Als der große Spiegel zerbrach
Jörg Fälker
Atomota - Der Name steht für eine Welt, die an Lichtjahren so unermesslich weit von der unseren entfernt ist und doch ein Leben aufweist, das dem unseren so nahesteht wie kein Zweites. Als Kommandant des Forschungsraumschiffes Ulixes habe ich viele interessante Expeditionen unternommen, die der Menschheit zahlreiche neue wissenschaftliche Erkenntnisse brachten. Für die Naturwissenschaftler unserer Crew war unsere weite Reise nach Atomota jedoch kein besonderer Erfolg. Wir trafen auf Lebewesen, die uns Menschen sehr ähnlich waren. Die Bewohner erschienen mir wie Angehörige einer verschollenen Rasse der Menschheit. Die Zivilisation und die technischen Errungenschaften entsprach in etwa dem Stand, den die Menschheit im Jahre 2000 und nach dem Atomkrieg erneut im Jahre 6500 erreicht hatte. Und dennoch hat die Schilderung eines Bewohners dieses Planeten von einem Ereignis, dass sich unmittelbar nach unserer Ankunft ereignete, mir eine neue Sichtweise der menschlichen Seele eröffnet, die keiner unserer Philosophen oder Psychologen mir je hätte vermitteln können.
Vor über zweihundert Jahren war weit entfernt von allen bekannten Galaxien ein einsames Sonnensystem entdeckt worden. Der Fixstern hatte nahezu die Größe unserer Sonne. Fünf Planeten umkreisten ihn. Bei näherer Betrachtung stellte man eine Besonderheit fest. Den erkennbaren Sonnenflecken auf der nördlichen Halbkugel standen gleichförmige an entsprechender Position auf der Südhalbkugel gegenüber. Es schien, als hätten wir einen völlig symmetrischen Himmelskörper entdeckt. Auch in der Folgezeit konnten diesbezüglich keinerlei Abweichungen entdeckt werden. Dies änderte sich auch nicht, als man verschiedene Explosionen auf der Sonne beobachten konnte. Diese ereigneten sich jeweils zeitgleich auf beiden Hälften der Sonnenkugel. Jede der Hälften schien sich an einer durch den Äquator bestimmten, gedachten Ebene zu spiegeln. Auf dieser Ebene lagen auch die Umlaufbahnen der Planeten. Der zweite Planet wies eine Ähnlichkeit zu unserer Erde auf, die ich bisher nirgendwo gesehen hatte. Auch hier stellten wir fest, dass die Erdteile und Ozeane auf der Nordhalbkugel das Spiegelbild der Südhalbkugel bildeten. Diesen Planeten nannten wir "Atomota".
Neben zahlreichen Tierarten bewohnten ca. 800.000.000 menschenähnliche Lebewesen den Planeten. Nach unserer Landung benötigte unser Sprachcomputer nur wenige Stunden, um die am weitesten verbreitetste Sprache vollständig zu erfassen. Unter den Personen, die wir für eine Befragung ausgewählt hatten, befand sich auch der Direktor der Sternwarte, die unser Raumschiff zuerst wahrgenommen hatte. Die nachfolgende Erzählung beruht auf den Schilderungen dieses Astronomen. Sein Name hörte sich so ähnlich an wie "Lokan".
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Bevor sich das Raumschiff Ulixes dem Planeten Atomota genähert hatte, war diese Welt bis ins kleinste Detail völlig symmetrisch. Dies bedeutete, dass kein Mensch, kein Tier und kein Gegenstand den Äquator überschreiten konnte. Sobald irgendetwas auf den Äquator traf, berührte es gleichzeitig sein eigenes Spiegelbild.
Für die Menschen war der Aufenthalt am Äquator ein interessantes Erlebnis. Sie empfanden diese Grenze nicht als eine Linie die ihren Planeten in zwei Hälften unterteilte, sondern als einen riesigen Spiegel. Sie hatten nicht die Erkenntnis auf einer Kugel zu leben. Für sie bestand die Welt aus einer Halbkugel, die an einem Spiegel klebte.
Der Äquator wurde von den Menschen auf Atomota der "große Spiegel" genannt. Der große Spiegel war eine touristische Attraktion für alle Bewohner. Jeder wollte zumindest einmal im Leben dort gewesen sein. Es war ein unvergessliches Erlebnis in einen Spiegel zu blicken, der unendlich groß zu sein schien. Wenn man seinem Spiegelbild die flache Hand entgegenstreckte und sich die Handflächen berührten, spürte man, dass man nicht eine kalte Glasscheiben sondern einen menschlichen Körper anfasste. Für die Kinder war es ein Vergnügen, Steine, Bälle oder sonstige Gegenstände gegen den großen Spiegel zu werfen. Diese trafen stets auf ihr Spiegelbild und prallten mit hoher Wucht zurück. Am Äquator waren auch Bauwerke errichtet worden, die das Phänomen des großen Spiegels für statische Konstruktionen nutzten, die andernorts nicht möglich gewesen wären. Die geringste Erschütterung hätte dazu geführt, dass die symmetrischen Teile des jeweiligen Gebäudes aufeinander zugestürzt wären. Es waren Hochhäuser und Brücken errichtet worden, die nur durch drei riesige Stahlnadeln am großen Spiel abgestützt wurden.
Unsere Geschichte beginnt in Mirroria, einer unmittelbar am Äquator gelegenen Stadt. Genau genommen beginnt sie in der auf der Nordhalbkugel gelegenen Stadt. Denn dort wurde unser Raumschiff zuerst entdeckt. Unser Raumschiff hatte sich nördlich der Ebene, auf der alle Äquatoren des Sonnensystems gelegen waren, genähert.
Mirroria war eine Touristenstadt. Sie wies zahlreiche der typischen Bauwerke am großen Spiegel auf. Hier fanden sich Freizeitparks, Spielplätze und ein imposanter Zirkus. Den Besuchern wurden Attraktionen und Vorstellungen dargeboten, welche die Erscheinung des großen Spiegels zu einer einmaligen Erfahrung werden ließ.
Mirroria konnte jedoch auch die größte Sternwarte des Planeten aufweisen. Von hieraus sollten vor allem die am großen Spiegel zersplitternden Meteoriten beobachtet werden. Direktor dieser Sternwarte war unser Held Lokan.
Am späten Nachmittag des Tages 20-13-989 atomotarischer Zeitrechnung stand Lokan auf dem Balkon seiner Sternwarte. An das Geländer gelehnt blickte er hinüber zum zwei Kilometer entfernten großen Spiegel. Direktor Lokan war nervös. Maßlos nervös. Zum ersten Mal in seinem Leben war er mit einem Problem konfrontiert, von dem er nicht sagen konnte, ob er der damit verbundenen psychischen Belastung gewachsen war.
Vor einem Jahr war in dem erfolgsverwöhnten Astronomen erstmalig der Verdacht aufgekommen, dass ihn seine Frau betrog. Der Verdacht bestätigte sich in den folgenden Decijahren (Decijahr = ein Zehntel eines Jahres, Atomota hat keinen Mond und kennt keine Monate), auch wenn Lokan nicht in Erfahrung bringen konnte, wer der Liebhaber seiner jungen schönen Frau war. Seine Recherchen blieben ohne Ergebnis. Schließlich beauftragte er einen Privatdetektiv, einen erfahrenen Mitarbeiter einer renommierten Detektei. Der teuer bezahlte Ermittler schien auch bald eine heiße Spur zu haben. Doch nach einem Decijahr erfuhr Lokan, dass der eifrige Junge bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Die Detektei konnte die Ermittlungsergebnisse nicht verwerten.
