das Ganze mehrmals und aus verschiedenen Blickwinkeln. Verdammt, jetzt hätte er Schuhmann gebraucht. Aber den hatte er in einen 6-wöchigen Urlaub geschickt. Das war nötig gewesen um Schuhmanns Ehe zu retten. Sie alle hatten bis zum Abschluss des Experimentes sieben Tage die Woche, zwölf oder mehr Stunden am Tag gearbeitet. Kehar schaltete wieder den großen Bildschirm ein und betrachtete das vom Computer generierte Bild. Jäh schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Jetzt musste er lachen. Über sich selbst. Was für eine blödsinnige Idee. Er verwarf den Geistesblitz wieder.
Aber es kam ihm eine andere Idee. Schnell überdachte er sie und kam zu einem Schluss. Die innere Schale der Kammer war nichts anderes als eine komplizierte Ansammlung äußerst leistungsfähiger Elektromagneten. Deren Wirkungsgrad konnte man durch Erhöhung oder Verringerung der zugeführten Energiemenge variieren. Noch ein Mal wurde Kehar vom Forschergeist durchdrungen. Warum nicht die Energiemenge vorsichtig erhöhen? Innerhalb eines gewissen Niveaus konnte nicht viel passieren. Schritt für Schritt drehte er den Regler nach rechts, immer die Daten im Auge. Nichts. Noch immer nichts. Wieder ni...., doch, halt. Da, ein winziger Ausschlag auf den Messinstrumenten. Der Rechner zoomte einen bestimmten Bereich im Innern der Kammer heran. Auf einem der kleineren Energiekugeln bildeten sich winzigste Punkte. Zu klein um sie näher zu erfassen. Kehar rastete den Regler ein und beobachtete. Diese winzigen Punkte bedeckten mehr und mehr die Oberfläche der Energiekugel. Nein, nicht nur dieser. Sie breiteten sich aus, unglaublich schnell, wie Viren in einem organischen Körper ohne Immunsystem. Schnell bedeckten sie viele andere Energieballungen in ihrer direkten Umgebung, dann auch weiter entfernte. Immer mehr und mehr. Kehar hielt den Atem an, konnte einfach nicht glauben was er sah. Das war kein chaotisches, unkontrolliertes Überschwappen, es waren geordnete, zielgerichtete Bewegungen. Er begann am ganzen Körper zu zittern, Schweiß brach ihm aus und sein Herz beklagte sich mit leisen Stichen. Sie erreichten nun schon die innere Schale der Kammer. Dann ... hörte die Ausbreitung auf.
Atemlos starrte Kehar mit leerem Blick auf den Schirm. So lange, bis der Hauptrechner ein hektisches Signal von sich gab. Sein Kopf zuckte zu den beiden kleinen Bildschirmen, welche die neuen Daten anzeigten. Aus dem Inneren der Kammer kam ... ein Signal. Ein Signal, das es gar nicht geben konnte. Nicht geben durfte. Kehar wurde schwindelig, er musste sich an der Hauptsteuerkonsole der Kammer festhalten. Ein moduliertes, binäres Signal.
Er fasste sich an sein schmerzendes Herz als ihn die Erkenntnis wie eine plötzliche Eisdusche traf. Ja, er begann zu verstehen ...
Sie suchten. Sie suchten ihn. Ihn, ihren Schöpfer. Er war ihr .... Kehar sackten die Beine weg, als sein Herz unvermittelt seinen Dienst einstellte. Sein kraftloser Arm berührte dabei zwei, drei Kontrollen auf der Hauptkonsole und brachte sie in andere Positionen. Ebenso schnell wie Kehars Leben erlosch, erlosch auch das ... Leben? in der Kammer.



Eingereicht am 02. Mai 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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