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In einer Welt vor meiner Zeit

Von Dirk Christofczik


Abends, wenn es dunkel wird und die Scheiben in meiner kleinen Wohnung so beschlagen sind, dass man nicht mehr hinausschauen kann, dann denke ich oft an die Zeit zurück, als ich noch nicht hier war. Das mache ich oft. Ich bin hier zu Hause, aber es ist nicht meine Heimat. Ich bin hier nicht geboren und auch nicht aufgewachsen. Ich bin ein Fremder, der sich hier niedergelassen hat. Die Leute kennen mich, sie mögen mich, und ich mag sie auch, die meisten zumindest. Aber wenn sie wüssten, was in meinem Kopf vorgeht, dann wäre ich ihnen fremd, genau so, wie sie es mir im Grunde sind.
Ich bin ein Krimineller! Ich habe mit illegalen Programmen zur Lustbefriedigung gehandelt und bin dabei erwischt worden. Da wo ich herkomme, ist das eines der schwersten Delikte. Ja, ich bin ein Verbrecher, und ich lebe hier, weil man mich dazu verurteilt hat. Mein Name ist Blick, Frank Blick, und ich bin der erste Mensch, der in die Vergangenheit verbannt wurde. Am 22.04.2322 wurde ich dazu verurteilt, den Rest meines Lebens in einer anderen Zeit zu verbringen. Das Urteil wurde noch am gleichen Tag vollstreckt. Man steckte mich in einen Jumper, und so erreichte ich diese Zeit am 22.04.1965. Ich fühlte nichts während meiner langen Reise durch die Zeit, und als hier aufwachte, nicht weit von hier im Stadtwald, da spürte ich nichts anderes als ein leichtes Kopfweh wie nach einer durchzechten Nacht. Ich lag mit dem Gesicht nach unten, das Gesicht im Gras, den Duft von blühenden Butterblumen in der Nase. Heute weiß ich, dass es Gras und Butterblumen waren. Damals waren es für mich Dinge, die ich nicht kannte, denn in der Zeit, aus der ich komme, gibt es keine Natur mehr, zumindest keine die dem normalen Volk zugänglich ist. Sicher gibt es die schwebenden Highlands, fliegende Luxustempel der Reichen und Mächtigen meiner Zeit, und man munkelt, dass es dort so genannte Gärten geben soll, mit natürlichen Nahrungsmitteln und blühenden Landschaften, aber das sind nur Gerüchte. Niemand den ich kenne, hat jemals einen Highlandkreuzer betreten, niemand aus dem normalen Volk hat jemals eine Wiese oder eine Blume gesehen. Deshalb ist die schier unendliche Natur und die unglaubliche Artenvielfalt der Tiere für mich das Unglaublichste in dieser Zeit. Noch heute kann ich mich an den prächtigen Farben der Blumen nicht satt sehen, und wenn ich einem Hund oder einer Katze begegne, dann bleibe ich stehen und folge den geschmeidigen Bewegungen dieser Tiere, bis sie hinter irgendeiner Hausecke verschwunden sind. Ich gehe gerne in den Tierpark. Dort sitze ich oft auf der alten Bank zwischen den Holundersträuchern und beobachte die Schönheit der Natur. Eine Natur, die zum Sterben verurteilt ist, nicht jetzt und auch nicht morgen, aber auch das Übermorgen ist nur eine Frage der Zeit.
Seit 35 Jahren bin ich jetzt hier. Ich habe Arbeit in der Zeche, Freunde, und ab und zu lerne ich ein nettes Mädchen kennen. Die Körperlichkeit dieser Zeit war von Anfang an etwas, mit dem ich so meine Probleme hatte. Sexualität ist im 23. Jahrhundert verpönt. Die Regierung war sogar dabei ein Gesetz zu installieren, das den sexuellen Kontakt der Geschlechter verbieten sollte. Natürliche Fortpflanzung ist kein Thema mehr, dezimiert auf einen einfachen Laborakt. Körperlos, lieblos, sinnlos. Das Ergebnis sind Menschen ohne Ich, perfekte Abbilder ihrer humorlosen Produzenten.