Doch es kam noch schlimmer für den hintergangenen Ehemann. Offenbar trachtete man ihm nach dem Leben. Wenige Tage nach dem Tod des Detektivs wäre Lokan um Haar an einer vergifteten Speise gestorben. Seine Frau Naxi befand sich auf einer mehrtägigen Reise auf einen anderen Kontinent. Lokan hatte sich das Gericht selbst zubereitet. Den Hauptbestandteil bildeten fischähnliche Meerestiere, die in der Kühltruhe gelagert worden waren. Lokan musste mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus transportiert werden, wo ihm sofort der Magen ausgepumpt wurde. Zwei Decijahre später wäre er beinahe von einem Auto erfasst worden. Als Lokan bei einem Waldlauf eine Fahrbahn überqueren musste, fuhr ein Auto ohne Kennzeichen mit einem maskierten Fahrer plötzlich mit hoher Beschleunigung auf ihn zu. Lokan konnte ihm im letzten Moment noch ausweichen. Auch diesmal hatte Naxi eine Alibi. Ihr Mann war jedoch überzeugt, dass sie den Täter informiert haben musste. Wer außer dem Geliebten seiner Frau sollte ihm nach dem Leben trachten.
Die Polizei konnte den Mordlustigen nicht ausfindig machen. Auch die eigenen Ermittlungen Lokans blieben zunächst erfolglos. Doch dann kam ihm der Zufall zur Hilfe.
Sein alter Studienkamerad Züran wandte sich an ihn, weil er für sein Unternehmen der Sternwarte einen Forschungsauftrag erteilen wollte. Züran besuchte seinen früheren Kommilitonen und erklärte ihm, er solle diesbezüglich unverzüglich mit einem bestimmten Mitarbeiter des physikalischen Instituts der Universität Rücksprache nehmen. Diesen Menschen hielt Lokan jedoch für einen ausgesprochen Stümper. Früher war er Naxi häufig auf die Nerven gegangen, als er ganze Abende damit verbrachte, sich über die Unfähigkeit dieses Wissenschaftlers auszulassen. Lokan bat Züran, sich doch an den deutlich fähigeren Holojan wenden zu können. Dies wies Züran zunächst entschieden zurück. Es dauerte nahezu eine halbe Stunde, bis es dem Direktor der Sternwarte gelungen war, seinen Auftraggeber von den Vorzügen seines Favoriten zu überzeugen.
Am nächsten Morgen begab sich Lokan schon recht früh auf den Weg zum physikalischen Institut. Holojans Büro lag am Ende eines langen Flurs im dritten Obergeschoss des Institutsgebäudes. Als Lokan den Aufzug verließ und diesen Flur betrat, traute er seinen Augen kaum. Gerade in diesem Moment trat jemand aus der Tür zu Holojans Büro, den Lokan zu diesem Zeitpunkt auf einem anderen Kontinent wähnte. Naxi schien es eilig zu haben. Sie ging nicht in Richtung der Aufzüge, sondern begab sich direkt zum Treppenhaus. Offenbar hatte sie ihren Mann nicht gesehen. Lokan war äußerst irritiert und verunsichert. Er versuchte jedoch, sich gegenüber Holojan nichts anmerken zu lassen. Im Verlaufe des Gesprächs wurde er lockerer. Schließlich fragte er Holojan, wann dieser gewöhnlich anfange zu arbeiten und ob er heute der Erste gewesen wäre, dem er eine Audienz geben würde. Dies bejahte Holojan. Vor Lokan sei nur eine junge Dame bei ihm gewesen, die er an eine andere Abteilung habe verweisen müssen.
Lokan beauftragte wieder die Detektei. Diese stellte zwei besonders motivierte Spürnasen. Schon nach wenigen Tagen konnten etliche Beweise für eine Beziehung zwischen Naxi und Holojan gefunden werden, darunter auch zwei eindeutige Liebesbriefe der untreuen Ehefrau. Zudem konnte ermittelt werden, dass Holojan am Tag des Giftanschlags nicht im Institut gewesen war war. Aber es kam noch dicker. Die eifrigen Detektive hatten festgestellt, dass sich Holojan von einem Assistenten aus der Universitätbibliothek Ablichtungen von Aufsätzen hatte zukommen lassen, die sich genau mit dem Giftstoff beschäftigten, dem Lokan beinahe zum Opfer gefallen wäre.
Für Lokan war dies ein Schock. Offenbar trachtete ihm der von ihm so geschätzte Wissenschaftler nach dem Leben. Was ihn jedoch noch viel mehr beschäftigte, war die Frage, inwieweit Naxi, in die Mordanschläge verwickelt war. Seine Grübelei ließ ihn nachts nicht mehr schlafen. Was sollte er tun?. Sich an die Polizei wenden? Nein. Er wollte zunächst mit Holojan abrechnen und sich dann mit Naxi beschäftigen. Oft hatte er in seiner Phantasie seine Frau ins Jenseits befördert. Doch dann kamen wieder Momente, in denen er nicht an ihre Beteiligung an den Mordversuchen glaubte und sie wieder zurückgewinnen wollte. So sehr er in seiner Meinung zu Naxi schwankte, um so mehr verfestigte sich bei ihm der Gedanke, dass Holojan sterben musste. Er fasste hierzu einen Plan, den er immer wieder durchdachte. Obwohl er sich nahezu seine gesamte Freizeit mit der Vorbereitung dieses Plans beschäftigte, plagten ihn dennoch immerwieder Gewissenbisse. Letztendlich wusste er nicht, ob er seinen Plan auch bis zum bitteren Ende durchführen können würde oder ob ihm im letzten Moment die Kraft verloren gehen würde.
An diesem Abend wollte Lokan seinen Plan ausführen. Für das Institut wäre es bestimmt nicht leicht, einen so fähigen Mitarbeiter wie Holojan zu ersetzen. Doch Lokan war überzeugt, dass dieser den Tod verdient hatte. Er hatte sich mit seinem Widersacher in einem Zimmer im 23. Stock eines in unmittelbarer Nähe des Äquators gelegenen Luxushotels verabredet. Das Zimmer hatte ein von Lokan bei einem Täuschungsversuch erwischter Student gemietet. Lokan hatte Holojan dort hin bestellt, um ihm angeblich umfangreiche Unterlagen des gemeinsamen Auftragsgebers zu präsentieren, die so mysteriös waren, dass sie beide sich mit ihnen auseinandersetzen müssten. Andererseits sollte ein solches Maß an Diskretion erforderlich sein, dass die Besprechung nur in einem Hotelzimmer stattfinden könne. Der Mordanschlag sollte mittels einer speziellen Chemikalie durchgeführt werden, die in den Drink des Opfers gemixt werden sollte. Dieses würde zuerst nur eine leichte Übelkeit verspüren. Schon wenige Sekunden später würde ein starkes Schwindelgefühl auftreten. Kurze Zeit später würde dann eine völlige Bewusstlosigkeit eintreten. Lokan beabsichtigte seinen Kontrahenten bei Auftreten der Übelkeit auf den Balkon zu locken. Dort wollte er ihn herab stürzen. Lokan hatte einen Sichtschutz auf dem Balkon positioniert. Das Hotel war nur 50 m vom großen Spiegel entfernt. Daher musste er vorsichtig sein.
Doch zurzeit lief Lokan noch nervös auf dem Balkon seiner Sternwarte hin und her. In fünf Minuten wollte er die Sternwarte verlassen und sich zuvor noch von seinem Mitarbeiter verabschieden, der diese Nacht nach Meteoriten Ausschau halten sollte. Die übrigen Mitarbeiter waren bereits gegangen. Lokan warf noch einen Blick zu dem in knapp zwei Kilometer Entfernung gelegenem Hotel "Turm am Spiegel". Dort wollte er sich im zwanzig Minuten mit Holojan treffen. Lokan atmete noch einmal tief durch. Dann wandte er sich ab und begab sich in das Innere des Gebäudes.
Er war jedoch nicht der einzige, der aufgeregt war. Der mit der Nachtwache beauftragte Mitarbeiter Guran rief ungeduldig nach seinem Chef.
"Herr Lokan, bitte kommen Sie schnell. Ich habe in Position 13-XC-5 ein Objekt festgestellt, dass ich nicht einordnen kann. Das müssen Sie sich ansehen. So etwas habe ich noch nie gesehen.
Guran war der erste Atomotaer, der unser Raumschiff entdeckt hatte. Genauer gesagt war es der Guran auf der Nordhalbkugel. Sein Spiegelbild auf der Südhalbkugel beobachtete zu diesem Zeitpunkt eine andere Stelle des Himmels.
Lokan war irritiert. Das Verlangen seines Assistenten passte ihm jetzt überhaupt nicht.
"Also gut. Ich werde einen Blick darauf werfen."
Der Chef setzte sich hinter das Fernrohr.
"So etwas habe ich auch noch nie gesehen. Es sieht aus wie ein künstliches Gebilde. Ich glaube nicht, dass es ein Meteorit ist, der eine Gefahr für uns darstellt. Außerdem ist das Teil noch sehr weit weg. Wir können uns morgen noch einmal mit ihm beschäftigen. Lassen Sie es nicht aus dem Auge, Guran. Ich muss aufbrechen. Gute Nacht."
"Ich werde am Ball bleiben, Gute Nacht, Herr Lokan".
2
Lokan hatte fast eine halbe Stunde verloren. Er beeilte sich. Mit Holojan hatte er verabredet, sich aus Gründen der Diskretion vor dem Hotelzimmer zu treffen.
Als er schließlich den Flur des 23. Stocks betrat, war Holojan nirgends zu sehen. Lokan sah auf die Uhr und stellte fest, dass er sich um 25 Minuten verspätet hatte. Es brauchte ihn nicht zu wundern, dass Holojan nicht mehr wartete. Lokan beschloss zunächst einmal, das Apartment zu betreten, um dort Zeit zu finden, seine Gedanken zu ordnen. Als er sich auf die Couch gesetzt hatte, ergriff ihn plötzlich ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung. Er war überglücklich, dass er seinen Plan nicht durchgeführt hatte. Ihm war plötzlich klar, dass er Naxi für immer verloren hatte. Er würde sich von ihr trennen müssen. Seine Mordabsichten rückten in weite Ferne. Er begann darüber nachzudenken, ob er tatsächlich in der Lage gewesen wäre, einen Menschen auf so heimtückische Weise aus dem Leben zu befördern. Als er sich wieder erhob, war er zu dem Schluss gelangt, dass er die Tat nie hätte durchführen können. Er verließ das Apartment. Gerade in dem Moment, als er die Tür abschließen wollte, traf ihn plötzlich ein quälender Zweifel. Zu intensiv hatte er sich in den letzten Tagen mit den Mordplänen befasst. Wie gelähmt hielt er inne. Als er sich wieder gefasst hatte und gerade den Schlüssel ins Türschloss steckte, hatte er das Gefühl, als würde er aus weiter Ferne den Todesschrei des hinabstürzenden Widersachers vernehmen.
Lokan fuhr nach Hause. Ihm war jetzt klargeworden, dass er Naxi freigeben musste. Zu sehr hatte er sie in den letzten Jahren an sich binden wollen. Auch als ihm eigentlich schon längst hätte einleuchten müssen, dass ihre Beziehung gescheitert war, wollte er ihr die Trennung erschweren. Er drohte ihr, sie finanziell zu ruinieren und gesellschaftlich unmöglich zu machen. Die Macht dazu, hätte er gehabt. Sein Verhalten der letzten Jahre erschien ihm nun so unglaublich töricht. Morgen Nachmittag würde Naxi wieder zuhause sein. Herzlich würde er sie nicht empfangen können. Aber er wollte ihr klarmachen, dass sie von nun an getrennte Wege gehen würden. Die Modalitäten der Scheidung sollten ihre Anwälte aushandeln. Dieser Entschluss ließ eine große Erleichterung in seinem Innern einkehren. Mit diesem Gefühl ging er zu Bett. Nur kurz dachte er an den seltsamen Himmelskörper, den er heute gesehen hatte. Vielleicht hatte eine höhere Macht diesen Meteoriten erscheinen lassen, um Lokan wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Vielleicht war er ja schon morgen. verschwunden.
3
Am nächsten Morgen geschah etwas Ungeheuerliches. Es brachte den ganzen Planeten in helle Aufregung. Es war so, als wäre ein sein Menschengedenken allgemein anerkanntes Naturgesetz plötzlich außer Kraft getreten.
Es hatte ganz harmlos begonnen. Ein Freund des Astronomen Guran war an diesem Morgen mit zwei Freunden in einem Café verabredet, das direkt am großen Spiegel errichtet worden war. Das Gebäude war beiderseits des Äquators in der Weise erbaut worden, dass auf jeder Seite der große Spiegel die vierte Wand bildete. So hatte man einerseits Baukosten gespart und konnte außerdem den Besuchern mit dem Spiegel, der über eine ganze Wand reichte, ein interessantes Phänomen präsentieren.
Tobian, der in dieser Nacht noch mit seinem Freund in der Sternwarte telefoniert hatte, betrat die Räumlichkeit als Letzter der drei Verabredeten. Er trat an den Tisch, an dem seine beiden Freunde saßen. Er begrüßte sie mit den Worten: "Hallo Freunde! Wie schön Euch so munter zu sehen. Vor ein paar Stunden habe ich erfahren, dass die Invasion aus dem Weltraum unmittelbar bevorsteht". Er blieb stehen und wartete zunächst die Reaktion seiner Freunde ab. Er blickte von einem zum anderen und wollte wohl ein Erstaunen auf ihren Gesichtern ausmachen. Doch stattdessen konnten die beiden Angesprochenen auf einmal im Gesicht ihres soeben erschienenen Freundes einen Ausdruck des Erstaunens bemerken, der bald in einen des Entsetzens übergehen zu schien. Während er seine beiden Freunde ansah, fiel Tobians Blick auch auf den Spiegel. Noch stehend konnte er beobachten, wie sich sein Spiegelbild gerade zu den Freunden an den Tisch setzte.
Tobian schrie auf. Alle Besucher - auch die auf der anderen Seite des Spiegels - blickten zu ihm hinüber. Dann waren auf einmal alle Anwesenden erschrocken. Der Spiegel war auf einmal kein Spiegel mehr. Schreie des Erstaunens und des Entsetzens durchdrangen den Raum. Viele blieben wie angewurzelt stehen. Einige verließen erschrocken den Raum. Nach etwa einer Minute schienen sich die ersten gefasst zu haben. Die Fragen "Was ist geschehen?" und "Wie ist das möglich?" wurden in die Menge gerufen. Man sah sich gegenseitig an, blickte hinüber auf die andere Seite des Äquators, in einen Raum, den man bisher nicht als existent angesehen hatte. Schließlich wagte sich ein junger Kellner von der Südhalbkugel, dessen Gegenüber auf der Nordhalbkugel durch den vor dem Tisch stehenden Tobian aufgehalten worden war, die magische Grenze in der Mitte des Raumes zu überschreiten.
Langsam begann die Neugier die Furcht der Menschen zu verdrängen. Einige wollten ihr Spiegelbild ansprechen. Dieses sprach jedoch jeweils genau im selben Moment die selben Worte.
Allmählich hatte man verstanden, was geschehen war. Der große Spiegel war zerbrochen.
Ähnliche Ereignisse wie Tobian und seine Freunde erlebten, geschahen in den nächsten Minuten überall am Äquator. Die Bewohner von Atomota stellten fest, dass sie seit Menschengedenken einem Trugschluss erlegen waren. Einen großen Spiegel gab es nicht und hatte es auch nie gegeben. Was sich auf der anderen Seite des Äquators ereignet hatte, war reales Leben gewesen.