Gefühle und Emotionen sind in meiner Heimat ein Zeichen für Individualität, und das ist den Herrschenden ein Dorn im Auge. Sie wollen funktionierende Marionetten, keine Menschen. Alles was Individualität und Kreativität fördert wird kontrolliert oder verboten, so gibt es ausschließlich staatlich kontrollierte Unterhaltung, Literatur und zensierte Nachrichten. Die Menschen wurden mit der Zeit zu Robotern. Kalt, automatisch, beliebig und schließlich austauschbar. Nach meiner Verbannung in eine Zeit, die vor Emotionen nur so strotzte, musste ich mich zurück nach vorn entwickeln, langsam wieder den Menschen in mir finden, wie ein Taucher der nur langsam zurück zur Wasseroberfläche schwimmen darf. So ganz habe ich es bis heute noch nicht geschafft, an die Oberfläche zu kommen.
Das erste Mal, dass ich einer Frau körperlich nahe gekommen bin, war ein Jahr nach meiner Ankunft. Ihr Name war Pauline, und sie war hübsch. Ihr Gesicht war jung, und ihre Haut war glatt wie ein frisch bezogenes Bett. Ihr langes schwarzes Haar wehte im Wind und zeigte eine jugendliche Frische, rein und natürlich, so wie alles in dieser merkwürdigen Zeit. Sie kam im Zoo auf mich zu und setzte sich neben mich auf die Bank zwischen den Holunderbüschen. Nach einer Weile kamen wir ins Gespräch. Wir redeten und lachten. Immer länger, bis die Sonne langsam unterging und uns der Wärter in der grünen Uniform höflich hinaus komplimentierte. Vor dem Tor des Parks verabredeten wir uns für den nächsten Tag, und als ich gerade gehen wollte, hielt Pauline mich auf, lächelte mich an und küsste mich auf meine Wange. Dann huschte sie davon und sprang in den Bus, der auf der anderen Straßenseite an der Haltestelle stand. Ich verfolgte sie durch die Scheiben des Busses. Ihr Blick haftete auf meinem, aber in mir herrschte Kälte, nicht der Funken von Gefühl. An diesem Tag wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, worin meine Strafe bestand, obwohl ich mir sicher war, dass diese Lehrstunde der Menschlichkeit nicht im Sinne der Richter war. Ich hatte einen langen Weg vor mir. Einen steinigen und kurvenreichen. An diesem Tag begann mein Leben in der Vergangenheit. Ich wurde neu geboren. Am nächsten Tag traf ich mich wieder mit Pauline, und wieder saßen wir stundenlang auf der Bank und unterhielten uns. Ich kann mich nicht mehr erinnern, worüber wir eigentlich sprachen. Ich wusste nichts, von dem ich hätte erzählen können, ohne in der nächsten Klapsmühle zu landen. Ich glaube ich habe ihr von dem erzählt, was ich liebe, wenn ich mich recht erinnere. Von den Blumen, den Tieren und der Pracht, die ich sehe. Zumindest muss es ihr gefallen haben, denn an diesem Abend küsste sie mich auf die Lippen. Erst kurz, dann innig. Ganz langsam, fast zaghaft ließ sie ihre Zunge in meinen Mund gleiten, und ich ließ alles geschehen. Ich war steif, unbeholfen und schlaksig, aber als sich meine Augen wie automatisch schlossen, da spürte ich etwas, ein unbeschreibliches Kribbeln in meinem Bauch, und ich wusste, dass ich die ersten Schwimmzüge auf dem Weg nach oben gemacht hatte. Als sie mir zeigte, wie man miteinander schläft, da hatte ich Angst, und als sie mich fragte, ob ich sie liebe, da habe ich geschwiegen. Was sollte ich sagen? Ich wusste die Antwort doch selber nicht. Wir trafen uns danach noch ein paar Wochen, dann kam sie einfach nicht mehr. Ich habe sie gesucht, im Zoo und in der Stadt, dann gab ich irgendwann auf. Aber von dem Tag an konnte ich nicht genug kriegen von Liebe oder besser gesagt von Sex, denn ich weiß bis heute nicht, ob es wirklich Gefühle waren, die mich leiteten. Ich hatte etliche Frauen! Olga, Ida, Heike oder Tanja, sogar mit einem Mann hatte ich eine kurze Zeit der Intimität, aber ich kam nicht weiter an die Oberfläche, ich dümpelte irgendwo in trüben Gewässern herum. Ich konnte mich nicht freischwimmen. Irgendwann gab ich es auf und lies mich einfach nur noch treiben. Wie ein faules Stück Holz in einem Tümpel fristete ich mein Dasein. Ab und zu eine Nummer in einem schäbigen Bordell, ansonsten ging ich zur Arbeit, und dann wieder nach Hause in meine Wohnung in der Stadt. So verbrachte ich Jahre damit, wie ein richtiger Sträfling zu leben. Beschäftigungslos und distanziert glitt ich durch die Wochen, Monate und Jahre, bis zu dem Tag als ich begann, ich weiß nicht mal mehr warum, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Ich schrieb mit einem Bleistift auf Schmierzetteln. Über Blumen, Tiere, über ihre Grazie und ihre Pracht. Ich schrieb über die Menschen, die ich kannte, Pauline und die anderen, über ihre Art zu reden und zu sprechen. Ich skizzierte sie auf dem Papier mit den Worten, die ich hatte. Ich schrieb Stunden, manchmal die ganze Nacht bis es Zeit wurde zur Arbeit zu gehen, und auch dort hatte ich einen kleinen Block dabei und füllte die Blätter mit meinen Bildern über die Menschen und ihr Leben. Ich fand so einen Weg, in die Köpfe der Menschen einzudringen, ihre Gefühle zu verstehen und mit meinen zu vergleichen. Irgendwann sah ich das Tageslicht, ich war kurz vor dem Auftauchen. Da trat Martin Sirius in diese Welt ein!