Die Atomotaner stellten sich jedoch recht schnell auf die neue Situation ein. Eine Ursache für das Zerbrechen des Spiegels konnte nicht entdeckt werden. Man merkte bald, dass die Neuerung das Leben im Wesentlichen kaum beeinträchtigt. Es war eigentlich nur etwas sehr Interessantes geschehen. Viele Menschen wollten Kontakt zu ihrem Spiegelbild aufnehmen. Diese stellten jedoch bald fest, dass dieses Unterfangen sehr langweilig war, weil das Gegenüber gerade im selben Moment den selben Gedanken hatte.
Man war bald übereingekommen, dass die Bewohner der Nordhalbkugel ihrem Namen ein A und die der Südhalbkugel ein O voranzustellen hatten. Unterscheiden konnte man zwei gleiche Menschen im Normalfall nur durch eine Untersuchung der inneren Organe. Hier zeigten sich Asymmetrien der Atomotaner. Beispielsweise lag ebenso wie bei uns Menschen das Herz nicht genau in der Mitte des Körpers.
Unglücksfälle infolge des zerbrochenen Spiegels ereigneten sich nur in unmittelbarer Äquatornähe. Hier stürzten etliche Hochhäuser und Brücken ein. Hiervon waren insbesondere diejenigen Bauwerke betroffen, die nur durch drei riesige Stahlnadeln am Äquator abgestürzt waren.
Auch unseren Helden Lokan - sprechen wir zunächst von A-Lokan - hatte das Ereignis sehr beschäftigt. Es ließ ihn vergessen, dass ein seltsamer Himmelskörper gesichtet worden war und auch dass er möglicherweise beinahe zum Mörder geworden wäre. Ihn interessierte auch nicht, dass Naxi nicht zu dem angekündigten Termin wieder nach Hause gekommen war.
Am frühen Morgen des dritten Tages nach dem Zerbrechen des großen Spiegels wurde A-Lokan durch das Läuten des Telefons geweckt. Der Beamte der Stadtpolizei sprach in einem ernsten Tonfall.
"Herr Lokan, wir brauchen Ihre Hilfe. Ein Wagen mit zwei Beamten wird Sie abholen."
"Was ist passiert?"
"Das möchten wir Ihnen sagen, wenn Sie bei uns sind."
Lokan stand sofort auf. Unter der Dusche dachte er auf einmal wieder an den merkwürdigen Himmelskörper, den Guran entdeckte hatte. Als er beim Ankleiden aus dem Fenster sah, stand der Polizeiwagen schon vor dem Haus.
Auf der Fahrt zum Polizeirevier wurde nicht viel gesprochen. Lokan musste wieder an seinen Mordplan denken. Er hatte doch am nächsten Morgen alle Spuren beseitigt. Es war unmöglich, dass irgendjemand seinen Plan auch nur im entferntesten geahnt haben könnte.
Die Beamten führten Lokan in das Zimmer ihres Vorgesetzten.
"Guten Morgen, Herr Lokan. Ich danke Ihnen, dass Sie sofort gekommen sind."
"Nicht der Rede wert. Was kann ich für Sie tun?"
"Sie müssen jetzt gefasst sein." Der Polizeioffizier legte eine Pause ein. "Es geht um ihre Frau."
Naxi. Wie konnte er sie nur vergessen haben. Die ganze Zeit konnte er seine Gefühle ihr gegenüber nicht ins Reine bringen. Und jetzt? Jetzt sah es so aus, als ob etwas Schreckliches mit ihr geschehen war. Lokan blickte den Beamten erwartungsvoll an.
"Wir haben diese Nacht einige weitere Leichen am Ufer des Oberen Spiegelsees gefunden. Es wurden fünf Ertrunkene geborgen und wir befürchten, dass auch ihre Frau unter ihnen ist. Ich muss sie leider bitten, uns bei der Identifizierung behilflich zu sein."
Die beiden Beamten und ihr Vorgesetzter fuhren mit Lokan zur Leichenhalle. Lokans Gefühle spielten verrückt. Genugtuung, Erleichterung, Hass, Liebe und Trauer sowie das Gefühl, etwas nicht mehr klären zu können, ließen ihn seine Umgebung vergessen.
Erst als er vor dem Leichnam stand, das Tuch über dem Kopf zurückgezogen worden war und er gefragt wurde: "Ist das Ihr Frau?", kam er wieder zu sich. Lokan blickte in Naxis Gesicht. Wie schön sie doch gewesen war. Wer hätte noch vor zwei Jahren gedacht, dass es je so weit kommen würde.
"Ja, das ist sie." Noch eine halbe Minute blickte er gedankenversunken auf das Gesicht der Verblichenen.
"Decken Sie sie bitte wieder zu."
"Mein aufrichtiges Beileid, Herr Lokan."
"Danke, kann ich jetzt gehen."
"Wir fahren Sie selbstverständlich wieder nach Hause, oder ins Büro oder wohin Sie sonst möchten."
"Das ist nicht nötig. Ich werde noch einen kurzen Spaziergang durch die Stadt machen."
"Natürlich, wie Sie möchten. Da fällt mir ein, ich hätte noch eine kurze Bitte. Wissen Sie, ob Ihre Frau mit einem Begleiter im Wagen über die Spiegelseebrücke gefahren ist?"
"Nicht dass ich wüsste. Warum fragen Sie?"
"Wir haben noch eine weitere Leiche gefunden, von der wir bisher nicht wissen, um wen es sich handelt."
"Ich kann sie mir ja einmal ansehen."
Ein Mitarbeiter der Leichenhalle und einer der Beamten holten eine mit einem Tuch verdeckte Leiche. Als sie das Tuch zurückschlugen blickte Lokan in das Gesicht seines alten Studienkollegen Züran.
"Bitte, bringen Sie mich jetzt nach Hause!"
4
Lokan hatte der Polizei noch mitgeteilt, wer Züran war. Über seinen schrecklichen Verdacht sprach er jedoch nicht.
Erneut wandte sich Lokan an die Detektei. Die Ermittler bestätigten schnell, dass es gut möglich gewesen wäre, dass Naxi den Verdacht bewusst auf Holojan gelenkt hatte, um von ihrem tatsächlichen Geliebten abzulenken. Zwei Treffen zwischen Naxi und Züran wurden nachgewiesen. Schließlich fand man heraus, dass sich auch Holojan wegen einer Vergiftung ins Krankenhaus begeben musste. Es wurde die selbe Substanz wie bei Lokan festgestellt, wenn auch in einer geringeren Dosierung.
Holojan war unschuldig. Schon während der Studienzeit hatte Lokans Kommilitone Züran einmal Interesse für Naxi gezeigt. Es war unfassbar, wozu die beiden fähig gewesen waren. Aber was war mit ihm, mit Lokan, dem angesehenen Direktor der Sternwarte. Beinahe wäre er selbst zum Mörder geworden. Hatte ihn nur ein Zufall davor bewahrt, einen unschuldigen Menschen heimtückisch ins Jenseits zu befördern.
Lokan wusste, dass er jetzt aufhören musste zu grübeln. Er musste sich mit Arbeit ablenken. Durch den Tod Zürans hatten sich einige Änderungen bei der Ausführung des erteilten Auftrags ergeben. Das war die Gelegenheit, mit Holojan das Gespräch zu suchen. Er war ihm ohnehin noch eine Erklärung schuldig.
Lokan besuchte Holojan in dessen Institut.
"Ich muss mich vielmals bei dir entschuldigen. Es ist nicht meine Art, Verabredungen einfach nicht einzuhalten. Aber wir hatten einen Zwischenfall der sofortiges Handeln erforderte."
"Schon gut. Ich glaube, wir hatten alle recht viel Aufregung inden letzten Tagen."
"Wir müssen noch einiges klären. Du hast gehört, dass Züran tödlich verunglückt ist?"
"Ja. Das ist schrecklich."
"Meine Frau ist ebenfalls infolge des Bruchs des Spiegels um Leben gekommen."
Holojan war erschrocken. "Das ist ja furchtbar. Mein aufrichtiges Beileid."
"Naxi und ich haben uns nicht mehr sehr nahe gestanden. Aber ich werde in den nächsten Tagen noch einiges erledigen müssen."
"Dann lassen wir unser Projekt für ein paar Tage ruhen. Auch ich habe von einem Todesfall erfahren, der mich wohl in den nächsten Tagen in Anspruch nehmen wird."
"Stand der Verstorbene dir nahe?"
"Das frage ich mich auch. Man kann es so oder so sehen."
Lokan sah ihn verdutzt an. Holojan legte ein gequältes Lächeln auf.
"Heute morgen rief mich die Polizei an. Sie haben auf der Südhalbkugel am Tag des Spiegelbruchs eine Leiche in der Nähe des Äquators gefunden. Es handelt sich um O-Holojan, mein Spiegelbild. Mehr weiß ich bis jetzt noch nicht."
5
Hört das denn nie auf?
Lokan hätte jetzt Ruhe gebraucht. Doch was er von Holojan gehört hatte, beunruhigte ihn zutiefst. Wie konnte es sein, dass dessen Spiegelbild am Tag des Bruches tot aufgefunden worden war? Die Frage quälte ihn fürchterlich. Waren nunmehr alle Naturgesetze außer Kraft getreten? Machte es überhaupt noch Sinn, logisch an ein Problem heranzugehen, wo die Welt um ihn herum verrückt zu spielen schien? Plötzlich fiel ihm inmitten seiner Grübeleien wieder der merkwürdige Himmelskörper ein. Guran hatte ihm gestern gesagt, dass dieser nach der besagten Nacht nicht mehr zu sehen gewesen sei. Seine Form war so merkwürdig, dass er eigentlich nur ein künstliches von intelligenten Wesen geschaffenes Gebilde gewesen sein konnte, vielleicht ein Raumschiff oder ein Satellit. Kam dieser aus einer fernen Welt, die so weit entfernt war, dass sie nicht zu dem bekannten symmetrischen Weltraum gehörte? Hatte dieser Himmelskörper den großen Spiegel zerstört? Wenn das der Fall war, hätte dann O-Lokan O-Holojan auf die Art ermordet, wie er es mit A-Holojan vorgehabt hatte? Nein, das war nicht möglich. Die beiden Lokans waren keine Mörder. Verzweiflung und Verblendung hatte sie den Plan zum Verbrechen schmieden lassen. Zur Ausführung wären sie jedoch nie fähig gewesen. Davon war A-Lokan überzeugt.
Doch er musste Gewissheit haben. Er musste wissen, was an jenem Abend auf der anderen Seite des Äquators geschehen war. Und er musste schnell handeln. Er musste es erfahren, bevor Holojan es erfahren würde.
An diesem Wochenende wollte sich Lokan eigentlich zu einem Treffen mit Freunden begeben. Jedes Jahr traf er sich mit zehn alten Studienfreunden in einem gemütlichen Lokal in der Nachbarstadt. A-Lokan beschloss, sich dieses Mal zu dem Stammtisch auf der Südhalbkugel zu begeben. Sicherlich würde er dort O-Lokan treffen. Von ihm würde er erfahren, was mit O-Holojan geschehen war.
Zwischenzeitlich hatte man eine Reihe provisorischer Straßen errichtet, über welche der Äquator überquert werden konnte. Als A-Lokan in seinem Wagen den Äquator überquerte, überkam ihn ein leichter Schauer. Er hatte das Gefühl, als würde er gegen einen riesigen Spiegel fahren. Auf der anderen Seite musste er die Straßenseite wechseln. Alle Hinweisschilder waren in Spiegelschrift geschrieben. Nach einer weiteren Stunde war er am Ziel. Er war etwas früher gekommen als sonst, so dass er damit rechnen konnte, dass O-Lokan noch nicht da war.
Vor dem Lokal traf er auf das Spiegelbild seines alten Freundes Trokan. O-Trokan war erfreut ihn zu sehen. "Hallo Lokan, schön dich zu sehen. Vorhin hattest du mir noch gesagt, du würdest erst in einer Stunde kommen können."
Die beiden Freunde streckten zur Begrüßung die Hände einander entgegen. O-Trokan lachte. A-Lokan hatte ihm seine rechte Hand entgegengestreckt, die man auf der Südhalbkugel die linke Hand nannte. A-Lokan musste sich als Mensch vom Norden erkennen geben.
"Ich hatte heute beruflich bei euch im Süden zu tun. Es geht um die Erforschung der Ursache der Asymmetrie." log er. "Mein Spiegelbild hat jedoch keinen entsprechenden Auftrag erhalten."
A-Lokan wurde im Kreise seiner Freunde auf der Südhalbkugel herzlich begrüßt. Es wurde ein gemütlicher fröhlicher Abend. Natürlich wurde auch viel über den Spiegelbruch diskutiert.
"Der Spiegelbruch wird nahezu einhellig als der Beweis für eine vollständige Determinierung unseres Universums gesehen. Ob Philosophen, Quantenphysiker oder Strafrechtler, in allen Disziplinen haben nunmehr die Deterministen die Oberhand. Die Theologen halten sich auffällig zurück. Theorien von einer symmetrischen Welt jenseits des Spiegels sind schon vor zweihundert Jahren aufgestellt worden. Meines Erachtens konnte man diesen Determinismus bisher gut vertreten. Doch nunmehr, da der große Spiegel zerbrochen ist, hat sich meines Erachtens gezeigt, dass wir gerade nicht in einer Welt mit einer vollständigen Determinierung leben."
"Da muss ich Dir widersprechen. Wie soll es möglich sein, dass wir Millarden Jahre in einer völligen Symmetrie leben, wenn das Leben nicht determiniert ist. Der große Spiegel musste zerbrechen, weil irgendetwas aus dem Weltraum uns erreicht hat. Irgendwo da draußen muss in unermesslich weiterer Entfernung eine andere Welt existieren, die nicht symmetrisch ist."
Ein dritter Diskussionsteilnehmer stellte eine weitere Theorie vor.
"Nein, ich glaube die Asymmetrie muss schon immer in unserer Welt angelegt gewesen sein. Vielleicht geriet, als unser Sonnensystem entstand, irgendein kleinstes Teilchen, vielleicht nur ein Atom, auf die andere Seite. Dies musste irgendwann dazu führen, dass die Asymmetrie unserer Welt in erkennbarer Weise zutage trat."
"Fragen wir doch unseren Gast. Der Name Lokan steht schließlich beiderseits des Äquators für die beiden angesehensten Astronomen unseres Planeten."
A-Lokan wollte sich gerade in den Disput einschalten, als sein Spiegelbild den Raum betrat.
6
O-Lokan war sehr erstaunt. A-Lokan war ihm eine Erklärung schuldig. Er bemühte sich, die Geschichte mit dem Forschungsauftrag möglichst glaubhaft zu übermitteln. Natürlich merkte O-Lokan, dass sein Gegenstück log. Doch er ließ sich nichts anmerken. Die vergnügliche Stammtischrunde wurde mit beiden Lokans fortgesetzt. Man verständigte sich bald darauf, dass für jeweils eine halbe Stunde nur einer der beiden das Wort ergreifen sollte, da beide stets zur selben Zeit die selben Wortbeiträge leisten wollten.
Die Unterhaltung wurde bald weniger wissenschaftlich. Man war erstaunt über den Ausgang des Fußballspiels zwischen den beiden Weltpokalsiegern, welches die Mannschaft aus dem Süden mit 8:0 gewonnen hatte. Nach Mitternacht verabschiedeten sich die Stammtischbrüder einer nach dem anderen, bis schließlich nur noch die beiden Lokans übrigblieben.
"Ich bin dir wohl eine Erklärung schuldig." wandte sich der Mann aus dem Norden an sein Gegenüber. "Ich muss mit dir reden."
"Ich wüsste nicht worüber. Und gerade dies macht es interessant für mich."
"Lass uns ins Hotel gehen. Ich gehe davon aus, dass du das reservierte Zimmer nicht storniert hast."