Er klingelte am 1. März 1980 an meiner Wohnungstür. Als ich ihn sah, da wusste ich sofort, dass er aus der Zukunft kam. Der blasse Teint, die dunklen Ringe unter den Augen, und vor allen Dingen dieses ausdruckslose Gesicht erinnerte mich an die Menschen, die mal meine Zeitgenossen waren. Er vergewisserte sich, dass ich alleine war, dann stellte er sich als Mitarbeiter des Justizministeriums vor. Sirius erzählte mir von einem Machtwechsel, einer Revolution durch bürgerliche Volksgruppen und der Absetzung der herrschenden Oberklasse. Das Erste was die neue Regierung beschlossen hatte, war eine Generalamnestie aller Verurteilten und die Abschaffung der temporären Verbannung. Martin Sirius sagte mir stolz, dass ich frei wäre und dass er mich sofort mit in meine Heimatzeit mitnehmen würde. Ich sah ihn nur an und schwieg. Dann schüttelte ich den Kopf und sagte ihm, dass ich darüber nachdenken müsse. Sirius blickte mich an als hätte ich ihn persönlich beleidigt. Für ihn war diese Zeit wie ein Kerker ohne Gitter, eine Grauzone ohne Grenzen. Er konnte nicht wissen, dass hinter dem Schleier eine bunte Welt jenseits seiner Vorstellung existierte. Ich schickte ihn weg. Er gewährte mir eine Bedenkzeit von einem Monat. Danach wollte er wiederkommen und meine Entscheidung hören. Es würde eine Endgültige werden, sagte er noch an der Tür, denn die neue Regierung hatte vor, alle Zeitjumper zu zerstören. Ich sah Martin Sirius nie wieder. Er kam nicht nach einem Monat und auch nicht nach einem Jahr zurück. Entweder hatte er einen Unfall bei dem Zeitsprung, dachte ich, oder die neue Regierung saß doch nicht so fest im Sattel, wie er es mir weismachen wollte. Aber eigentlich war es auch egal, denn ich glaube, ich wäre sowieso nicht mit ihm zurückgegangen. Ich bin zu Hause in dieser Welt voller Emotionen. Ich bewundere die Menschen, die voller Leben und Farbe sind. Sie wissen nicht, was noch kommt. Sie ahnen nichts von den schrecklichen Herrschern und grausamen Kriegen, die ihren Kindern und Enkeln bevorstehen. Die vernichtenden Naturkatastrophen, und die komplette Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch die Macht der Habgier ist für sie noch fern. Selbst wenn irgendein Prophet ihnen diese Schrecken zeigen würde, dann würden sie nicht verzweifeln, sondern weiter in den Tag hineinleben, wie Kinder, die nicht erwachsen werden wollen. Man hat mich in diese Zeit geschickt, um mich zu bestrafen. Ich sitze oft irgendwo in einem Café in der Stadt und beobachte durch die Scheibe die Passanten auf dem Gehweg. Wenn ich dort den Vormittag verbringe, bei einer duftenden Tasse Espresso, dann sinniere ich oft darüber, ob es eine Strafe ist, was mir wiederfuhr. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich meine Heimat nicht vermisse. Aber ich würde genauso nicht die Wahrheit sprechen, wenn ich behaupte, dass ich zurück will. Ich habe hier etwas entdeckt, was ich nicht kannte. Ob ich es Emotionen, Gefühle oder gar Liebe nenne, das ist egal. Ich weiß nur eines mit Gewissheit, und diese Erkenntnis ist für einen Verurteilten schon merkwürdig. Ich bin ein freier Mensch!



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