Auf dem Weg zum Hotel redeten die beiden Astronomen kein Wort. Auch im Hotelzimmer saßen sie sich fünf Minuten schweigend gegenüber, bevor A-Lokan das Wort ergriff.
"Hast du auch den merkwürdigen Himmelskörper gesehen?"
"Nein. Was meinst du?"
"Ich meine das merkwürdige Objekt, das Guran am Tag vor dem Spiegelbruch entdeckte."
"Ich weiß immer noch nicht, was du meinst."
A-Lokan bemerkte in seinem Gegenüber eine Gefühlskälte, die ihn erschaudern ließ. In den Medien war vielfach berichtet worden, wie langweilig es für diejenigen gewesen ist, die sich mit ihren Spiegelbildern getroffen hatten. A-Lokan schien jedoch ein Wesen kennengelernt zu haben, dass ihn erschaudern ließ. Der Tonfall in O-Lokans Stimme war von einer Rücksichtslosigkeit und Entschlossenheit geprägt, die wohl nur sein menschliches Pendant erkennen konnte.
"Was ist mit O-Holojan passiert?"
"Dasselbe wie mit A-Holojan."
"Nein. O-Holojan ist tot. Aber A-Holojan lebt."
O-Lokan wollte ein zynisches Gesicht aufsetzen und bemühte sich um einen ironischen, spöttischen Tonfall.
"Du machst Witze. Was soll der Blödsinn? Was soll die Frage nach dem Himmelkörper? Hast du öfters Halluzinationen?"
Er konnte den Menschen von der Nordhalbkugel nicht täuschen. A-Lokan erkannte, wie sehr ihn die Mitteilung, dass A-Holojan lebe, aufregte. Der spöttische, leicht aggressive Tonfall in der Stimme des anderen berührte ihn nicht. Er merkte, dass O-Lokan sich dazu zwang, um seine Unsicherheit und die nun in ihm aufsteigende Angst zu verbergen. A-Lokan sah sein Gegenstück vom Süden mit gelassenem Gesichtsausdruck an. Er warf ihm einen Blick zu, den dieser - aber auch nur dieser - verstehen musste. "Versuch mir nichts vorzumachen!" bedeutete dieser Blick.
"Also gut. Ich habe Holojan in Notwehr getötet. So hatte ich es geplant und du hast genau das Selbe geplant und ausgeführt. Erst am nächsten Tag ist der große Spiegel zerbrochen." O-Lokan war nervös. Er spürte, das A-Lokan die Wahrheit gesagt hatte.
"Nein, wenn es so war, so muss der große Spiegel schon einen Tag zuvor zerbrochen sein. Du sagst, du hättest den merkwürdigen Himmelskörper nicht gesehen. Guran hatte ihn entdeckt und es mir mitgeteilt, kurz bevor ich mich mit Holojan treffen wollte. Ich musste mir das Objekt noch ansehen. Wir mussten ausschließen, dass es eine Gefahr bedeuten könnte. Ich kam daher viel zu spät zum vereinbarten Treffpunkt. A-Holojan war schon gegangen. So, nun bist du an der Reihe."
"Verdammt. Ich glaube es nicht. Ich habe es so gemacht, wie es geplant gewesen ist. Als wir auf dem Balkon standen, kam er plötzlich wieder zu Bewusstsein. Er schien Verdacht zu schöpfen. Nach einem kurzen Handgemenge habe ich ihn vom Balkon gestoßen. Er schrie im Herabstürzen. Es war furchtbar. Aber du bist mein Zeuge. Ich hatte keine andere Wahl."
A-Lokan war entsetzt. Ihm wurde klar, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Auch er wäre imstande gewesen, den Mord auszuführen. Nur ein Zufall hatte ihn davon abgehalten. Selbstverachtung bemächtigte sich seiner Seele. Doch der Zorn auf sich selbst fand ein Ventil. Vor ihm stand sein Spiegelbild. Der Mensch, der den Mord an einem unschuldigen Menschen ausgeführt hatte, sah ihm erwartungsvoll in die Augen."
"Nein, du hast einen unschuldigen Menschen umgebracht. Du bist ein Mörder."
"Unschuldig? Hast du völlig den Verstand verloren?" O-Lokan war verunsichert.
"In der Leichenhalle haben wir eine zweite Leiche gesehen ..."
"Halt den Mund" fiel ihm O-Lokan ins Wort. Er dachte zurück an die Begebenheit in der Leichenhalle. Auch dort, war er dem Beamten ins Wort gefallen, als dieser sagte, er hätte noch eine kurze Bitte. "Jetzt nicht!" hatte er gesagt. Offenbar wusste A-Lokan mehr als er. O-Lokan konnte diese Situation nicht länger ertragen. "Verschwinde jetzt, du Heuchler!"
Der Mann aus dem Norden erhob sich und ging zur Türe. Dort wandte er sich noch einmal um und sah O-Lokan in die Augen. Was war nur geschehen, dass zwei Menschen, die bis vor wenigen Tagen noch völlig identisch gewesen waren, in so gegensätzlicher Weise aufeinander treffen konnten?
7
A-Lokan begab sich unverzüglich in sein Hotel. Er war müde und schlief sofort ein.
Er hatte einen langen erholsamen Schlaf. Am Morgen beschloss er, Abstand von den Ereignissen der letzten Tage zu suchen und sich einen schönen Tag in der Stadt zu machen. Nach einem ausgiebigen Frühstück schlenderte er frohen Mutes in die Innenstadt.
Auf dem Marktplatz setzte er sich in ein Straßencafé und beobachte die Passanten. Auf der gegenüberliegende Seite stand der über tausend Jahre alte Tempel des Colobars. Dieses Bauwerk hatte den Astronomen schon immer fasziniert. A-Lokan beschloss, hinüber zu gehen, um sich den Tempel und die zahlreichen Statuen und Gemälde aus verschiedenen Jahrhunderten anzuschauen. Der Besuch des Tempels sollte einen Ausgleich für die Aufregung der letzten Tage schaffen.
Im Innern des Tempels hielten sich nur wenige Besucher auf. Beeindruckend war eine sechshundert Jahre alte Plastik, die den Propheten Colobar darstellt, wie er mit einem Schwert und einer Keule bewaffnet gegen ein von einem Dämonen besessenes reptilartiges Tier kämpft. Der Sage nach hatte dieser Kampf den Charakter des Religionsstifters vollkommen geändert. Er soll von einem introvertierten Faulenzer zu einem eifernden Verkünder des Wortes des Sonnengottes geworden sein.
Nachdem A-Lokan einige Zeit gedankenversunken vor dem furchterregend atomotarischen Drachen und seinem Bezwinger gestanden hatte, begab er sich in ein menschenleeres Seitenschiff, um noch ungestörter zu sein. Dort blieb er vor einem Bild der Mutter des Propheten stehen. Das Gemälde zeigte sie, wie sie ihren Sohn als Säugling schützend in ein warmes Tuch eingebettet auf dem Arm hielt. A-Lokan betrachtete sie gedankenversunken. Er vergaß alles um sich herum. Er dachte darüber nach, was diese Frau wohl für ein Mensch sein würde. Sicherlich war sie gütig und liebevoll. Ihre Gesichtszügen verrieten Intelligenz und Einfühlungsvermögen. "Diese Frau ist die ideale Mutter. Wie gerne wäre ich der kleine Colobar." Diese Gedanken gingen dem kunstbegeisterten Wissenschaftler durch den Kopf, als er völlig hingerissen vor dem Gemälde in eine andere Welt zu versinken schien.
"Diese Frau ist die ideale Mutter. Wie gerne wäre ich der kleine Colobar."
Irgendjemand hatte diese Worte gesprochen. Oder hatte sich A-Lokan dies nur eingebildet. Die betreffende Person musste hinter ihm stehen. Sie musste sich ihm genähert haben, ohne dass er etwas gemerkt hatte. Langsam erwachte er aus seiner Gedankenversunkenheit und wandte sich um. Er blickte in das Gesicht einer wunderschönen jungen Frau. Wenn er soeben noch die in einem Kunstwerk verewigte ideale Mutterfigur bewundern konnte, so stand nun das fleischgewordene Idealbild einer Frau vor ihm, die er sich in seinen Träumen nicht als Mutter oder Schwester gewünscht hätte, sondern die alles das versprach, was er von einer Partnerin erwarten würde.
"Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht stören."
"Sie stören mich nicht. Wahrscheinlich haben Sie bemerkt, dass ich ein wenig geistesabwesend gewesen bin. Dieses Bild fasziniert mich nun einmal ganz besonders."
"Mir gefällt es auch wie kein zweites."
Der alte Sterngucker schien sich von einem Moment zum anderen verliebt zu haben. Er hatte das Gefühl, in einem Traum zu wandeln. Die beiden Kunstliebhaber kamen schnell ins Gespräch. Die junge Dame - Laroxi war ihr Name- studierte Geschichte und Kunstgeschichte in schon höherem Semester. Auch sie hatte sich heute vorgenommen, einen schönen erholsamen Tag in der Stadt zu verbringen. A-Lokan, dessen Begeisterung für das junge sympathische Geschöpf von Minute zu Minute stieg, lud sie zum Mittagessen in ein vornehmes Restaurant ein. Das Schicksal schien sich mit dem gebeutelten Mann versöhnen zu wollen.
8
Im Restaurant unterhielten sich dir beiden Freunde der Muse sehr gut. A-Lokan merkte bald, dass er eine intelligente, wortgewandte junge Dame kennengelernt hatte. Auch stellte er immer wieder Gemeinsamkeiten in den Ansichten und Gefühlen fest. Sie schien ebenso Gefallen an ihm gefunden zu haben. Man verabredete sich auch für den Abend. Der auch kulturell sehr interessierte Astronom war glücklich, dass seine neue Bekanntschaft seine Einladung zum Besuch eines Theaterstücks freudig angenommen hatte.
Den späten Nachmittag verbrachte A-Lokan mit einem langen Spaziergang durch die Stadt. Seine Gedanken verweilten immer wieder bei Laroxi. Die Erlebnisse der letzten Tage, die ihn so aufgewühlt hatten und beinahe zum Verzweifeln gebracht hätten, schienen weit hinter ihm zu liegen.
Der frisch Verliebte konnte es kaum erwarten, das reizende Geschöpf wiederzusehen. Schon früh fand er sich vor dem Theater ein, um sie zu erwarten. Auch sie traf bald darauf ein. A-Lokan spürte, wie sein Herz höher schlug. Freudig umarmten sich beide.
A-Lokan hatte die besten Plätze für sie reserviert. An diesem Abend wurde das Stück "Die vier Säulen des Königreichs" aufgeführt. Es handelte von einem Herrscher, der als junger Mann den Thron bestieg, zu einer Zeit, da sein Reich darniederlag und seine Herrschaft von vielen Gegnern bedroht war. Vier ehrliche Freunde halfen ihm, seine Feinde zu besiegen, seine Herrschaft zu festigen und das Reich zu einer Blütezeit zu führen. Doch dann führten Missgunst und Intrigen an seinem Hof dazu, dass er seinen Freunden zu Unrecht immer mehr misstraute. Die persönliche Beziehungen, die seine Regierung stützten, gingen allmählich verloren. Mit dem Königreich ging es immer mehr bergab. Schließlich erhob sich sogar sein ältester Sohn gegen ihn und stellte eine Armee auf, mit der er die Hauptstadt belagerte.
Im letzten Akt beklagt der König gegenüber einem der verstoßenen Freunde sein Unglück und gesteht seine Fehler ein. "Warum ich damals so verblendet war und meinte, es müsse alles immer noch besser und schöner werden, kann ich mir heute nicht mehr erklären. Es muss ein böser Dämon gewesen sein, der mir die Dankbarkeit für deine Dienste und den Glauben an deine Treue genommen hat. Diese Gefühle, die ich heute stärker empfinde als je zuvor, waren lange Zeit nicht mehr zu spüren - so als wären sie in einen tiefen Brunnen gefallen. Von perfiden Gestalten umworben, muss ich sie selber dort hinuntergestoßen haben."
Als A-Lokan diese Worte hörte, hatte er das Gefühl, als sei plötzlich ein Blitz in seinem Innern eingeschlagen. Es wurde ihm schlagartig bewusst, dass auch er etwas verdrängt hatte, etwas , dass er nicht nicht wahrhaben wollte, obwohl es sein unverzügliches Handeln erfordert hätte. Auch Laroxi schien bemerkt zu haben, dass bei ihrem Begleiter ein plötzlicher Stimmungswandel eingetreten war. A-Lokan verließ das Theater. Laroxi folgte ihm. Vor dem Portal rang A-Lokan nach Luft, während ihn die junge Dame fragend ansah.
"Was ist los mit dir?"
"Mir ist gerade ein schreckliche Gedanke gekommen. Durch das Theaterstück wurde eine Erinnerung wachgerufen. Gleichzeitig wurde ich auf einen bestimmten Gedanken gestoßen, der mich eine unmittelbar bevorstehende Gefahr erkennen ließ. Ich muss sofort handeln. Es tut mir sehr leid; aber ich muss dich jetzt verlassen. Heute kann ich dir nicht sagen, worum es sich handelt. Aber vielleicht..."
"Nein, Lokan. In der kurzen Zeit, die ich bisher mit dir verbracht habe, habe ich dich so liebgewonnen, dass ich dich jetzt nicht mit deinem Problem allein lassen will. Mach nicht den gleichen Fehler wie der unglückliche König auf der Bühne und verschließe dich nicht gegenüber einem Menschen, der es ehrlich mit dir meint und dein Freund sein will. Sag mir, was dich bedrückt. Ich habe eine Ahnung, dass gerade ich dir helfen könnte."
"Ich weiß selber nicht genau, was ich fürchte. Aber ich weiß, dass ich Gedanken verdrängt habe, die mich eigentlich eine schwebende Gefahr hätten erkennen lassen müssen."
"Lokan, ich habe dir bislang etwas verschwiegen. Vielleicht hilft es dir, wenn ich es dir jetzt erzähle. Ich hatte dir bereits erzählt, dass ich für eine Hostessen-Agentur jobbe. Heute ist eigentlich ein Arbeitstag für mich. Aber noch vor dem Aufstehen rief mich mein Chef an. Er sagte, ich solle sofort ins Büro kommen, es warte ein anderer sehr lukrativer Auftrag auf mich. Dort angekommen wurde ich deinem Spiegelbild vorgestellt.O-Lokan erzählte mir kurz, wer er war und was er beruflich machte. Er sagte, du seiest über den Äquator gekommen, um ihn vor einem großen Fehler zu bewahren. Jetzt wolle er sich bedanken. Da er dich natürlich genau so gut wie sich selber kenne, wisse er genau, was dir die größte Freude bereiten würde. Ich solle den Tag mit dir verbringen. Er sagte mir, wo ich dich treffen würde und was ich zuerst sagen sollte. Da mir dieser Mann sehr sympathisch erschien, nahm ich den Auftrag gerne an. Jetzt habe ich es dir erzählt, obwohl ich es eigentlich nicht durfte. O-Lokan bestand auf strikter Verschwiegenheit."
A-Lokan war enttäuscht und zugleich erschrocken. Aber er fasste sich sofort.
"Laroxi, ich danke dir für deine Ehrlichkeit. Ich weiß nun, dass mich mein Gefühl nicht getrogen hat. Ich muss unverzüglich zurück in den Norden. Sobald ich erledigt habe, was nun zu tun ist, werde ich mich wieder bei dir melden. Bis bald."
Er drückte sie an sich und gab ihr einen innigen Kuss auf die Stirn. Dann lief er eilig die Treppen hinab und bestieg ein Taxi. Laroxi blickte ihm nach. Sie schaute noch in die Richtung, wo der Wagen verschwunden war, bis sie bemerkte, dass ihr einer der vor dem Theater wartenden Taxifahrer zuwinkte.
9
Bald hatte A-Lokan sein Auto erreicht. Mit äußerst hoher Geschwindigkeit fuhr er über den Äquator - heraus aus der gespiegelten Welt wieder in die vertraute Heimat.
Auf der Fahrt ließ ihn der Gedanke nicht los, dass es O-Lokan gelungen war, sein Handeln genau vorauszusehen. Er dagegen hatte überhaupt nicht vorausgesehen, was der andere Lokan unternommen hatte. Würde es ihm jetzt gelingen, zu erkennen, was sein Spiegelbild vorhatte?
Zunächst fuhr er zum Institut.
A-Lokan brauchte Ruhe. Er musste jetzt nachdenken. Er musste herausfinden, was O-Lokan im Schilde führte. A-Lokan durfte sich diesmal keinen Illusionen hingeben. Er gelangte zu der Überzeugung, dass die Inkarnation seines anderen Ichs entschlossen war, den störenden Holojan zu ermorden. Skrupel würden ihn nicht daran hindern. Doch wie wollte er seinen Plan umsetzen. Wann und wo würde er Holojan treffen wollen. A-Lokan musste jetzt schnell handeln. Er hielt sich die Hände vors Gesicht und dachte fieberhaft nach. Was würde er selber tun, wenn er Holojan ermorden wollte. Er musste sich zwingen, sich diesen Gedanken zu eigen zu machen. Er steigerte sich in die Vorstellung hinein, diesen Unglücklichen beseitigen zu wollen. Schon einmal hatte er einen solchen Entschluss gefasst. Das Nachdenken über die Vorgehensweise quälte ihn außerordentlich. Doch er musste sicher sein, dass er den Plan O-Lokans erkennen würde.
Schließlich kam er zu der Überzeugung, erkannt zu haben, was sein Gegenspieler beabsichtigte. A-Lokan hatte als Kind von einem Großonkel eine 300 Jahre alte, aber voll funktionstüchtige Armbrust geschenkt bekommen. Diese lag noch irgendwo im Keller seines Hauses. Es lebte niemand mehr, der sich an das Geschenk erinnern konnte. Wenn O-Lokan diese aus dem Haus seines Ebenbildes von der Nordhalbkugel stehlen würde, so würde diesem niemand glauben, dass er mit dem Mord nichts zu tun gehabt hätte. Die Lokans hatten einen Hausschlüssel an einem geheimen Platz im Garten versteckt. Dies hatten sie jedoch nie jemandem anvertraut. Mit diesem Schlüssel konnte O-Lokan ins Haus eindringen, ohne dass zu erkennen gewesen wäre, dass dies gegen den Willen A-Lokans geschah. Wer würde A-Lokan das Versteck im Garten glauben.
O-Lokan plante, Holojan vor dessen Haus zu erschießen. Er wollte sich in den Sträuchern im Vorgarten des einsam gelegenen Anwesens verstecken und seinem Opfer auflauern. Beim Verlassen der Garage sollte der tödliche Schuss fallen.
A-Lokan konnte sich noch an die Örtlichkeiten erinnern. Er war überzeugt, die Absicht O-Lokans erkannt zu haben. Er musste sich beeilen. Hastig rannte er zu seinem Wagen. Die Sonne verschwand gerade hinter der Skyline Mirrorias, als A-Lokan den Wald erreichte, an dessem anderen Ende das komfortable Anwesen des arglosen Holojan lag. Etwa dreihundert Meter vor dem Ziel erblickte er am Wegesrand ein kleines grünes Auto. Dies musste der Leihwagen sein, den sich O-Lokan für die Durchführung seines Mordplans besorgt hatte. A-Lokan hätte eben einen solchen Wagen ausgeliehen. Er hielt an, sprang hastig aus seinem Fahrzeug und lief zum Haus des in Lebensgefahr schwebenden Kollegen. An der Grundstücksgrenze hielt er inne. Er dachte nach, welchen Weg sein Spiegelbild eingeschlagen haben würde. O-Lokan war weniger in Eile gewesen. A-Lokan entschied sich, an der Hauswand entlang zu gehen und dann einen vorsichtigen Blick zu der Stelle zu werfen, an der er den Mörder vermutete.
A-Lokan stockte der Atem, als er sein Ebenbild in den Büschen versteckt erblickt. Die gespannte Armbrust lag neben ihm. A-Lokan schlich sich an. Durch einen kräftigen Schlag auf den Kopf wollte er den Widersacher außer Gefecht setzen. Als er sich etwa bis auf fünf Meter an den Lauernden herangeschlichen hatte, drehte sich dieser plötzlich um. A-Lokan stürzte sich auf ihn. Er war zu allem entschlossen. Der Angegriffene war nicht minder zur Gegenwehr entschlossen. Es kam zu einem heftigen Handgemenge. Keiner konnte die Oberhand gewinnen. Nach kurzem heftigen Kampf lagen sie nebeneinander auf dem Boden, jeder hielt mit den Händen den Hals des anderen umschlungen. Beide würgten sich mit aller Kraft. A-Lokan merkte, wie seine Kräfte schwanden. Dagegen schienen sich die Hände seines Gegners immer kräftiger um seinen Hals zu schließen. A-Lokan rang nach Luft. Ihm wurde schlecht. O-Lokan war auf dem Weg, die Oberhand zu gewinnen. Noch einmal wollte A-Lokan alle Kraft zusammennehmen. Doch es schien ihm nicht zu gelingen. Seine Sinne begannen zu schwinden. Alle möglichen Erinnerungen aus verschiedenen Situationen seines Lebens schossen ihm durch den Kopf. Er erinnerte sich, wie er als Kind nach einer heftigen Maßregelung durch die Eltern in den Wald gelaufen war. Er hatte etwas angestellt, dass seine Eltern zutiefst erzürnt hatte und sie dazu veranlasst hatte, ihm vorherzusagen, dass es noch einmal ein schlimmes Ende mit ihm nehmen würde. Allein im Wald hatte er sich vorgenommen, als aufrichtiger und angesehener Mensch von seinem Planeten zu scheiden.
Noch ein allerletztes Mal versuchte A-Lokan gegen sein drohendes Ende anzukämpfen. Mit aller Kraft drückte er zu. Er konnte nicht mehr klar denken. Er konnte nur noch alle Kraft zusammennehmen. Er merkte nicht mehr, was um ihn herum geschah. Doch ganz allmählich glaubte er zu spüren, wie der Druck auf seinen Hals nachließ. Im letzten Moment schien er doch noch einmal die Oberhand gewonnen zu haben. Er konnte nicht aufhören, die Gurgel seines Feindes mit aller Gewalt zu umschließen. Dann merkte er, dass sich O-Lokan nicht mehr rührte. Völlig erschöpft sank A-Lokan zusammen.
O-Lokan war tot.
Der Astronom aus dem Süden Atomotas war zunächst zum Mörder geworden und hatte dann einen weiteren Mord begehen wollen. Doch beim Kampf um Leben und Tod hatte er nicht die emotionale Energie aufbringen können, einen anfänglichen Vorteil auszunutzen und den Menschen, der sein Spiegelbild war, zu töten. Dieses Mal hatte der Mensch aus dem Norden die größere zerstörerische Kraft entfaltet.
Warum hatte O-Lokan seinen Vorteil nicht ausgenutzt? Hatte auch ihn eine alte Erinnerung ergriffen? Diese Fragen konnte sich A-Lokan nicht beantworten. Aber er wusste, dass er nun allein dafür verantwortlich war, dass die Menschen im Norden und im Süden an seinem Lebensende des Namens des erfolgreichen Wissenschaftlers Lokan mit Hochachtung gedenken würden.
Eingereicht am 08. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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